AUTOREN »Ich tönen, du schweigen«
Wer mit Selbstmordgedanken spielt, findet immer eine Begründung: Liebeskummer oder Krankheit zum Beispiel, die Rohheit der Menschen im Allgemeinen oder die Musik von Dieter Bohlen im Besonderen. Gebildete Lebensmüde aber zitierten in den vergangenen 2400 Jahren gern ein paar Zeilen des griechischen Tragödiendichters Sophokles, die darauf hinauslaufen, dass sich die Plackerei auf Erden nicht im Mindesten lohne.
Es ist eine der berühmtesten Strophen der antiken Theaterdichtung und eine zentrale des im Jahr 406 vor Christus fertig gestellten Sophokles-Stücks »Ödipus auf Kolonos«, die der Chor da in Vers 1224ff. von sich gibt: »Nie geboren sein, übersteigt / Alles, was nur irgend zählt«, so die Übersetzung des 1974 gestorbenen, hoch geachteten Altphilologen Wolfgang Schadewaldt. »Aber wenn man / Kam zum Licht, / Ist das Zweite dieses: / Wieder dorthin gehen, / Von woher man kam, auf''s Schnellste!«
Nun aber hat der große Dichter Peter Handke die Karten neu gemischt; genauer: Er hat in seiner ganz frischen, bei Suhrkamp in einem schönen Buch und großen Lettern gedruckten »Ödipus in Kolonos«-Übersetzung dem Griechenchor eine Kartenspielermetapher in den Mund gelegt: »Ungeboren bleiben sticht jeden / sonstigen Sinn! Und das Abgehn, möglichst / gleich nach der Geburt, dorthin, wo man / herkam: das zweitbeste Blatt!"**
Das klingt einerseits nicht schlecht, nur leider fällt''s dem gewöhnlichen Leser (oder
Zuhörer) in der Handke-Version keinesfalls leichter, das Gesagte auch zu verstehen - weshalb nun bitterer Streit in der Kulturwelt darüber herrscht, ob Handke, 60, ein brillanter Sophokles-Übersetzer sei oder ein ganz mieser.
Fast durchweg Schelte gab''s für Handkes Übertragung, als sie Anfang Mai erstmals auf einer Bühne gesprochen wurde. Zur Eröffnung der Wiener Festwochen inszenierte der Regisseur Klaus Michael Grüber mit Bruno Ganz in der Titelrolle den »Ödipus«, der in Handkes Version nun »in Kolonos« (und nicht »auf«, weil''s ein kleiner Ort und keine Insel ist) sein Leben beschließt: Sehr gemächlich, sehr edel und unfassbar betulich ging''s auf der Bühne zu, danach aber motzten viele Kritiker gar nicht so sehr über den Regisseur (der sichtlich seine Arbeit verweigert hatte), sondern über den Nachdichter Handke.
»Handkes Sprachkunst provoziert das Ohr«, ächzte der »Tagesspiegel«. Die »Welt« klagte über »gespreizte Formulierungen und schlichte Schlamperei«, die »Frankfurter Allgemeine« zeterte gegen »sinnlos poetelnde Handkesche Gespreiztheiten« und »plump ranschmeißerische Handkesche Schnoddrigkeiten«, die dafür sorgten, dass »diesem Ödipus die Sprache zerbröckelt bis zur Unverständlichkeit«.
Alles Unsinn, bolzte nun die »Süddeutsche Zeitung« zurück, deren Literaturbetreuer sich schon länger als wackere Verteidiger des Schriftstellers Handke betätigen (und, Lohn der Beweihräucherungsarbeit, im französischen Heim des Dichters dafür gelegentlich als Interviewer vorgelassen werden). Das neue Handke-Bashing sei ein schlimmes Armutszeugnis für den deutschsprachigen Kulturbetrieb, so die »SZ": In Wahrheit habe der Übersetzer mit »vielen subtilen Griffen« eine kluge Neudeutung vollbracht, etwa nach 2400 Jahren revolutionärerweise an einer Stelle »das Gereizte aus diesen Zeilen herausgehört«. Vor allem aber habe er präziser, weil wortwörtlicher übersetzt als alle seine Vorgänger.
Ja, was nun, ist dem Schriftsteller Handke tatsächlich böses Unrecht widerfahren? Ganz sicher Quatsch ist es, dass er der »Ödipus auf Kolonos«-Deutung, die vor allem nach der Schuld des Helden für seine Gräueltaten (die Mutter gefreit, den Vater erschlagen) und nach seinem Verhältnis zu den Göttern fragt, entscheidend Neues hinzufügt hat: wie auch - nach so vielen anderen Interpreten vor ihm?
Aber hat Handke als Übersetzer wirklich gemurkst? Er selbst, heißt es, sei zwar in der Rolle des Unverstandenen geübt, aber über die geballte Spötterei und Häme gegen seine »Ödipus in Kolonos«-Version doch herzlich verzagt: So wollte er gar die (gleichfalls für die Wiener Festwochen geplante) Uraufführung seines eigenen neuen Stücks »Untertagblues« absagen, weil er sich und den Theaterkünstlern weitere - wie er meint: unfaire - Attacken ersparen wollte. Nun soll die »Untertagblues«-Premiere doch im Herbst stattfinden.
Fest steht: Es gibt unbestreitbare Peinlichkeiten in Handkes Übersetzung. Nur verweisen die nicht auf fehlende philologische Sorgfalt und Schlamperei, sondern auf den schöpferischen Eigensinn des Übersetzers. Wenn Theseus bei Handke darauf bedacht ist, »dass ich nicht zum Lachmann werde in der Hand des Fremdmanns da!«, klingt das schon sehr krumm - bei Schadewaldt heißt''s klar, er wolle nicht »zum Gelächter werden vor diesem Fremden«.
Auch gibt es ein paar kuriose Saloppheiten, die sich der Übersetzer Handke herausnimmt, wenn er etwa Theseus »Du Blöder - Begehren im Unglück bringt Ungutes« sagen lässt, wo Schadewaldt mit »Du Tor! Unmut im Unglück tut nicht gut!« überlegen bleibt. Ähnlich verblüffend übersetzt Handke das griechische »audo siopan« aus Kreons Mund ("Ich rate zu schweigen« oder bei Schadewaldt einfach: »Sei stille, sag ich!") in Vers 863: Bei ihm heißt''s »Ich tönen, du schweigen«.
Zugleich aber zeichnet sich Handkes Nachdichtung unbestreitbar durch große poetische Schönheit aus, selbst da noch, wo der österreichische Schriftsteller die griechischen Helden reden lässt, als wären sie aus einem seiner Märchenstücke entstiegen oder von einem Alpengipfel herabgekraxelt. Wer denn »der Anschaffer hierzuland« sei, lässt er den Ankömmling Ödipus zum Beispiel die Bewohner von Kolonos fragen: Das kann man doof finden oder aber apart wohlklingend und den Sinn treffend - und in ganz ähnlicher Weise ist die Bewertung der gesamten Handkeschen Übersetzungsarbeit davon abhängig, ob man Sprache und Werk des Dichters Handke mag oder nicht.
Ödipus erinnert sich bei ihm in Vers 768 an die Zeit, als er den Schock über seine Verbrechen verwunden hatte, »als mein Außersichsein endlich wieder gut wurde": Auch wenn es eigentlich »Außermirsein« heißen müsste - ist das nicht viel griffiger im Vergleich zu Schadewaldts »als sich nun mein Zorn gesättigt hatte«? Anderes Beispiel: »Alles andere aber haut zusammen die Allherrscherin Zeit«, beschwört der Handkesche Ödipus die Vergänglichkeit allen irdischen Strebens; um wie viel schwächer, biederer wirkt da Schadewaldts »Das andre alles macht zunichte / Die allgewaltige Zeit«.
Es ist eine Kinderweisheit, dass jeder Übersetzer, und ginge er noch so demutsvoll ans Werk, ein Nachdichter ist. Handke mag als Stücke- und Prosaautor zu den umstrittensten Figuren der deutschsprachigen Kulturwelt zählen - als Übersetzer hat er zu Recht einen blendenden Ruf.
Egal, ob er Emmanuel Bove oder Julian Green ins Deutsche übertrug, ob Patrick Modiano oder Walker Percy: Immer ist es ihm gelungen, den eigenen Ton und den des übersetzten Autors auf sinnliche, sinnige Weise zusammenklingen zu lassen - gerade weil er sich dabei Freiheiten nahm.
Man muss den Autor Handke nicht sympathisch finden. Seit seinen schauerlichen Auftritten als Fürsprecher der kriegerischen Serben und ihres Häuptlings Milosevic gibt er sich gern von Wut verzerrt und Bitterkeit verzehrt. Er zürnt gegen die verlotterten »Giftschlammschmeißer« der Medienwelt - und wirkt dabei meist schrecklich allein gelassen; oft auch von allen guten Geistern.
Nicht vergessen aber sollte man trotz Handkes eifriger Selbstdemontage, dass der Mann Bücher wie »Wunschloses Unglück« geschrieben hat oder Theatertexte wie »Die Unvernünftigen sterben aus« und die raffinierte Spielanweisung »Die Stunde da wir nichts voneinander wussten«.
Bleibt zu hoffen, es möge dem ewig zürnenden, heftig dauerbeleidigten Autor Peter Handke gleich seinem Helden Ödipus gelingen, dass auch sein Außersichsein endlich wieder gut wird. WOLFGANG HÖBEL
* Mit Birgit Minichmayr, Bruno Ganz und Mareike Sedl.** Sophokles: »Ödipus in Kolonos«. Aus dem Altgriechischen vonPeter Handke. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main; 160 Seiten; 16,90Euro.* Mit Schauspielerin Katja Flint in München (Juni 2002).* Von Johann Peter Krafft (1780 bis 1856).