»Ich bin ein einziger großer Glücksfall«
Lustige braune Kulleraugen, knackige Pausbacken, ein süßer Kirschenmund, das alles eingerahmt von vollem krausen Haar. Die Figur ist pummelig gerundet, die Arme zeigen noch kleine Polster von Babyspeck.
A netts dralles Maidli, dürften die Leut daheim über den halbgaren Backfisch sagen, daheim in 7867 Wehr in Baden, auf der Naht zwischen Schwarzwald und Schweiz.
Nun, an einem Vormittag Mitte Dezember 1976, steht die 13jährige, die die Eltern und die beiden älteren Brüder »Mucki« nennen, in Deutschlands wichtigstem Konzertsaal und spielt dort auf Wunsch eines einzelnen Herrn zuerst die berühmte Chaconne aus der d-Moll-Solo-Partita von Johann Sebastian Bach und dann zwei Sätze aus Violinkonzerten von Wolfgang Amadeus Mozart.
Herbert von Karajan, der für den Test eigentlich nur ein paar Minuten hatte opfern wollen, nimmt sich, ganz versunken, auf einmal viel Zeit. Ein paar Dutzend Berliner Philharmoniker, die Proben-Pause haben und sonst gern Skat dreschen, kommen zurück in den Saal und lauschen.
Nicht zu fassen: die mächtigen Akkorde, die weit gespannten Arpeggien, die Doppel- und Tripelgriffe, die Fülle im Forte, dieses zerbrechliche Pianissimo - alles da, alles gekonnt, fast so perfekt wie bei den Profis des Streichergewerbes.
Das Mädchen, die Ruhe selbst, guckt nach dem letzten Ton neugierig in die Runde, die Philharmoniker klatschen, Karajan nickt wohlgefällig und tuschelt dann mit der Lehrerin. Sein Urteil ist später in fast jedem Lebenslauf der Debütantin nachzulesen: »Ich habe da gerade eine junge Geigerin entdeckt, die für uns alle ein Wunder ist.« Da war es also in der Welt, das Wunder.
Das Mädchen, das von seinem Glück nichts ahnt, wartet ein paar Minuten, verläßt, als sich nichts weiter tut, den Saal, packt draußen sein Instrument in den Kasten, zieht sich den Mantel über und möchte nun eigentlich gehen. Aber da kommt der Herr von Karajan: »Ich freue mich«, nuschelt der Maestro fröhlich und förmlich, »nächstes Jahr mit Ihnen in Salzburg zu spielen.«
Und dann steht am Pfingstsonntag 1977 Anne-Sophie Mutter, immer noch 13 und immer noch ein kleines Fräulein Nobody mit Pausbacken, weißem Hängerchen und schwarzen Lackschuhen, tatsächlich im Salzburger Festspielhaus auf der größten Bühne der Welt und spielt dort mit dem Berliner Philharmonischen Orchester unter Karajans Leitung Mozarts Violinkonzert in G-Dur.
»Ganz cool«, sagt die Geigerin heute, habe sie »die Situation empfunden«, kein Bammel, kein Angstschweiß, nicht mal, gottlob, kalte Hände: »Ich konnte doch ohnehin nicht mehr als mein Bestes geben.« Das war gut genug für die Sensation des Tages und für den Start in eine der schnellsten und steilsten Musiker-Karrieren der letzten Jahrzehnte.
Nun war auf einmal nicht Eliette von Karajan bei der Salzburger Pfingst-Society Gesprächsthema, sondern dieses herzige Schwarzwaldmädel, das mit seinen Fingerkuppen und einem straff gespannten Bündel weißer Roßhaare auf einem uralten Gebilde aus Holz, Lack und Gedärm so unglaublich schöne Töne erzeugt hatte.
Inzwischen kennt die ganze klassische Musikwelt diese Töne und diese Tonmeisterin: Anne-Sophie Mutter, heute 25, ist im Instrumentalisten-Gewerbe der Gegenwart vermutlich der einzige Weltstar made in Germany und überhaupt die erste Geigerin aus dem Lande Bachs und Beethovens, die im Welt-Violinisten-Standard mithalten kann. Keinem deutschen E-Musiker - Geschlecht: egal - ist nach dem Höhenflug des Dietrich Fischer-Dieskau ein rascherer Aufstieg vom Parterre ins Penthouse der internationalen Interpretenzunft geglückt. In ihrer Branche ist sie ganz oben: Frau Fiddler on the roof.
Von ihrem bei 40 000 Mark Abendgage auch finanziell gut gepolsterten Hochsitz aus ist die »junge Amazone« ("Le Monde") nun seit Mittwoch letzter Woche im Prestissimo durch vaterländische Gefilde unterwegs: von Heilbronn nach Lübeck und von Kiel nach Künzelsau, 31 Konzerte in 29 Städten innerhalb von 35 Tagen.
Von - oft übertriebenen - Lobeshymnen begleitet ("Die Welt": »Kein Geiger der Welt spielt heute schöner") und als junge Frau so attraktiv gereift wie seinerzeit Romy Schneider, nachdem sie die Sissi hinter sich hatte, tritt die Künstlerin nun als genialisch-glamouröser Podiumstyp vor ihre Landsleute - eine First Lady nach Strich und Faden.
Auf weibliche Idealmaße abgespeckt, ist Anne-Sophie Mutter inzwischen auch endgültig den Brautgewändern aus ihrer Zürcher Stamm-Boutique entstiegen. Sie tritt jetzt nur noch in den stets schulterfreien und offenherzig dekolletierten Corsagen-Roben auf, die ihr der Dior-Chefcouturier Marc Bohan zuschneidet und die sie untenrum manchmal komisch kokonhaft einwickeln.
»Geradezu prangend jung« sehe sie aus, die »Geigenkönigin Mutter«, schwärmte der Kritiker Joachim Kaiser vor gut einem Jahr, und die »Bunte« rastete vollends aus: »Vom Wunderkind zur Wunderfrau. Wunderbar.«
Ja, wirklich wunderbar, wie sie sich - eine Steffi Graf der Darmsaiten - vom evangelischen Gemeindesaal in Waldshut hochgespielt hat in die Klangtempel von Tokio, Moskau und New York; wie sie sich als Nachbarin von Boris Becker - im Steuerparadies Monte Carlo - eine zweite millionenschwere Stradivari ("Lord Dunn-Raven«, 1710) zusammensparen konnte, nachdem die erste ("Emiliani«, 1703) vom Stuttgarter Fiskus vorfinanziert worden war; wunderbar aber vor allem, wie sie Mitte Januar dieses Jahres in Kitzbühel mit Maiglöckchen und dem Münchner Staranwalt Detlef Wunderlich, 53, zum Standesamt ging.
Eine glänzende Zugewinngemeinschaft. Immerhin hat Wunderlich, Ex-Ehemann von Renate Thyssen, den Parteispender Friedrich Karl Flick vor Gericht vertreten, den Dornier-Erben gegen Daimler-Benz beigestanden und durch derlei prominente Engagements seinen Ruf auch als gute Partie gefestigt.
Daneben ist der Advokat, wunderbar auch das, Verwaltungsratspräsident der Karajan-Firma »Telemondial« und hütet somit alle die illustrierten Tonwaren, die der Maestro dereinst der Nachwelt als Video-Hort vermachen dürfte.
Doch letzte Woche, boshaft treffend zum Tournee-Start lanciert, verdunkelte sich der Honigmond über dem Traumpaar. Münchner Boulevardblätter machten mit Familienkrach und Schmutzwäsche auf: wie die Eltern Mutter »die Hochzeit der Geigerin verhindern wollten«, daß ein »Sex-Spion den Star-Anwalt beschattete« und daß die familiäre Harmonie nun völlig flötengegangen sei. Christoph Mutter, Bruder der Geigerin, laut »Abendzeitung": »Wir waren bis August 1988 eine glückliche Familie. Dann kam Wunderlich und zerstörte alles.«
Für diese Mißstimmung gibt die Geigerin allerdings eine andere Interpretation. Ihr Vater mit seiner »fürchterlichen Profitgier« habe sie »schon immer wie eine goldene Gans ausgenommen« und sei als »unerträglich eifersüchtiger Generalmanager gegen jede Freundschaft gewesen«. Nun schlage er »auf gemeinste Weise um sich": »Die Spannungen, die jetzt aufgebrochen sind, habe ich bislang nur mit Mühe und viel Geld klein halten können.«
Von dem Gezänk hinter den Kulissen ahnte das Publikum nichts. Mit viel Geschick und Geiger-Bravour hielt die Musikerin das blendende Image eines strahlenden Jung-Stars hoch, zu dessen Verehrung sich in Tokio sogar eine »Anne-Sophie Mutter Society« gebildet hatte, deren Mitglieder sich durch ein Plastickärtchen mit Mutter-Photo als eine Art Diners Club für den edlen Strich ausweisen. 1986, mit 22, wurde die Society-Dame überdies Ehrenmitglied der Royal Academy of Music in London - die jüngste Trägerin dieser Auszeichnung in der 164jährigen Geschichte des Instituts.
Nach der britischen Nobilitierung wollte die Villa Hammerschmidt nicht länger zurückstehen: 1987 ließ Bundespräsident Richard von Weizsäcker die Geigerin mit dem Bundesverdienstkreuz Erster Klasse dekorieren. Nun war sie als »deutsche Botschafterin der Musik« sozusagen von Staats wegen und reichlich verfrüht auf den Sockel gehoben.
Als Frau Mutter Ende August letzten Jahres zur Ehrenbürgerin ihrer Heimatstadt Wehr gekürt und bei dieser Gelegenheit der gute alte Lärchenweg unter unüberhörbarem Widerspruch mancher Einheimischer in Anne-Sophie-Mutter-Weg umbenannt wurde, waren alle Stände gern gesehen: Die gemeinen Wehrer feierten mit Bier und Würstchen, die knapp 300 Ehrengäste tafelten im Gästehaus des Chemie-Giganten Ciba-Geigy. Schöngeist Lothar Späth hielt als Landesherr die Laudatio: In seiner Kultur-Vitrine steht Anne-Sophie Mutter ganz oben. Die hätt's zu ebbes brocht.
In dem geigerischen Brachland Bundesrepublik wirkte Anne-Sophie Mutter tatsächlich von klein auf wie ein Jungbrunnen, von dem allerdings niemand wußte, wieso er auf einmal zu sprudeln begann. Auch die Geigerin selbst weiß es nicht. »Ich sehe mich als einzigen großen Glücksfall«, versucht sie zu erklären, was andere Wunder nennen: »Es ist eben immer im richtigen Moment das Richtige passiert.« Nein, »Wunder ist Unsinn, bei mir war alles stinknormal«.
»Die Musik ist über uns gekommen«, hat der Vater Karl-Wilhelm Mutter, Verlagsleiter des »Alb-Boten«, gesagt, als spräche er von einer Heuschreckenplage. Mit fünf probierte Anne-Sophie am Klavier, was die älteren Brüder ihr da vormachten. Aber sie wollte lieber eine Geige, war darauf ungeheuer geschickt und kapierte schnell. Mit sechs, beim Endkampf des Bundeswettbewerbs »Jugend musiziert«, spielte sie alle anderen Kinder an die Wand und wurde Erste »mit besonderer Auszeichnung«.
Die Eltern Mutter waren vernünftig genug, die Kleine nun nicht abzukapseln und zwecks Dauer-Drill in die Studierstube zu sperren. Gut, das Kind brauchte, mit dem Segen des Stuttgarter Kultusministers, nicht zur Schule, aber sonst hat es keine Extras gewollt oder genossen. Es hat, wie andere in dem Alter, ein Häschen gehalten, an den Nägeln gekaut und zuviel Süßkram genascht.
Richtig ernst wurde es im Sommer 1976 bei den Musikfestwochen in Luzern. Da spielte Anne-Sophie, unter anderem, mit perfektem Spiccato (jeder Ton mit neu angesetztem Bogen), süffigem Sound und fast schon reißerischem Temperament die »Teufelstriller-Sonate« von Giuseppe Tartini, entzückte die Zuhörer und verblüffte die Kritiker. Die rühmliche Kunde kam Karajan zu Ohren, und so begann das große Crescendo von Ruhm und Geld.
Die Agenten rannten den Mutters das Haus ein. Die Deutsche Grammophon verkaufte von den Mozart-Konzerten mit Karajan in drei Monaten 20 000 Stück. Am Frackschoß des alten Herrn machte die Kleine Furore - und er mit ihr. Mit ihr spielte er nun, Schlag auf Schlag und Opus auf Opus, die große klassisch-romantische Literatur ein - ohne Rücksicht darauf, daß der Übervater die Unerfahrene allzu leicht erdrückte.
Schon die 1979 produzierte Aufnahme des Violinkonzerts von Beethoven ging grotesk daneben. Mit tranigen Tempi, zähen Verzögerungen und schwerfälliger Altherren-Phrasierung geriet das schlechthin klassische Konzert in die Nähe einer hochromantischen Phantasie, die kaum von der Stelle kam. Nicht die Spur von Heifetz' intelligentem Drive, nirgends (außer in den Karajan-freien Kadenzen) ein bißchen jugendliches Ungestüm.
Ein eingespieltes Duo: Wirkte der kränkelnde Maestro müde und längte ein Stück auf die Kriechspur, dann trat auch die Mutter in vornehmer Blässe die Bremse. Auf diese Weise wurde das rassige Tschaikowski-Konzert 1985 in Salzburg zum Fiasko. Stach den Alten indes der Hafer und fetzte er, wie im Oktober 1987 bei der Einweihung des neuen Berliner Kammermusiksaals, Vivaldis »Vier Jahreszeiten« zu einem barocken Walkürenritt hoch, dann entfachte auch seine Ziehtochter mit verbissenem Blick und wüstem Bogen einen wahren Hexentanz.
Für Karajan machte sie selbst gröbsten Unfug mit. Um die EMI-Platte der Vivaldi-»Jahreszeiten« angemessen zu illustrieren, ging die Geigerin mit ihrem Entdecker bei Wien in den großen grünen Wald, ein stattliches Anwesen des alten Herrn. Eigens aus London eingeflogen, war auch Lord Snowdon da mit seinem Photoapparat.
Die junge Dame ließ sich artig mit Geige, Bogen, dunklem Taftrock und lässig über der nackten Schulter verknotetem roten Pullover im sonnenfleckigen Gras nieder und blickte mit starrem Liebreiz nach links, wo, wenn Plattenfreunde später das Doppel-Cover aufschlugen, eine finstere Erscheinung aus dem schattigen Gehölz spähte: dunkle Hose, dunkles Tuch auch oberhalb der Gürtellinie, einen roten Pullover (etwa denselben?) wie einen Elefantenrüssel von der Schulter baumelnd, leuchtend lediglich das lichte Haupthaar - ach ja, Waldhüter Herbert von Karajan.
Natürlich hat dieses junge Mädchen von Karajan mehr gelernt als nur das multimediale Waldesrauschen. Jeder Musiker profitiert von diesem Musiker. Aber sicher hat dieser Wotan der Musikszene die Virtuosin mit seiner Macht geblendet und den Vater Mutter, der auf einmal mit kernigem Geschäftssinn philharmonisches Management betrieb, durch seinen Erfolg betört.
Anne-Sophie war 15, als sie die Frage, ob die Journalisten-Neugier sie nerve, souverän beantwortete: Nein, das müsse sein. O-Ton: »Sonst werden die Konzertsäle nicht voll und meine Platten nicht verkauft. Da kann ich ja gleich zu Hause bleiben und vor mich hingeigen.«
Da klappert sie lieber, wie es zum Handwerk gehört, macht Platten über Platten, kassiert Top-Gagen, heiratet einen Krösus und nennt sich einen »einzigen großen Glücksfall«.
Sieht ja auch so aus, wo ihr alles in den Schoß fällt: die Doppelgriffe, die Palme beim Wettspiel, die exzellente Lehrerin (Aida Stucki-Piraccini), der Karajan, die ganze Karriere.
Lampenfieber, diesen schäbigen Kribbel, der Künstler schließlich doch nur vor ihrer eigenen Unberechenbarkeit zittern läßt, kennt sie nicht. Um auf ihrem Instrument fit zu bleiben, reicht ihr eine Stunde tägliches Training; auf größeren Tourneen übt sie bloß mit dem Kopf.
Und kratzen sie die Kritiken: »Makellosigkeit der Langeweile«, »flüssiges Fett«, »öliger Ablauf« ("Frankfurter Rundschau"), »grundsätzliche Schwachpunkte« ("Neue Zürcher Zeitung"), »weder durchdacht noch tief erfühlt« ("The New York Times")? Nichts kratzt sie. Sie liest derlei »nur durch Zufall« und hat zu allem »eine eigene Meinung«, vermutlich eine bessere.
Irgendwie komisch, irgendwie unheimlich: die vielen Sprechblasen voll frischer Schwarzwaldluft, dieses ungebrochene, pausbäckige Selbstwertgefühl. Der Krach mit dem Elternhaus beispielsweise ist in ihren Worten »weniger ein Thema für mich als für die Illustrierten«. Nein, die Eintrübung »belastet mich nicht«, da »vollzieht sich ein ganz normaler Ablösungsvorgang«, der »bei mir vielleicht etwas später eingesetzt hat als sonst«. Und auch von Herbert von Karajan, ihrem Hausgott, wird sie sich lossagen können. Er selbst hat den Scheidungsprozeß angeblich schon vor Jahren in die Wege geleitet. Damals war sie geschockt, heute sieht sie das Abnabeln nüchterner. »Nein, keine Probleme.«
Nein, keine Probleme, keine Schatten, keine Zweifel. Aber um in der Musik alle menschlichen Spuren aufzudecken und im Menschen die musikalischen Seiten wachzurufen, braucht diese verdammt begabte junge Frau endlich ein Gran Sand in der Feinmechanik ihrer Psyche, einen kurzen Kälteschock für die sonst so wohltemperierte Karriere, wenigstens ein paar Schrammen auf der Schokoladenseite des Erfolges.
Erst wenn ihr Spiel jene Nuancen dazugewinnt, die nicht unter dem Druck von Hengsthaaren, sondern als Ausdruck von Lebenserfahrung entstehen, erst wenn der Bogen nicht mehr nur das Werkzeug einer perfekten Handwerkerin ist, sondern zum Seismograph einer empfindsamen Frau taugt, erst dann hat Anne-Sophie Mutter die letzten Eierschalen des Wunderkindes abgeworfen. #