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Islam »Ich gehe jetzt Klinken putzen«

aus DER SPIEGEL 35/1993

SPIEGEL: Herr Wallraff, Ihre neue Rolle als Friedensstifter zwischen zwei islamisch geprägten Autoren hatte ein lautes Medienecho - war das der Zweck der Übung?

Wallraff: Nein, diese Versöhnung der beiden war mir ein ganz persönliches Bedürfnis. Ich kenne und schätze Nesin seit langem. Er ist für mich der Heinrich Böll der Türkei. Nesin und Rushdie sind moralische Instanzen, zwei Todgeweihte, die gegen die fortschreitende Radikalisierung des Islam in der Welt kämpfen. Sie dürfen nicht gegeneinander ausgespielt werden.

SPIEGEL: Zwei Türken, die bei den Recherchen zu Ihrem Buch »Ganz unten« geholfen hatten, haben sich 1987 von Ihnen distanziert. Das hat Ihnen damals sehr geschadet. War die Hilfe für Nesin jetzt auch der Versuch, den eigenen Ruf als Fürsprecher der Türken zu retten?

Wallraff: Die damaligen Vorwürfe waren längst widerlegt. Es kann aber sein, daß ich durch meine jetzige Initiative falsche Freunde bei strenggläubigen Moslems verliere. Wäre es übrigens zu keiner Einigung zwischen den beiden gekommen, so wäre kein Wort über dieses Treffen bekanntgeworden. Das war fest vereinbart.

SPIEGEL: Aber die Chance auf eine Einigung bestand ja - und darin lag Ihre Chance auf Publicity.

Wallraff: Die Fehde wurde in der Weltpresse ausgetragen; also mußte die Versöhnung auch öffentlich gemacht werden. Dennoch haben wir keine Pressekonferenz, keinen Rummel inszeniert. Daß zwei so einflußreiche Autoren nun gemeinsam für die Trennung von Staat und Kirche, gegen Zensur und gegen religiösen Faschismus jeglicher Art kämpfen wollen, ist doch von öffentlichem Interesse. _(* Am 18. August auf einem Rheinschiff ) _(südlich von Bonn. )

SPIEGEL: Sie wollen den beiden mit einer Unterschriftenaktion gemäßigter Moslems gegen den Fundamentalismus helfen. Gehen türkische Helfer nun in Wallraffs Auftrag von Tür zu Tür und beschweren sich am Ende, er hätte sie ausgebeutet?

Wallraff: Ich gehe jetzt selbst Klinken putzen, verteile Listen an Ausländergruppen und in Städten, auch in dem von mir gestifteten Ausländerzentrum »Zusammen-Leben« in Duisburg.

SPIEGEL: Ein allzu stumpfes Schwert gegen die Killer des Heiligen Kriegs.

Wallraff: Ich bin Berufsoptimist. Einige tausend Unterschriften wären schon ein Anfang. Wichtig ist, daß die Aktion diskutiert wird, auch unter deutschen Politikern, die Rushdie gern ausweichen und den Iran der Wirtschaftsinteressen wegen schonen. Nach der Chaostheorie können instabile Systeme wie die iranische Diktatur schon durch kleinste Anstöße erschüttert werden.

SPIEGEL: Die Unterschrift unter Ihre Resolution, die noch formuliert werden muß, ist für den Unterschreibenden lebensgefährlich. Können Sie das verantworten?

Wallraff: Die Adressen der Unterschreibenden werden bei einem Notar hinterlegt, aber nicht bekanntgemacht. Ich kenne zahlreiche Ausländer, die den Mut haben, ihre Unterschrift selbst zu verantworten.

SPIEGEL: Für Sie selbst ist das Ganze erst recht riskant.

Wallraff: Meine Familie und ich werden sich nicht mehr in Köln aufhalten.

SPIEGEL: Morddrohungen kennen Sie seit langem. Aber Sie suchen auch immer wieder das extreme Thema, die gefährliche Recherche - weil Sie nur dann schreiben können?

Wallraff: Ja, ich brauche extreme Reibungsflächen, um mich engagieren und handeln zu können. Erst danach schreibe ich es auf, als mein eigener Chronist. Ich spiele auch mit Grenzsituationen, um mir selbst bewußt zu werden.

SPIEGEL: Wer sind Sie denn: Der Linke, der jahrelang den Westen anklagte und über den Osten schwieg? Oder der Verfechter der Menschenrechte, der - neuerdings - alles Totalitäre verachtet?

Wallraff: Ich habe immer schon Menschenrechtsverletzungen verurteilt, allerdings die im Osten in den sechziger Jahren nicht offensiv genug. Dogmatiker und Ideologe war ich nie.

SPIEGEL: Wo ordnen Sie sich heute ein?

Wallraff: Nirgends. Ich denke liberal-anarchisch. Ich wäre in jeder Gesellschaft ein Störfaktor. Y

* Am 18. August auf einem Rheinschiff südlich von Bonn.

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