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Artikel 46 / 63

»Ich stehe für niemand anders als für mich«

Geschichten von DDR-Jugendlichen, die sich nach einem Land »ohne Angst« sehnen, die beim Fluchtversuch erschossen werden, von DDR-Arbeitern, die durch Arbeit kaputt sind, die das Streikrecht vermissen: »Sonst stände hier einiges still« -- solche Geschichten enthält ein Buch des in der DDR aufgewachsenen Thomas Brasch, das am 10. Januar in West-Berlin erscheint. Weil es in der DDR nicht erscheinen durfte, ging der Autor, Sohn eines hohen SED-Funktionärs und ZK-Mitglieds, in die Bundesrepublik -- mit Genehmigung der DDR-Behörden.
aus DER SPIEGEL 1/1977

SPIEGEL: Herr Brasch, Sie haben die DDR verlassen, man hat Sie dort praktisch von heute auf morgen gehen lassen -- »im gegenseitigen Einvernehmen«, wie es heißt. Warum?

BRASCH: Die Situation war die, daß das Erscheinen meines Buches »Vor den Vätern sterben die Söhne« im West-Berliner Rothuch-Verlag bevorstand und ich in diesem Zusammenhang Gespräche hatte mit Kulturinstitutionen in der DDR. Mir wurde dabei klargemacht, daß in absehbarer Zeit in der DDR von mir nichts erscheinen wird. Da ich aber sechs Theaterstücke, über 200 Gedichte und zwei Szenarien geschrieben habe und auf dieses Rotbuch ziemlichen Wert lege, mir auch wichtig ist, daß es in dieser Zeit erscheint, habe ich gemeint, daß ich in einem anderen Land einen neuen Anfang machen müßte.

SPIEGEL: Hatten Sie das Buch auch in der DDR angeboten?

BRASCH: Ich habe es beim Hinstorff-Verlag in Rostock angeboten. Hinstorff hat es abgelehnt.

SPIEGEL: Mit welcher Begründung?

BRASCH: Es wurde begründet mit meiner Darstellung der Arbeitswelt . . .

SPIEGEL: Darstellung einer auch in der DDR nach wie vor als Fron erlebten, nach wie vor entfremdeten Arbeit?

BRASCH: ... einer doppelt entfremdeten Arbeit: Einmal herrscht da noch die alte Produktionsweise und zum anderen eine Ideologie, die behauptet, es wäre eine neue. Hinstorff meinte, diese Darstellung sei eine grobe Verzerrung der DDR-Arbeitswelt. Das war der erste Punkt bei der Ablehnung. Der zweite war der Tod an der Mauer, der in einer Geschichte eine Rolle spielt. Der dritte Punkt war die wiederum als verzerrt bezeichnete Darstellung der Jugend in der DDR.

SPIEGEL: Nun stand Ihr Name auch auf jener Adresse von Schriftstellern und Künstlern an die Regierung, in der diese gebeten wurde, die Ausbürgerung Wolf Biermanns zu überdenken. Hat auch diese Unterschrift etwas zu tun mit Ihrem so raschen Weggehen aus der DDR?

BRASCH: Für mich hat es damit gar nichts zu tun. Ob es für die Organe der DDR damit in einem Zusammenhang steht, müßten Sie die Organe der DDR fragen.

SPIEGEL: Könnten Sie sich vorstellen, daß eine solche Praxis, unbequeme Leute nicht mehr Pressionen auszusetzen, sondern sie ziehen zu lassen, eine generelle Praxis werden könnte?

BRASCH: Ich sehe keine Anzeichen dafür. Bisher gibt es, soviel ich weiß, vier konkrete Fälle. Der Biermann-Fall ist bekannt. Nina Hagen hat gesagt, daß sie zu ihrem Freund Wolf Biermann gehört. Mein Fall hängt mit dem Erscheinen meines Buches im Westen zusammen. Ich hatte die Bitte geäußert, mit meiner Lebensgefährtin, der Schauspielerin Katharina Thalbach, auszureisen. Ich bitte Sie nun, die vier Fälle differenziert zu betrachten.

SPIEGEL: Hat man sich Ihnen gegen über genauer ausgelassen, was die Konsequenzen wären, wenn Sie in der DDR blieben und Ihr Buch im Westen erscheint?

BRASCH: Nein. Aber ich bin Schriftsteller, und zu diesem Beruf gehört Phantasie.

SPIEGEL: Sie haben gesagt, man solle die Fälle differenziert betrachten. Wie differieren Sie zum Beispiel von Biermann in dem Punkt einer möglichen Rückkehr in die DDR? Biermann besteht ja darauf, unbedingt zurückkehren zu wollen.

BRASCH: Ich bin jetzt 31 Jahre alt. Ich habe meine Erfahrungen in einem Teil Deutschlands gemacht. Ich habe diese Erfahrungen, besser oder schlechter, zu notieren versucht. Für mich geht es jetzt darum, in einem anderen Teil Deutschlands oder in einem anderen Teil der Welt neue Erfahrungen zu machen. Selbst wenn es naiv klingt: Mich interessieren die USA zum Beispiel, mich interessiert die Bundesrepublik. Deshalb ist es für mich jetzt keine Frage, ob ich zurückkehren will.

SPIEGEL: Biermann hat für sich eine gewisse Fixierung auf das Thema DDR eingeräumt. Wenn Sie woanders leben müssen, wollen oder dürfen -- wird dieses Anderswo für Sie ein gleichrangiges Thema sein?

BRASCH: Diese Frage hat etwas mit der ideologischen Aufladung in Deutschland zu tun. Es ist doch keine Frage, ob Handke Österreich beschrieben hat. Handke hat versucht, zu beschreiben, wo seine Ängste und seine Aggressionen und seine Frustrationen sind. Jetzt ist er in Frankreich. Das Thema eines Schriftstellers ist nicht das Land, in dem er lebt, sondern das Problem. das er hat. Vielleicht unterscheidet mich das von Biermann.

SPIEGEL: Verstehen Sie sich als Sozialist?

BRASCH: Ich verstehe mich als Schriftsteller, und ich glaube nicht, daß man sich da als irgendeine Form von -ist verstehen kann. Jedenfalls ich kann es nicht.

SPIEGEL: Was macht denn die DDR speziell so allergisch gegen das, was Sie schreiben? Denn Ihre Themen an sich kommen ja auch in Werken anderer DDR-Autoren vor, die die DDR durchaus noch aushält.

BRASCH: Darüber kann ich nur spekulieren. Es hat sicher damit zu tun, daß Schwierigkeiten bestehen, dieses Land als Teil der allgemeinen Industriegesellschaft zu verstehen, mit all den weiter wirkenden Gesetzen, Schmerzen, die ideologisch nicht auflösbar sind.

SPIEGEL: Es hat damit zu tun, daß Sie Widersprüche beschreiben, die es dort eigentlich nicht geben darf?

BRASCH: Sie zwingen mir ein Gespräch auf, das ich in der DDR abgelehnt habe. Ich habe immer darauf verwiesen, daß eine Geschichte entweder eine gute Geschichte ist oder eine schlechte. Wenn man aus einer Geschichte eine Ideologie ziehen will, dann, bitte schön, ist das die Sache von Lektoren oder von Kritikern. Es ist nicht die Sache des Schriftstellers, seinen Text zu interpretieren, die Tabu-Werte herauszukristallisieren und sich in die Vorstellungskraft der Leute hineinzuversetzen, die darüber zu befinden haben, ob das gedruckt wird oder nicht.

SPIEGEL: Spielt für Sie beim Schreiben die Überlegung keine Rolle, inwieweit das Beschriebene, das vorher Erlebte repräsentativ ist?

BRASCH: Das interessiert mich nicht. Ich habe da zum Beispiel eine Geschichte erlebt, die in eine Erzählung sehr schwer zu fassen wäre. Ich bin nachts um zwei mit der Straßenbahn durch die Prenzlauer Allee gefahren. Die Bahn hielt, und eine Frau wollte einsteigen. Der Schaffner sah das nicht und ließ die Türen wieder schließen. Die Frau stand draußen, die Bahn fuhr an. Kurz danach sprang ein Mann in der Bahn auf, rannte nach vorne und fing an, gegen die Fahrerkabine zu schlagen und zu schreien: Da draußen steht eine Frau. Und innerhalb von zehn Sekunden war er über die Frau, die der Schaffner da hatte stehen lassen, bei der Mitteilung. daß er keinen mehr habe außer der Frau, die bei ihm zu Hause sitzt, daß er nicht zu seinen Verwandten nach dem Westen könne und daß Ulbricht sowieso nichts tauge. Das passierte innerhalb von zehn Sekunden. Unter dieser Geschichte liegen, selbst wenn das lächerlich klingt in dem Zusammenhang, mindestens hundert Jahre deutscher Geschichte. Solche Situationen interessieren mich. Wenn ich die auf einen ideologischen Punkt bringen könnte, wären sie uninteressant.

SPIEGEL: Ihre ganz persönlichen Erfahrungen mit der DDR ...

BRASCH: ... sind sehr besondere Erfahrungen, ich weiß das. Das heißt, ich bin kein -- wie DDR-Kritiker sagen würden -- typischer Fall. Ich komme aus einer antifaschistischen Familie, was in den ersten Jahren nach dem Krieg große Schwierigkeiten mit sich brachte. Die ersten Jahre in der Schule waren für mich als Sohn eines Funktionärs kompliziert, weil es, auch aus historischen Gründen, eine Russen- und Kommunistenfeindlichkeit gab.

SPIEGEL: Sie waren dann, von 1956 bis 1960, auf der Kadettenschule der Nationalen Volksarmee, also einer Eliteschule.

BRASCH. Das war eine geschlossene Anstalt mit acht Wochen Urlaub im Jahr -- auch keine typische Erfahrung in der DDR. Ich bin später zweimal exmatrikuliert worden und habe einmal im Gefängnis gesessen. Das ist sicher, ohne damit kokettieren zu wollen, kein Durchschnitts-Lebenslauf. Natürlich kommen daraus ganz bestimmte Erfahrungen, die sich sicher unterscheiden werden von denen anderer Leute in der DDR und auch von denen anderer Literaten.

Im Augenblick macht man es sich ja mit den sogenannten DDR-Schriftstellern ungeheuer einfach: Da gibt es also zwei Lager, die Progressiven und die Dogmatischen, die, die für Biermanns Ausbürgerung, und die, die dagegen waren. Ich finde es ganz kindisch, die DDR-Literatur an diesem einen Fall so in zwei Lager zu teilen. Ich schätze unter den

Leuten, die nicht die Bitte an die Regierung gestellt haben, die Ausbürgerung zu überdenken, einige sehr hoch. Ich schätze auch einige Leute sehr hoch, die im »Neuen Deutschland« Stellung genommen haben und nicht gegen die Ausbürgerung waren.

SPIEGEL: Die Schwierigkeiten mit dem Land, in dem Sie aufgewachsen sind, haben schon sehr früh begonnen. Dabei waren Sie durch Ihre Herkunft, durch Ihr Elternhaus eigentlich privilegiert, konditioniert für eine Karriere?

BRASCH: Auf den ersten Blick scheint es so zu sein. Man darf aber nicht vergessen, daß die Generation der Kommunisten, die 1945 aus den Gefängnissen entlassen wurden oder aus der Emigration zurückkamen, peinlich darauf bedacht war, ihren Kindern keine Privilegien zu verschaffen, eher im Gegenteil. Es gibt ganz sicher in der DDR inzwischen auch ganz andere Erscheinungen.

Also die Frage des Privilegs sieht etwas anders aus. Der entscheidende Punkt ist doch, daß einem ganz bestimmte Erfahrungen theoretisch mitgeteilt werden und daß man damit dann in eine Wirklichkeit kommt, die auf den ersten Blick mit diesen übermittelten Erfahrungen gar nichts zu tun hat.

SPIEGEL: Das Erlebnis der Nichtübereinstimmung zwischen Theorie und Praxis, Propaganda und Realität -- wie früh haben Sie das erlebt?

BRASCH: Von Anfang an, vom Beginn der Schule an. Das sind Situationen, die schon prägen, glaube ich. Die Frage ist nur, ob daraus, wenn man zu schreiben anfängt, eine moralische Literatur resultiert, das heißt eine Literatur, die die Wirklichkeit am Ideal mißt, die also das Fenster öffnet und sagt: Aber, liebe Leute, ihr habt gesagt, die Sonne scheint den ganzen Tag, in Wirklichkeit regnet es doch. Es gibt eine Literatur in der DDR, deren Ansatz das ist. Mein Ansatz ist es nicht. Mich interessiert, ob es auf mich regnet, mich interessieren die Leute, die da unten im Regen gehen.

Mir scheint, im Westen betrachtet man die DDR-Literatur zu sehr im Hinblick auf den Tabu-Wert: je höher der Tabu-Wert, desto interessanter die Literatur -- damit stößt man sie in eine pubertäre Situation zurück, das heißt, man macht sie zu einer Literatur, die sich immer zum Gipfel verhält, also entweder nach oben droht oder nach oben applaudiert. Das ist ein Anspruch, den eine Literatur nicht aushalten kann, wenn sie ehrlich bleiben will.

SPIEGEL: Was Sie in Ihrem Buch beschreiben, ist also die Industriegesellschaft, wie sie sich darstellt in der DDR und wie sie dort offenkundig so nicht dargestellt werden soll. Was ist das DDR-Spezifische an dem, was in Ihrem Buch Leute in Fabriken erleiden?

BRASCH: Erst mal: Das Wort erleiden halte ich für einseitig. Die Erfahrungen, die ich gemacht habe -- und ich hoffe, daß einige davon auch im Buch deutlich sind -, sind nicht nur die des Leidens, sind auch die von Aggressivität, Solidarität, sehr großer Freundlichkeit, sehr großer Reibung. Jedes Problem hat fünfzig Seiten. Das Spezifische scheint mir zu sein, daß die DDR eine Gesellschaft ist, die sich eben zum Ziel gesetzt hat, die unwürdige Arbeit abzuschaffen. Und da klafft in der gegenwärtigen Wirklichkeit zwischen Anspruch und Realisierung ein Loch. In der Bundesrepublik scheint mir niemand mehr zu sagen, daß irgendwann die Form unwürdiger Arbeit ganz abgeschafft werden wird.

Ich spreche jetzt einfach nach, was das ideologische Problem ist. Und das ist das Problem, das mich nicht interessiert. Weiterhin bleibt die Situation, daß ein Dreher um vier Uhr aufsteht, daß er um halb sechs an der Drehbank steht, daß er dort arbeitet und um dreiviertel drei in der Frühschicht seine Drehbank ausschaltet und nach Hause fährt und einkauft. Ich wehre mich dagegen, jedes Problem auf das DDR-Spezifikum zu bringen. Meine Erfahrungen sind Erfahrungen, die ich in der DDR gemacht habe. Oft nehmen sie ideologische Formen an. Interessant sind sie aber für mich nur da, wo sie existenziell werden, nicht, wo sie ideologisch bleiben.

SPIEGEL: Ihr Buch heißt: »Vor den Vätern sterben die Söhne«. Ihr Vater lebt noch. Man könnte sagen: Sie sind einfach aus dem Land weggegangen, in dem Ihr Vater noch lebt. Heißt das nicht auch, daß die Väter dieser DDR -- und Ihr Vater gehört ja zur Gründergeneration der DDR -- ihren Söhnen an Veränderungsmöglichkeiten in dieser Gesellschaft, in diesem Land nicht mehr viel übrig gelassen haben, daß sie es ihnen so übergeben haben, und damit haben sie zu leben oder wegzugehen?

BRASCH: Es heißt, daß einer der Söhne in einem anderen Land weiterarbeiten wird.

SPIEGEL: Es sind viele Söhne von vielen Vätern in den letzten 20 Jahren aus der DDR weggegangen.

BRASCH: Sprechen Sie mit den anderen Vätern und den anderen Söhnen.

SPIEGEL: Sie würden nicht sagen, daß in dem Weggehen von Ihnen auch nur irgend etwas Symptomatisches steckte, hinter diesem Konflikt?

BRASCH: Zum politischen Fall bin ich lange genug gemacht worden, das reicht. Daß die Leute mir in die Augen gesehen haben und nicht mich angesehen haben, sondern das Problem, das sie im Augenblick ganz gern abhandeln wollen, das ist mir in der DDR oft genug passiert. Ich stehe für niemand anders als für mich.

SPIEGEL: Herr Brasch, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.

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