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»Ich war schon ganz unten«

Der britische Popsänger Joe Cocker, 53, über Sommerhits »light«, seine Bierwerbung, das Leben in Colorado und Schecks in der Waschmaschine
aus DER SPIEGEL 36/1997

SPIEGEL: Herr Cocker, man nennt Sie gern einen Überlebenden. Geht Ihnen das inzwischen auf die Nerven?

Cocker: Und wie, das können Sie mir glauben. Ich habe das Elton John zu verdanken. Eines Tages sagte der zu einem Journalisten: Joe Cocker, das ist ein ganz toller Überlebenskünstler. Was der alles durchgemacht hat! Das bekomme ich seit einer Ewigkeit zu hören. Aber das ist auch in Ordnung, ich habe sehr viel erlebt und zum Glück überlebt.

SPIEGEL: Die Legende Joe Cocker ist nicht totzukriegen? Der Mythos von der vollbärtigen Bluesröhre, die auf der Bühne unkoordiniert mit den Armen rudert und bis zum Umfallen säuft?

Cocker: Es reicht mir, in jedem verdammten Interview darüber reden zu müssen. Ich bin so eine Art Journalistentrophäe, die jeder mit nach Hause nehmen möchte. Denn wirklich jeder versucht mir noch eine ungeheuerliche Alkoholikerexzeß-Anekdote zu entlocken, die bisher keiner kennt. Von welcher Bühne ich gefallen bin, wen ich angekotzt habe und so weiter. Ich kann das nicht mehr hören.

SPIEGEL: Aber trotzdem lassen Sie sich die Tournee für Ihre neue Platte »Across from Midnight«, die in dieser Woche erscheint, ausgerechnet von einer Bierfirma sponsern und singen auch noch »Sail away«, die Beck''s-Werbemelodie. Finden Sie das nicht etwas seltsam?

Cocker: Nein, die haben mich einfach überzeugt.

SPIEGEL: Mit welchem Argument?

Cocker: Ich reise auf der Tour mit einer Mannschaft von 55 Leuten herum und habe aufwendige Lichtaufbauten. Jede Show kostet mehr als 25 000 Dollar. Da braucht man einfach einen Sponsor, das ist völlig normal in dem Geschäft. Ich glaube, Sie würden dafür auch »Sail away« singen. Wie jeder weiß, bin ich ein Biertrinker. Deshalb finde ich eine Brauerei einen angemessenen Sponsor. Außerdem bin ich nicht der erste, der so etwas tut.

SPIEGEL: Zum Beispiel?

Cocker: Na, Eric Clapton. Der hat vor einigen Jahren auch Bierwerbung gemacht. Nichts Besonderes eigentlich, wenn er nicht zur selben Zeit bei den Anonymen Alkoholikern gewesen wäre. Das fanden die Amerikaner dann doch ein wenig extrem. Ich trinke gern. Außerdem soll sich in Deutschland keiner beschweren. Da gehört Bier doch zu den Grundnahrungsmitteln. Ich sage ja nicht: Hey, sauft, bis ihr kotzt, sondern: Von Zeit zu Zeit ist Bier eine feine Sache.

SPIEGEL: Sie leben seit den siebziger Jahren in den USA. Wenn es Sie gelegentlich in Ihre Heimatstadt Sheffield verschlägt, gehen Sie dann mit Ihren alten Kumpels einen trinken?

Cocker: Nein. Ich habe meine Heimat eher verbittert verlassen. Alle meine Freunde haben damals in irgendeiner Band musiziert. Alle haben davon geträumt, reich und berühmt zu werden. Und wenn es dann einer wirklich schafft, sind die anderen nicht eben erfreut. Die meisten spielen noch heute in den Spelunken, in denen wir vor langer Zeit mal begonnen haben. Es ist besser für alle, wenn ich mich da nicht mehr blicken lasse.

SPIEGEL: Betrübt Sie das sehr?

Cocker: Das kann man wohl so sagen. Aber aus und vorbei.

SPIEGEL: Wann haben Sie eigentlich zum erstenmal bemerkt, daß Sie eine ganz besondere Stimme haben?

Cocker: Daran erinnere ich mich noch genau. Ich war zwölf Jahre alt, saß in der Küche, und im Radio lief ein Lied von Lonnie Donnegan, dem König des Skiffle. Pure Energie. Ich war so außer mir, daß ich mich auf den Boden warf und laut mitgrölte. Junge, Junge, Adrenalin pur, das erste Mal in meinem Leben. Danach fing ich an, Platten zu kaufen, und ich konnte jede verdammte davon mitsingen. Eines Tages fragte mich dann mein großer Bruder, der eine Skiffleband hatte, mit Waschbrett und so, ob ich Lust hätte zu singen.

SPIEGEL: Konnten Ihre Eltern Ihren Gesang ausstehen?

Cocker: Der war harmlos gegen mein Schlagzeuggetrommel. Ich hatte eins, das nicht besonders gut war, aber sehr, sehr laut. Wenn ich übte, lief mein Vater Amok. Er sagte: Rock''n''Roll, was soll das? Lern was Anständiges, mein Junge.

SPIEGEL: Aber er ließ Sie trotzdem im Wohnzimmer üben?

Cocker: Das war der größte Raum in unserem Haus in Sheffield, und als Gärtner war er oft unterwegs. So konnte ich tagsüber treiben, was ich wollte, meine Mutter war nämlich begeistert.

SPIEGEL: Sie haben angeblich mal gesagt, daß Sie kriminell geworden wären, wenn aus dem Singen nichts geworden wäre. Stimmt das?

Cocker: Ich habe sogar gesagt, daß ich wahrscheinlich jemanden umgebracht hätte, wenn die Musik nicht dazwischengekommen wäre. Aber das ist sehr lange her.

SPIEGEL: Sie haben erst mal ganz friedlich gelernt, wie man Gasöfen repariert. Können Sie das noch?

Cocker: Keine Ahnung. Zu Hause auf meiner Farm in Colorado haben wir eine elektronisch gesteuerte Zentralheizung. Wenn ich die anrühren würde, hätte das wohl katastrophale Folgen.

SPIEGEL: Was tun Sie, wenn bei fünf Meter Schnee die Heizung streikt?

Cocker: Dann fliege ich in die Karibik, um auf den Frühling zu warten. Außerdem haben wir einen Hausmeister, der bei uns wohnt und unser Überleben im Alltag garantiert.

SPIEGEL: Sie gelten als treuer England-Liebhaber. Wie hält es ein Junge aus Sheffield, Nordengland, in der Ödnis von Colorado, USA, aus?

Cocker: Ich gestalte mein Leben so britisch wie möglich. Ich habe eine englische Zeitung abonniert, die pünktlich vier Tage zu spät kommt. Von meinen Reisen durch England bringe ich mir immer Teebeutel mit. Auch meine Wattestäbchen lasse ich mir aus England importieren. Ich vermisse meine Heimat. Trotzdem lebe ich gern in den USA. Ich bin ja immerhin schon seit 1975 dort.

SPIEGEL: Stimmt es, daß Sie aus alter Verbundenheit nur British Airways fliegen?

Cocker: Ja, es gefällt mir, daß man da eine anständige Tasse Tee bekommt und die Stewardessen sehr nett mit mir reden.

SPIEGEL: Ihre Farm heißt »Mad Dog«, benannt nach einer der schwersten Niederlagen Ihres Lebens, der »Mad Dogs and Englishmen«-Tournee im Jahre 1970. Warum?

Cocker: Es war ein wichtiges Ereignis. Ich ging zwei Monate auf eine höllische Tour, und am Ende drückte mir jemand 862 Dollar in die Hand. Da war ich nicht sehr glücklich. Vor einiger Zeit sagte ein Freund von mir, es sei an der Zeit, über die ganze Sache zu lachen. Ich sah das genauso.

SPIEGEL: Nach der Tour sind Sie damals total abgestürzt.

Cocker: Ich war ein Wrack. Ich hatte monatelang kaum gegessen, statt dessen alle möglichen Chemikalien eingeworfen. Am Ende waren alle Illusionen tot.

SPIEGEL: Was war schiefgegangen?

Cocker: Es war eine Totalkarambolage von Egos.

SPIEGEL: Wie groß ist denn Ihr Ego?

Cocker: Mein Ego ist viel zu klein. Das war immer mein Problem. Es ging so weit, daß man mich eine Marionette nannte.

SPIEGEL: Sie scheinen Ärger magisch anzuziehen. Haben Sie sich mal gefragt, wieso?

Cocker: Ich weiß es auch nicht. Ich habe wohl irgendein Gen, das auf Selbstzerstörung programmiert ist. In regelmäßigen Abständen gewinnt dies Gen die Übermacht. Aber zur Zeit habe ich es unter Kontrolle. Hoffe ich jedenfalls. Aber wenn ich mich so erinnere, frage ich mich manchmal, warum mir so lange kein Mensch geholfen hat. Keiner hat gesagt: Hey, Joe, hör auf mit dem Mist. Weder mein Management noch meine damalige Freundin. Ich glaube, so mancher war an meinem Unglück interessiert.

SPIEGEL: Sind nur unglückliche Blues-Sänger gut?

Cocker: Das ist ein interessanter Gedanke. Die großen alten Sänger wie B. B. King oder John Lee Hooker haben einiges vom Leben gesehen, aber als sie alt waren, sind sie auch endlich glücklich geworden. Ich selbst war ganz unten in meinem Leben, und ich glaube, das hört man, wenn ich singe. Ich weiß allerdings nicht, ob man wirklich so unglücklich werden muß, um den Blues zu singen.

SPIEGEL: Bei Billie Holiday, beispielsweise, war es so.

Cocker: Das stimmt. Dazu kam bei ihr, daß sie heroinabhängig war. Es ist, zugegeben, ein großartiges Erlebnis, Musik zu hören, wenn man auf Heroin ist. Aber die Droge ist nach kurzem das einzige, was zählt. Als ich in den siebziger Jahren Heroin genommen habe, ging es richtig bergab mit mir. Ich habe keine Rechnungen mehr bezahlt. Einen Tantiemen-Scheck über viele hunderttausend Pfund habe ich mal in die Waschmaschine gesteckt. Keine Ahnung, wie der in meine Jeans gekommen ist. Ich habe ihn nie eingelöst, das ist sicher. Ich schwebte irgendwo weit weg von Zeit und Raum.

SPIEGEL: Jetzt kontrollieren Sie Ihre Taschen vor der Wäsche?

Cocker: So ungefähr. Es sieht vielleicht nicht so aus, aber ich bin schon geschäftstüchtig. Ich bin allerdings nicht der Typ, der stundenlang am Telefon hängt, um irgendwelche Kleinigkeiten zu diskutieren, wie Mick Jagger zum Beispiel. Ich will nur, daß die ganze Sache läuft und ich am Ende des Jahres auf meinem Konto im Plus bin.

SPIEGEL: Wie gut erinnern Sie sich an Ihr verlorenes Jahrzehnt, die siebziger Jahre?

Cocker: Einige Katastrophen vergißt man nicht. Aber es gibt auch lange Zeiträume, die einfach gelöscht sind, weg. Ein mentaler Block. Ich kann damit gut leben, aber viele Menschen scheinen mir erklären zu müssen, was ich damals so getrieben habe.

SPIEGEL: Wieviel fehlt Ihnen denn?

Cocker: Das Jahr 1977 ist komplett weg. Reicht Ihnen das?

SPIEGEL: Treffen Sie manchmal Menschen, an die Sie sich nicht mehr erinnern?

Cocker: Kommt schon vor. Sie sagen: Hallo, wie geht''s, war eine tolle Zeit. Ich sage: Hallo. Und denke: Wer zum Teufel ist das?

SPIEGEL: Bereuen Sie irgend etwas?

Cocker: Warum? Ich habe mich selber aus dem Dreck gezogen. Es geht mir gut. Darum geht es. 1979, als ich ganz unten war, habe ich meine Frau Pam getroffen. Seitdem geht es aufwärts.

SPIEGEL: In Ihrem Leben hat sich viel verändert. Geblieben ist aber Ihre seltsame Art, sich auf der Bühne zu bewegen. Nicht wenige glauben, Sie seien krank, andere sagen, das sehe aus wie eine durchgedrehte Windmühle. Ist das eine Masche oder Ihr natürlicher Stil?

Cocker: Ich konnte mich nie daran gewöhnen, ein Mikrofon in der Hand zu halten. Aber so ein Standmikrofon zwingt einen, an einer Stelle stehen zu bleiben und dort irgend etwas zu tun. Ich habe nie Klavier oder Gitarre gespielt, und wie ich mich bewege, ist Ergebnis dieser Frustration.

SPIEGEL: Also spielen Sie Luftgitarre?

Cocker: Im Grunde ja. Aber ich denke nicht darüber nach, was ich da tue. Ich weiß, daß meine Bewegungen für die Zuschauer so aussehen, als hätten sie nichts mit dem Rhythmus der Musik zu tun. Aber in meinem Kopf stimmt das einfach so, wie es ist.

* Mit SPIEGEL-Mitarbeiter Christoph Dallach und Redakteurin Marianne Wellershoff.

SPIEGEL: Der amerikanische Komiker John Belushi hat Sie in der Fernsehshow »Saturday Night Live« imitiert. Haben Sie das gesehen?

Cocker: Klar. Wir sind sogar zusammen aufgetreten. Belushi sang meinen Hit »With A Little Help From My Friends«, wirbelte mit den Armen, und am Ende lag er auf dem Boden, schüttete sich Bier über den Kopf und hatte Schaum vorm Mund. Die amerikanischen Zuschauer haben es geliebt.

SPIEGEL: Verletzt es Sie noch, wenn die Leute sich über Joe Cocker lustig machen?

Cocker: Mich einen Spastiker zu nennen ist unter der Gürtellinie. Aber ich kann doch nicht dastehen und festfrieren, bloß damit niemand einen bösartigen Scherz macht.

SPIEGEL: In der Sendung »Wetten, daß ...?« sollten Sie die Hände hinter dem Rücken falten und ein Lied singen, wenn Ihr Kandidat verliert. Hätten Sie das geschafft?

Cocker: Keine Ahnung. Zum Glück hat er nicht verloren.

SPIEGEL: Sie sind mit Songs anderer Musiker bekannt geworden. Ihre Karriere begann 1968 mit dem Beatles-Stück »With A Little Help From My Friends«, Ihren aktuellen Hit »Could You Be Loved« hat Bob Marley geschrieben. Suchen Sie die Stücke für Ihre Alben selber aus?

Cocker: Nein, ich bin Produzenten und Managern ausgeliefert. Ich könnte auch gar nicht alle Bänder hören, die uns von Komponisten geschickt werden, soviel Zeit habe ich nicht. Trotzdem ist es immer ein Kampf, am Ende 14 Stücke zusammenzubekommen.

SPIEGEL: Aber an der Endauswahl sind Sie beteiligt?

Cocker: Ja, aber auch ich muß Kompromisse machen. Auch auf der neuen Platte sind ein paar Songs, die für meinen Geschmack ein bißchen kommerziell sind. Aber ich kann nicht am Zeitgeist vorbeisingen. Wenn die Menschen von der Plattenfirma einen leichten Sommerhit wollen, liefere ich den.

SPIEGEL: Gibt es Songs, die in der Originalversion so gut sind, daß Sie die niemals singen würden?

Cocker: So erlaube ich mir nicht zu denken, denn dann hätte ich beispielsweise »Could You Be Loved« nie aufnehmen dürfen. Bob Marley hat die definitive Interpretation seines Songs geliefert. Wir haben mehr eine »Light«-Version gemacht.

SPIEGEL: Sie covern überwiegend alte Stücke. Warum singen Sie nicht mal etwas von jüngeren Hitschreibern wie Oasis?

Cocker: Gern, nur was dann? Die sind doch lange nicht so talentiert wie die Musiker der sechziger Jahre. Wenn ich an The Who oder The Small Faces denke - so etwas gibt es heute nicht mehr. Außerdem finde ich es vermessen, daß Oasis sich für die Beatles-Nachfolger halten. Die Beatles-Musik hat wirklich jeder auf dieser Welt mal gehört, und jeder, der es sich leisten kann, hat auch eine Platte von denen. Das ist ein absolut einzigartiges Phänomen. Oasis sind nicht so wichtig, wie sie behaupten.

SPIEGEL: Der Ex-Beatle George Harrison hält zumindest die Oasis-Konkurrenz Blur für eine ganz große Band.

Cocker: Wirklich? Ich halte trotzdem nichts von denen. Ich finde es bezeichnend, daß jetzt alle versuchen, die sechziger Jahre zu kopieren. Ich war neulich mal bei einem Konzert der amerikanischen Retro-Rockband Black Crowes. In der Garderobe des Sängers Chris Robinson qualmten Räucherstäbchen, und ich hatte das Gefühl eines seltsamen Zeitsprungs. Robinson versuchte, die alten Zeiten zurückzubeschwören. Was soll das?

SPIEGEL: Was passiert in Ihrer Garderobe vor einem Auftritt?

Cocker: Nicht viel. Ich sitze rum und trinke ein paar Bier.

SPIEGEL: Kann es da passieren, daß Sie wieder ein paar Biere zuviel trinken?

Cocker: Aber ja. Wenn ich auf Tournee gehe, lauert die Versuchung an jeder Ecke. Glauben Sie mir, es hat seinen Reiz, ab und zu die Puppen tanzen zu lassen.

SPIEGEL: Herr Cocker, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.

* Mit SPIEGEL-Mitarbeiter Christoph Dallach und RedakteurinMarianne Wellershoff.

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