Samira El Ouassil

#IchBinArmutsbetroffen Warum der Hashtag so wirkmächtig ist

Samira El Ouassil
Eine Kolumne von Samira El Ouassil
Von Armut betroffene Menschen werden auch in Deutschland traditionell verachtet. Scham wird dabei zu einer Waffe – die marginalisierte Menschen auch gegen sich selbst richten.
Das soziale Instrument der Scham (Symbolbild)

Das soziale Instrument der Scham (Symbolbild)

Foto: Julian Stratenschulte / picture alliance / dpa

Unter dem Hashtag #IchBinArmutsbetroffen, den die alleinerziehende Mutter »Finkulasa« in Gang gebracht hatte, beschreiben gegenwärtig Menschen, was es bedeutet, in Deutschland von Armut betroffen zu sein. Diese Formulierung »von Armut betroffen« ist hier sehr wichtig, denn es geht eben nicht darum, arm zu sein, als sei es eine Eigenschaft, sondern man muss Armut als etwas begreifen, das einem widerfährt, als einen Schicksalsschlag. Und das ist vielleicht auch die Essenz dieses Hashtags: deutlich zu machen, dass Armut in verschiedenen Konstellationen jeden treffen kann. In den zahlreichen Schilderungen wird jedoch auf detaillierte Weise anschaulich, wie schwer es ist, hierzulande mit Hartz IV, Niedriglöhnen, Aufstockung oder einer geringen Rente ein würdevolles Leben zu führen. Diese Berichte reihen sich ein in die Erzählungen von Menschen, die momentan besonders durch Preissteigerungen belastet werden, wie beispielsweise »LuffyLumen«, die darüber schreibt, dass sie ihren Kindern schlicht keine Wassermelone kaufen kann. Die bittere Wahrheit der vielen geschilderten Lebenswirklichkeiten: Für eine von Armut betroffene Person wird in Deutschland die eigene Existenz zum reinen Überleben degradiert.

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Hinzu kommt der aktuelle Bericht des Paritätischen Wohlfahrtsverbands, nach welchem jeder und jede dritte Studierende in Armut lebt. Verbandsleiter Ulrich Schneider stellt fest : »Bin baff erstaunt. Nach unserer Studie zur #Armut unter Studierenden keinerlei Kommentare der sonst üblichen Armutsleugner, keine Beschimpfungen der @Paritaet, nichts dergleichen. Stattdessen scheint langsam auch der letzte begriffen zu haben: Ja, es ist Armut!«

Das wäre tatsächlich ein Fortschritt. Denn jedes Mal, wenn ich irgendwo über Armut schreibe, können Sie Ihre Rolex darauf verwetten, dass etliche Kommentare darauf hinweisen, dass von Armut betroffene Menschen im Grunde doch immer auch selbst an ihrer Situation schuld seien. Von »Die sollen halt arbeiten gehen!« über »Warum geben sie sich nicht mehr Mühe beim Geld haben?« bis zu »Faul, drogensüchtig und dumm!« ist alles an ätzenden Erniedrigungen dabei. Von Armut betroffene Menschen werden auch in Deutschland traditionell verachtet, weil die unterstellte Disziplinlosigkeit, das angebliche Sichgehenlassen vielen hier geradezu als frech erscheint, stellt es doch die verteidigte Funktionalität einer Leistungsgesellschaft infrage. Die Idee der Eigenverantwortlichkeit für das persönliche Schicksal scheint sich konsequent logisch aus dem Geiste der Aufklärung entwickelt zu haben.

Denn wenn weder Götter noch Könige unsere Geschicke lenken und bestimmen und es keine Stände gibt, die durch Kastensysteme unseren Platz in der Welt von Geburt an festlegen, dann können nur unser eigener Fleiß und Schweiß, unser Talent und unsere Leistung dafür verantwortlich sein, wo wir uns gerade in unserem Leben befinden. Die finanzielle Stabilität als Indikator eines stabilen, tüchtigen Menschen versus die Armut als Beleg eines individuellen Scheiterns, persönlichen Unvermögens oder aber eines Unwillens, mehr aus sich zu machen. Um diesen Mythos erfolgreich aufrechtzuerhalten, kommt vor allem ein soziales Instrument zum Einsatz: Scham. Genauer: Beschämung. Ein Mechanismus, der zur Verhaltenskontrolle eingesetzt wird. Sie funktioniert auf zwei Arten:

Die Beschämung ist ein fabelhaftes soziales Tool, um das Ideal der Eigenverantwortlichkeit aufrechtzuerhalten, denn sie führt zu einer gern gedrehten Armuts-Beschämungs-Spirale, die es ökonomisch abgesicherten Bürgerinnen und Bürgern einfacher macht, sich Armut – was? In Deutschland? Unmöglich! – nicht konkret vorstellen zu müssen. Durch sie entsteht die Wahrnehmungslücke einer naiven Elendsleugnung. Analog zum berühmten Konzept der Schweigespirale der Kommunikationswissenschaftlerin Elisabeth Noelle-Neumann funktioniert diese Armuts-Beschämungs-Spirale folgendermaßen: Eine Gesellschaft hält an der vorherrschenden These »Wer arm ist, der ist selbst dran schuld!« fest – vor allem in einem aufgeklärten, liberalen, prosperierenden Land.

Klischees von Armut

Auf Grundlage dieser gesellschaftlichen Ansicht werden einkommensschwache Menschen als randständig stigmatisiert, weshalb sie nicht darüber sprechen, weshalb sie unsichtbar bleiben und die Schicksale vieler in einer Schweigespirale des Sichgenierens verstummen; weshalb im wohlständigen Teil der Gesellschaft wiederum gedacht wird, dass es den meisten ja gut gehe – und sie folglich zum Schluss kommen: Wer arm ist, muss also selbst daran schuld sein! In einer Mischung aus Klischees über Arme, die auch in deutscher Unterhaltung und schlechter Berichterstattung transportiert werden, aber auch aus reiner, dumpfer Ignoranz und fehlender Verfügbarkeit, weil man die Gesamtheit an prekär lebenden Menschen ja nicht immer vor Augen hat, erkennt die Mehrheit der Gesellschaft das Problem nicht als ein gesamtgesellschaftliches an, sondern als individuelles Versagen einiger aus einer abseitigen Minderheit. Aus diesem Grund müsste zur Bekämpfung der Armut neben ökonomischen Lösungen auch eine Entstigmatisierung erfolgen sowie eine Sichtbarkeit geschaffen werden, welche eine grundlegende Auseinandersetzung erzwingt. Deswegen ist der Hashtag in seiner Formulierung »Von Armut betroffen« auch so wirkmächtig.

Zur ökonomischen Ausgrenzung kommt nicht nur eine soziale hinzu, sondern auch eine innerliche Selbstausgrenzung.

Der zweite Hebel der Beschämung: Mit der Behauptung von Schuld und Faulheit, von Charakterschwäche und der potenziellen Möglichkeit, es ja aus eigenem Antrieb besser machen zu können, wenn man denn nur wollte, gibt man Menschen erfolgreich so lange die Schuld an der eigenen Armut, bis sie die Scham verinnerlicht haben und gegen sich selbst einsetzen; bis sie sich selbst für unzureichend und schwach halten, für nicht zugehörig und zu Recht in der aussichtslosen Position gelandet. Das heißt, zur ökonomischen Ausgrenzung kommt nicht nur eine soziale hinzu, die z.B. den Zugang zum Gesundheits- und Bildungssystem erschwert, sondern auch eine innerliche Selbstausgrenzung. Dieses Gefühl geht einher mit der Feststellung, dass man im tiefsten Inneren machtlos ist.
Der Soziologe Kurt Salentin erklärt : »Der Blockierung des Selbsthilfepotentials durch die Scham, die man als Dilemma der Hilfesuchenden bezeichnen könnte, muss entgegengewirkt werden. Wer in einer Notlage unbefangen von allen Informations- und Beratungsangeboten Gebrauch machen soll, muss dies entweder in dem Bewußtsein einer moralischen Berechtigung tun, was eine gesellschaftliche Neubewertung der Armut voraussetzt, die sich derzeit nicht wirklich abzeichnet. Oder er bzw. sie muss sich auf die vertrauliche Behandlung seines/ihres Problems verlassen können.«

Scham also als eine Waffe, die marginalisierte Menschen gegen sich selbst richten, eine Fessel, die verhindert, dass man über sein Elend öffentlich spricht, und somit ein Instrument, welches die Sichtbarkeit dieser Ungerechtigkeiten verhindert. Das Dilemma beziehungsweise die Stärke symbolischer Gewalt ist die Internalisierung der Ungleichheiten, bis sie selbstverständlich erscheinen. Diese Dreifaltigkeit der Scham beschreibt der französische Schriftsteller Édouard Louis sehr gut in seinem ersten Roman »Das Ende von Eddy« (»En finir avec Eddy Bellegueule«):

»Wir hatten weniger Geld und es war eine Schande [...], wenn wir zu den Restos du Coeur [das französische Pendant zu den Tafeln] gingen, um Essenspakete abzuholen. [...] Und meine Eltern ermahnten mich zum Schweigen. Du darfst es nicht erzählen, vor allem nicht, dass wir zu den Restos du Coeur gehen, das muss in der Familie bleiben. Sie waren sich nicht bewusst, dass ich schon vor langer Zeit, ohne dass sie es mir sagen mussten, verstanden hatte, welche Schande das bedeutete, dass ich um nichts in der Welt darüber gesprochen hätte.«

Aus eigener Erfahrung weiß ich: Von Armut betroffen zu sein heißt, ein Leben als eine Art heimliches Alien zu führen. Niemand darf mitbekommen, dass man in Wirklichkeit kein richtiger Mensch ist. Und dieses Gefühl ist nicht mal ganz verkehrt: Betrachtet man die politische Auseinandersetzung und die gescheiterte Sozialpolitik der letzten Jahrzehnte, dann ist man offenbar wirklich kein richtiger Mensch, sondern nur ein zählbares Element in einer Statistik. Diese Entmenschlichung wird hoffentlich durch die Sichtbarmachung und das Aufbrechen der Armuts-Beschämungs-Spirale reduziert, wenn hoffentlich endlich klar wird: Da Armut jeden Menschen treffen kann, betrifft sie uns alle.

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