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DÜRRENMATT Im Irrenhaus

aus DER SPIEGEL 9/1962

Auf den ersten Blick sah es am vergangenen Mittwoch im Zürcher Schauspielhaus so aus, als hätte Friedrich Dürrenmatt der deutschen

deutschsprachigen - Literatur ein neues Lustspiel beigebracht. Auf den zweiten Blick wirkten »Die Physiker« eher wie ein Arsenal von Irrenwitzen. Tatsächlich sind sie ein Zeitstück.

Nur ist die Zeit inzwischen ziemlich unbescheiden geworden. Ein Zeitstück - einem jeweils aktuellen Aspekt der Menschengesellschaft zugewendet - konnte sich im achtzehnten Jahrhundert, bei Beaumarchais, noch mit dem Übermut des Adels im Umgang mit Unschuldsmädchen ("Figaro"), im neunzehnten Jahrhundert, bei Ibsen, noch mit der Emanzipation der Frauen abgeben, die nicht mehr ins Puppenheim gesteckt werden wollen ("Nora"). Im zwanzigsten Jahrhundert geht Dürrenmatts Zeitstück unterm Applaus eines eleganten Publikums, das vom Gelächter bis zur Atemnot erschöpft ist, um den Untergang der Menschheit, möglicherweise um deren Fortbestand.

Die Zeit ist danach. Vollkommen angemessen spielt das Zeitstück des 41 jährigen Pastorensohns aus Konolfingen bei Bern, Friedrich Dürrenmatt (SPIEGEL 28/1959), in einem Irrenhaus.

Die - wie er es nennt - »story« zu seinem Physiker-Drama hat sich Dürrenmatt zurechtgelegt, als er sich vor etwas über Jahresfrist, des gestörten Stoffwechsels wegen, einer Kur unterzog und täglich einen zweieinhalbstündigen Spaziergang absolvieren mußte. Die Elemente waren ihm bekannt. Dürrenmatt: »Ich kenne viele Physiker.« Und: »Ich kenne viele Irrenhäuser.« Er

hat mehrere Verwandte, die in Heilanstalten arbeiten.

Ein solches, tatsächlich bei Neuchâtel gelegenes »Sanatorium« hat Dürrenmatt als Ort der Handlung streng detailliert beschrieben, samt näherer und weiterer Umgebung, dem »zunächst natürlichen, dann verbauten Seeufer«, der nahe liegenden Stadt und ihrer Ausrüstung mit Universität, Handels- und Zahntechnikerschule, Töchterpensionaten, »kaum nennenswerter Leichtindustrie« - der Ort der Handlung liegt somit schon an sich abseits vom Getriebe. Dazu beruhigt überflüssigerweise auch noch die Landschaft die Nerven, jedenfalls sind blaue Gebirgszüge, human bewaldete Hügel und ein beträchtlicher See vorhanden«, ferner eine »Strafanstalt irgendwo, so daß überall schweigsame und schattenhafte Gruppen und Grüppchen von hackenden und umgrabenden Verbrechern sichtbar sind«.

Die behäbige Präzision dieser Ortsschilderung signalisiert bereits den Irrsinn, der kommen wird - die Schilderung der Umgebung geschah nämlich nur »der Genauigkeit zuliebe« und ist ganz überflüssig. Das Stück spielt in einem einzigen Zimmer der Anstalt, »haben wir uns doch vorgenommen, die Einheit von Raum, Zeit und Handlung** streng einzuhalten; einer Handlung, die unter Verrückten spielt, kommt nur die klassische Form bei« (Dürrenmatt).

Auch daß die Handlung zunächst wie ein Kabarett-Ulk aussieht und dem klassischen Muster des Irrenwitzes folgt, bei dem die Vernunft an einer Stelle auftaucht, wo sie nicht hingehört, die Logik an einer Stelle funktioniert, wo niemand sie erwartet, ist bei Dürrenmatt berechnete dramaturgische Methode. »Die Literatur«, glaubt Dürrenmatt, »muß so leicht werden, daß sie auf der Waage der heutigen Literaturkritik nicht mehr wiegt. Nur so wird sie wieder gewichtig.«

Und Dürrenmatt hat mit dem Erleichtern Ernst gemacht. Der Ort seines Schauspiels, ein mondänes Sanatorium - »für die horrenden Preise wird auch die bösartigste Verrücktheit ein reines Vergnügen« -, gehört Mathilde von Zahnd (Therese Giehse), einer »buckligen Jungfer in ihrem ewigen Ärztekittel«, »Psychiater von Ruf, man darf ruhig behaupten von Weltruf (ihr Briefwechsel mit C. G. Jung ist eben erschienen)«, dem letzten, unfruchtbaren, »nur noch zur Nächstenliebe tauglichen« Sproß einer weitverzweigten und hochmögenden Familie, die Staatspräsidenten und Marschälle hervorgebracht hat und deren letzte, uralte Mitglieder für fürstliche Summen bei Mathilde einsitzen.

In einem besonderen Gebäude, der »Villa«, hat Dr. Mathilde von Zahnd drei Physiker untergebracht, von denen der eine, Beutler, sich für Sir Isaac Newton hält, den Entdecker der Gravitationsgesetze (Gustav Knuth). Der zweite, Ernesti, hält sich für den Begründer der Relativitätstheorie, Albert Einstein: Theo Lingen, zum erstenmal auf einer Züricher Bühne, hat sich eine frappante Einstein-Maske angelegt, er läuft mit Strubbelkopf in Cordhose und grauem Pullover herum und führt stets eine Geige mit sich. Dem dritten Physiker, Möbius (Hans-Christian Blech), der am längsten in Gewahrsam ist, erscheint seit fünfzehn Jahren täglich der König Salomo und diktiert physikalische Gesetze.

Die Physiker, »harmlose, liebenswerte Irre, lenkbar, leicht zu behandeln und anspruchslos«, wären »wahre Musterpatienten«, wenn nicht Beutler alias Newton vor drei Monaten seine Pflegerin mit einer Vorhangkordel erdrosselt hätte. Zu Beginn des Stücks liegt schon ein zweites Opfer auf dem Parkett - laut Regieanweisung »in tragischer und definitiver Stellung, mehr im Hintergrund, um das Publikum nicht unnütz zu erschrecken«. Das Opfer ist wieder eine Schwester, diesmal von Ernesti alias Einstein erdrosselt, diesmal mit der Schnur der Stehlampe.

Und während in seinem Zimmer Ernesti-Einstein, um sich nach der frischen Tat zu beruhigen, die Kreutzersonate spielt, von Mathilde von Zahnd am Klavier begleitet, vertraut Beutler -Newton, der Mörder von vor drei Monaten, dem Kriminal-Inspektor, der ihn mit Sir Isaac anspricht, ein Geheimnis an: Glauben Sie wirklich, ich sei Newton? Ich gebe mich nur wegen Ernesti dafür aus, der sich für Einstein hält: »Wenn Ernesti erführe, daß ich in Wirklichkeit Albert Einstein bin, wäre der Teufel los.«

Um den Irrenwitz noch eine Spirale weiter zu treiben, erläutert Mathilde von Zahnd dem Inspektor später, Beutler erzähle nur, er sei Einstein, tatsächlich halte er sich doch für Newton: »Ich kenne sie (die Patienten) weitaus besser, als sie sich selber kennen.«

Die Institutsleiterin hat wegen der Morde - der Patienten-Verirrungen - Schwierigkeiten bekommen. Zwar war das erste Opfer, Schwester Moser, Mitglied des Damenringervereins, zwar war das zweite Opfer, Schwester Straub, Landesmeisterin des nationalen Judoverbandes, aber der Staatsanwalt fordert nun doch kategorisch männliche Wärter für die Kranken. Mathilde gibt nach, und so kommt die dritte Schwester, Monika, zum dritten Physiker, zu Möbius, um sich zu verabschieden. Ehe das Publikum in die Pause entlassen wird, ist auch sie erdrosselt - wieder mit der Vorhangkordel.

Diesmal aber hat das Publikum zusehen dürfen, und so ist erkennbar geworden, warum die »Musterpatienten« ihre Pflegerinnen umbringen. Monika - dargestellt von der Brecht-Tochter Hanne Hiob - kam mit einem Bekenntnis zu Möbius. Sie glaubte an ihn, sie hielt ihn nicht für verrückt, sie wollte für seine Entdeckungen kämpfen, sie hatte die Erlaubnis ertrotzt, ihn aus der Anstalt herauszunehmen, sie hatte Ersparnisse gemacht, sie liebte ihn, sie wollte ihn heiraten. Ähnliches wird seinen Kollegen zugestoßen sein. So griffen sie alle zum Strick, zu Kordel und Schnur.

Denn alle wollen aus sehr speziellen, ja vernünftigen Gründen im Irrenhaus bleiben. Möbius simuliert seit fünfzehn Jahren die Begegnungen mit Salomo, denn er hat die lang gesuchte »einheitliche Feldtheorie« gefunden, eine schlüssige Gravitationslehre und ein »System aller möglichen Erfindungen« aufgestellt, er hat Entdeckungen gemacht, die »neue unvorstellbare Energien« freisetzen würden, »falls seine Arbeiten in die Hände der Menschen fielen«.

* Beutler alias Newton aber heißt eigentlich Kilton, Ernesti alias Einstein heißt eigentlich Eisler - beide sind sie Physiker von Rang, beide halten sie Möbius für den »genialsten Physiker der Gegenwart«, beide sind von Geheimdiensten - von Ost und West - zu Möbius geschleust worden, um den wichtigen Mann für ihre Sache zu gewinnen. Als sie sich zu erkennen geben, erläutert ihnen Möbius, warum er Schwester Monika ermorden mußte: »Sie hielt mich für ein verkanntes Genie. Sie begriff nicht, daß es heute die Pflicht eines Genies ist, verkannt zu bleiben.«

Der Schweizer Literaturtheoretiker Walter Muschg ("Die Zerstörung der deutschen Literatur") kommentiert: »Wie immer bei Dürrenmatt steigt aus der scheinbaren Farce ruckweise das

kalte Grauen auf.« Bereits in seinem Schauspiel »Romulus der Große« (1949) hat Dürrenmatt nämlich Simulantentum moralisch rehabilitiert: Romulus Augustulus, der letzte römische Imperator, markiert zielvoll den trotteligen Züchter von Leghennen, weil er herausgefunden hat, das römische Imperium sei eine verbrecherische Institution geworden, die nicht von einem starken Kaiser verteidigt werden sollte. Er hat nur das Pech, auf den Germanenfürsten Odoaker zu treffen, der ebenfalls den passionierten Züchter von Leghennen markiert - aus berechtigter Sorge vor der Zukunft, die ein Germanenreich bringen werde.

Beider Vorsorge erweist sich als unwirksam, und ähnlich geht es den »Physikern«, deren Uraufführung in Zürich von dem in Neuruppin geborenen, in Pankow herangewachsenen Wahlmünchner Kurt Horwitz inszeniert wurde: Horwitz hatte vor fünfzehn Jahren das erste Theaterstück des damals unbekannten 26jährigen Dürrenmatt, das Wiedertäufer-Drama »Es steht geschrieben«, von Basel mit Empfehlungen ans Schauspielhaus Zürich geschickt, wo es sofort angenommen und aufgeführt wurde. Horwitz - gegenseitige Anrede mit dem Autor: Horri und Dürri - hält »Die Physiker« für Dürrenmatts bisher wirksamstes Stück, das den Aufführungserfolg des Schauspiels »Der Besuch der alten Dame« noch übertreffen werde.

Bevor Dürrenmatts jüngste alte Dame, Mathilde von Zahnd, die Physiker überraschen kann, streiten Ost und West, Eisler wie Kilton, um die Gunst von Möbius.

* West-Kilton-Beutler-Newton: »Wir haben Pionierarbeit zu leisten und nichts außerdem. Ob die Menschheit den Weg zu gehen versteht, den wir ihr bahnen, ist ihre Sache, nicht die unsrige.« Und: »Einige der berühmtesten Physiker erwarten Sie. Besoldung und Unterkunft ideaL« Der Nobelpreis wird fürs kommende Jahr garantiert.

Ost-Eisler-Ernesti-Einstein: »Auch wir können es uns schon längst nicht mehr leisten, die Physik zu bevormunden. Auch wir brauchen Resultate. Auch unser politisches System muß der Wissenschaft aus der Hand fressen.«

Aber Möbius kann seine Kollegen - bedeutende Physiker auch sie - überzeugen, daß die Resultate seiner Forschungen nicht bekannt werden dürfen: »Unsere Wissenschaft ist schrecklich geworden, unsere Forschung gefährlich, unsere Erkenntnisse tödlich.« Die beiden Physiker melden ihren Geheimdiensten, sie hätten sich geirrt. Möbius sei wirklich verrückt.

Möbius: »Nur im Irrenhaus sind wir noch frei. Nur im Irrenhaus dürfen wir noch denken. In der Freiheit sind unsere Gedanken Sprengstoff.« Und: »Entweder wir bleiben im Irrenhaus, oder die Welt wird eins.«

Auch diese makabre Alternative aber ist Dürrenmatt zu optimistisch. Er entschied: Die Physiker bleiben im Irrenhaus, aber die Welt wird trotzdem eins. Denn es erweist sich: Die Irrenärztin Mathilde von Zahnd ist gemeingefährlich verrückt. Sie hat zwar die Agenten durchschaut, aber sie glaubt fest daran, daß König Salomo täglich dem Physiker Möbius Weisheiten diktiert habe. Sie hat alle seine Schriften, bevor Möbius sie vernichtete, photokopiert. Die schwerreiche Mathilde von Zahnd - der Name wirkt nicht unabsichtlich wie eine Verkürzung der schwerreichen, mordlustigen Zachanassian aus dem »Besuch der alten Dame« - hat einen weltweiten Konzern gegründet, der die tödlichen Forschungsergebnisse von Möbius auswerten wird. Den Physikern, die sie von nun an streng bewacht hält, versichert die irre Irrenärztin: »Die Produktion rollt an.«

Dazu Dürrenmatt: »Eine Geschichte ist dann zuende gedacht, wenn sie ihre schlimmstmögliche Wendung genommen hat.«

**Kennzeichen der antiken Tragödie.

Züricher Uraufführung »Die Physiker"*: Genie-Pflicht ist, verkannt zu bleiben

Dramatiker Dürrenmatt

Mord noch dem Heiratsantrag

* v. l.: Hans-Christian Blech, Theo Lingen, Gustav Knuth als Patienten, Therese Giehse als Irrenärztin.

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