Am Eingang zum Reich der Träume steht eine Tafel aus grauem Stein, nicht eben auffällig: »Glaubst du eigentlich, daß an dem Hause dereinst auf einer Marmortafel zu lesen sein wird: ,Hier enthüllte sich am 24. Juli 1895 dem Doktor Sigmund Freud das Geheimnis des Traumes.'' Die Aussichten sind bis jetzt hierfür gering.«
Das Haus, jenes Schloß Bellevue auf dem Cobenzl, wo Freud in den Sommern um die Jahrhundertwende sich einmietete, wurde im Zweiten Weltkrieg von Bomben zerstört. Nur die Tafel, steinernes Faksimile eines 1900 geschriebenen Briefs an Wilhelm Fließ, steht da - auf dem Berg über der Stadt, an diesem Morgen kahl und öd von den Spuren des ausgehenden Winters. Die Aussicht auf Wien ist verhangen.
Gerhard Roth spricht mit der nachsichtigen Routine eines guten Lehrers; eine Wirkung, die vor allem auf seinen graumelierten Bart, den eher behäbigen Körper sowie die schleppende Redeweise zurückzuführen ist. Er zeigt auf einen Kirchturm im Nebel, da unten den 19. Bezirk, die Müllverbrennungsanlage, von Hundertwasser gestaltet: das Panorama einer weitgehend unsichtbaren Stadt. Seiner Stadt. Die er im Kopf hat und die ihn, seit er vor sechs Jahren endgültig umzog aus der Steiermark nach Wien, in Bann hält.
Am Abend zuvor, im grellen Licht seines Arbeitszimmers, hatte er hinter dem großen hölzernen Schreibtisch gewartet wie hinter einer Barrikade. Roths Antworten sind immer zugleich Fragen, Stichproben auf Kenntnis, Genauigkeit und Übereinstimmung. Sein Werk schüchtert ein: Die früheren Romane, Theaterstücke, Erzählungen nicht mitgerechnet, sind es sieben Bände aus 13 Jahren, 2000 Seiten, Romane neben Reportagen, nüchterne Beschreibungen und seltsame Traumgespinste, das ganze zum Zyklus bestimmt, »Die Archive des Schweigens«.
In seiner Kindheit, sagt er, war Österreich für ihn »das Schweigens-Reich«. Wo die Vergangenheit, und das war natürlich vor allem die Nazi-Vergangenheit, vergessen sein sollte und im Geschichtsunterricht das »Endlos-Märchen von den Habsburgern« repetiert wurde, wo man die Beweise verschwinden ließ und Antworten verwehrte. Mehr und mehr geriet ihm die Arbeit zu einer Gegengeschichte Österreichs, die von Träumen und Wahn handelt, von den Außenseitern und den Vertriebenen.
Das Schreiben glich ein wenig auch einer Reise, von der Stadt aufs Land und vom Land in die Stadt, von Graz, wo er 1942 geboren ist und bis 1977 in einem Computerzentrum arbeitete, in die Gemeinde Obergreith in der Steiermark - Fundus der ersten beiden Romane, »Der Stille Ozean« und »Landläufiger Tod« - und dann nach Wien. Die Reise führte in magische Welten, weit abgehoben und schwindelerregend, und von da wieder in die Wirklichkeit, in den Stephansdom und in den Narrenturm, sodann tief hinab in die unterirdischen Gänge und Katakomben von Wien.
Roth wurde dabei »zum Archäologen, zum Ethnographen«, und eine Kunstpostkarte, sagt er, habe er bei sich getragen, »Die Anatomie des Dr. Tulp« von Rembrandt. Er wollte herausfinden, wie die Stadt denkt, wie sie träumt, wie sie verdaut. Darum ist er hinuntergestiegen in die Speicher unter der Nationalbibliothek - »das ist der Kopf der Stadt« -, in das Gipsstatuendepot unter der Hofburg und in die Abwässerkanäle, durch die Orson Welles im »Dritten Mann« floh.
Er ist in die Gruft der Michaelerkirche gegangen, wo neben Knochenbergen in Särgen, zum Teil geöffnet, mumifizierte Leichen liegen, die Gesichtszüge noch erkennbar und hier und da der Fetzen eines Kleides oder ein Rosenstrauch. Und in das Männerasyl an der Meldemannstraße, im Volksmund die »Hitlervilla« genannt, weil der nämlich dort von 1909 bis 1913 lebte. Und in die Leopoldstadt, wo Karl Berger jetzt wieder wohnt, der jüdische Remigrant, dessen Leben Roth aufgezeichnet hat in der »Geschichte der Dunkelheit«.
Vielleicht kam er ja durch Freud auf die ganze Geschichte. Die »fließenden Übergänge« wollte er beschreiben, »zwischen dem Sichtbaren und dem Unsichtbaren«, den »normal und krankhaft benannten Seelenzuständen«, wie Freud sagt. »In Wien«, meint Roth, »sind Tag und Nacht nur scheinbar voneinander getrennt.«
An den Seitenwänden seines Arbeitszimmers reihen sich in den Regalen, ordentlich, die Bücher, Kunstbände, Gesamtausgaben, ein paar Krimis auch; an der Wand hinter dem Schreibtisch lehnen Bilder der Künstler aus der psychiatrischen Klinik Gugging, über die Roth immer wieder geschrieben hat und die er liebt, die seltsamen Zeichenwelten August Wallas, die Kopffüßler Oswald Tschirtners. Auf dem Tisch, unter weiteren Büchern und Manuskripten, liegt der Titelblatt-Entwurf eines demnächst erscheinenden Materialienbandes zu den »Archiven«. Und ein Photo, auf dem sieht er schlanker aus als heute.
Später am Abend, den Stuhl hat er inzwischen auf die andere Seite des Schreibtischs gezogen, erzählt er Anekdoten von einer norddeutschen Dichterschule, von den Freunden in Hamburg, wo er mit einem Stipendium ein Jahr gelebt hat. In Deutschland wurde er schon in den siebziger Jahren hochgelobt, als »einer der bedeutendsten österreichischen Gegenwartsautoren neben Peter Handke und Thomas Bernhard«. Und er redet sich in Zorn über die Wiener Kritiker. Sie haben seinen Reportagenband »Eine Reise in das Innere von Wien« als alternativen - und ein wenig veralteten - Stadtführer bespottet, ihm nachgetragen, daß er in längst bekannten Geschichten wühle. Vielleicht wird man die »Archive des Schweigens« anders lesen, wenn die sieben Bände demnächst in einer Kassette erscheinen**.
Wenn er erzählt, sieht er jünger aus, angreifbar, und die Geschichten scheinen aus ihm herauszudrängen, er zwingt sie einem auf, mühelos Raum und Zeit überspringend. Auf den Cobenzl müsse man am Morgen, und »wissen Sie, daß am Steinhof, der psychiatrischen Klinik von Wien, einer der größten Krähenschlafplätze Europas ist, 30 000 Krähen kommen dahin in der Dämmerung«. ** Gerhard Roth: »Die Archive des Schwei- _(gens«. S. Fischer Verlag, Frankfurt am ) _(Main; insgesamt 2040 Seiten; 240 Mark. * ) _(Mit der wächsernen Lehrpuppe ) _("Mediceische Venus« im Josephinum in ) _(Wien. ) Und im Josephinum die Wachsfiguren müsse man anschauen, die schwangere Frau, die Organ-Präparate. Als Kind, in den Jahren kurz nach dem Krieg, hat er seinen Vater, einen Arzt, oft aufs Land begleitet, zum Hamstern und um bei Operationen zu assistieren. Später hat Roth selber Medizin studiert und das Studium abgebrochen, weil er die Familie, drei Kinder, ernähren mußte.
Als Kind war er oft krank. Einmal hatte er eine Fotolinse verschluckt, konnte nicht mehr sprechen und hat den Vater nur am Hosenbein gezupft. Der hat sofort verstanden und ihm das Leben gerettet, indem er ihn an den Füßen packte und auf den Kopf stellte. Mit dem Finger hat der Vater dann die Linse herausgeholt. Später hat Roth bei seinen Spaziergängen auf dem Land immer wieder fotografiert. Über 10 000 Bilder sind in seinem Archiv.
Joseph II. hat die Sammlung von Wachspräparaten in dem nach ihm benannten Institutsgebäude für die Geschichte der Medizin einst begründet, und unter der Leitung zweier italienischer Ärzte wurden sie gefertigt, Nachbildungen von Leber, Niere, Herz und Hirn, über 1000 Einzelstücke, aufbewahrt in Gläsern, dazu einzelne Figuren: den Muskelmann, den Gefäßmenschen. »Schauen Sie, wie ungeheuer echt die Linien aussehen, wie genau die einzelnen Fasern eingezeichnet sind. Die Ausbildung der Ärzte war ja damals miserabel, das waren bessere Handwerker, darum hat der Kaiser eine Akademie eingerichtet.« Joseph II., der ob seiner Fortschrittlichkeit und Aufgeklärtheit gerühmte Sohn Maria Theresias, brauchte Ärzte für seine Armee.
»Die österreichische Geschichte ist eine gewalttätige«, sagt Roth, »vielleicht die Geschichte überhaupt, nur daß alles verklärt und geschönt wird, und immer sind, in jedem Krieg, die anderen die Angreifer, die Barbaren.« In ihrem Glassarg, gleich neben dem Eingang, liegt die Mediceische Venus, blondes Haar, um den Hals eine Perlenkette, die Andeutung eines Lächelns. Die Bauchdecke ist abgehoben, die Organe sind bloßgelegt, und in einer wächsernen durchsichtigen Blase ist in der Tat ein winziger Embryo zu erkennen.
Das »Fundament der Wirklichkeit« nennt Roth, etwas zweideutig, das Wien-Buch und den Fotoband über die Steiermark ("Im tiefen Österreich"), die Anfang und Ende des Zyklus bilden. Aber die Wirklichkeit vermag an diesem Tag, auf dieser Ein-Tages-Expedition, schwer zu bestehen gegen die Bilder im Kopf. Er sei ein Wahrnehmungsmensch, er müsse alles anschauen, erklärt er, und je mehr man wisse, um so weniger sehe man. »Sind die Figuren im Josephinum nicht einfach schön?« Es gerät ihm, ob er will oder nicht, alles zum Symbol. Ein paar Blocks vom Josephinum entfernt, in der Berggasse 19, ist das Sigmund-Freud-Museum.
Nur die Krähen sind unzuverlässig. Die Dämmerung ist längst hereingebrochen über dem Steinhof, und noch andere, Touristen aus Deutschland, warten auf der Anhöhe, vor Otto Wagners Jugendstilkirche, vergeblich auf das Eintreffen der Vögel. Roth erzählt vom Verhalten der Krähen, daß sie immer eine Nachhut bilden, die sich um die Verletzten und Zurückgebliebenen kümmert. Als »riesigen Jahrmarkt aus Spiegeln, Ort roher Selbstbegegnung« beschreibt er in »Am Abgrund«, dem vierten Band, den Steinhof.
Schließlich geben die Krähen nach, in kleineren Schwärmen fliegen sie, lärmend und schwarzen Punkten gleich, zum Hügel hinauf. Über der Kirche schwebt ein schwarzer Papierdrachen. Ob man die Krähen damit vertreiben wolle, fragt Roth den Pförtner.
Er wollte in den »Archiven des Schweigens« auch die Geschichte der Tiere schreiben, ihre Schönheit und die Gewalt gegen sie. Im Kofferraum eines Autos habe er einmal fünf tote Füchse liegen sehen, der Jäger erklärte, sie seien tollwütig. Im »Stillen Ozean« ist die Tollwut dann zum Gleichnis geworden für die kaum unterdrückte Brutalität, die Intoleranz, nicht nur auf dem Land: »Österreich, eine Jagdgesellschaft«. Xaver Schwarzenberger hat das Buch später verfilmt.
Aufs Land war Roth 1978 gegangen wegen gesundheitlicher Schwierigkeiten, Herzproblemen vor allem. Seine Stelle im Rechenzentrum hatte er schon vorher aufgegeben, sich von der Familie getrennt, um schreiben zu können. Er mietete dann ein Haus und beendete die »Winterreise«, den Roman einer Identitätskrise, Hauptthema seiner Werke damals. Im selben Jahr bekam er den SWF-Literaturpreis und für die »Winterreise« reichlich schlechte Kritiken. Das brachte ihn auf die Idee, aus seinem nächsten Helden, Ascher im »Stillen Ozean«, einen Arzt zu machen, der in der Stadt einen Kunstfehler begangen hat.
Vielleicht könnte man an einem dieser Tage doch auch nach Schönbrunn fahren, wo das Habsburger-Märchen, jenes »Tu, felix Austria, nube«, noch immer lebendig ist, schlägt Roth vor. In einer Nachtbar spielt Opernmusik, Verdi. »Die Menschheit träumt«, denkt der Arzt Ascher im »Stillen Ozean«.
Die Stadt spielt mit und verwandelt sich allmählich in ein System von Zeichen, als mühe sie sich, aufs vollkommenste jener Beschreibung zu gleichen, die Gerhard Roth von ihr gegeben hat. Am Morgen, als der Fotograf ihn im Innenhof vor seiner Wohnung Am Heumarkt - einen Hof weiter hat Ingeborg Bachmann gewohnt - aufnehmen will, droht eine ältere Frau mit der Polizei. Das Fotografieren sei hier verboten. Roth ruft den Mieterschutz an, um sich seiner Rechte zu versichern. Noch am Nachmittag ist er erregt, immer wieder habe er bei seinen Recherchen solche Szenen erlebt - das Mißtrauen und die Boshaftigkeit der Leute.
Einen Film über die Bienen wollte er vorführen, die inzwischen schon so etwas wie seine Haus- und Wappentiere sind. Das Bild vom »Bienenmenschen«, der einen ganzen Schwarm auf sich fliegen läßt, ist häufig veröffentlicht worden, und auch in der Fernseh-Verfilmung des »Landläufigen Tods« kommt die Szene vor. Als er den Roman zu schreiben begann und nicht weiterkam, aus Verzweiflung Melvilles »Moby Dick« kopierte, über 100 Seiten, hatte ein Bienenzüchter vor seinem Haus 40 Stöcke aufgestellt, mit fast drei Millionen Bienen. Aus Angst und dann aus Neugier begann Roth nachzulesen und fand, daß die Bienen eines Stockes einen beweglichen und veränderlichen Organismus bilden, genannt der Bien. Das wurde sein Modell.
Das Videogerät steht in seiner anderen Wohnung, in der er lebt, durch den Flur getrennt von den Zimmern, in denen er arbeitet. Mehrmals am Tag geht er zwischen den beiden Wohnungen hin und her, die völlig gleich geschnitten sind. Auch in den »privaten« Zimmern sind Bücherregale, bis zur Decke, dazu ein großer Eßtisch, ein rotes Sofa, an der Wand ein Gedicht von Ernst Herbeck, dem vielleicht bekanntesten der Gugginger Künstler, der sich als Dichter Alexander nannte, berühmt geworden auch durch Heinar Kipphardts Roman »März«. Im vergangenen Jahr ist Herbeck gestorben. Das Gedicht geht über die Krähen.
In dem Film, den er vorführt, hat Roth selber die Rolle des Bienenmanns übernommen, er trägt einen Schutzanzug, und es waren, erzählt er, auch nicht ganz so viele Bienen. Und er zitiert darin ein paar Zeilen des tschechischen Dichters Jan Skacel: »Der Dichter setzt zur Wehr sich wie die Biene und schenkt das eigene Sterben dem, den er verletzt.«
Er will nicht mehr über sich reden, darum zeigt er noch mehr Filme, drei Stunden lang, ein Kampf beinahe, auch mit sich selber. Nach Gugging, am nächsten Morgen, will er auf keinen Fall mitkommen. Einen »Abschiedsschwindler« hat er eine seiner Figuren genannt.
In seinem Zimmer, das zugleich ein Kunstwerk und voll geheimer Zeichen ist, sitzt August Walla, dick und kahlköpfig, vor dem Fernseher. Auf Fragen reagiert er kaum. An den Wänden, an der Decke sieht man, wie auf all seinen Bildern: Kerzen, Kirchtürme, Teufel, vogelähnliche Gestalten, Schriftzeichen, »ÖVP.!«, »KPÖ.!«, Hammer und Sichel, Namen wie Adolf, August, eine Sonne. Walla, über 15 Jahre Patient in der Anstalt Gugging, muß sich die Gegenstände, Blechdosen, Schachteln anverwandeln, bemalt Straßen und Bäume, auch große Teile des »Hauses der Künstler« mit seiner Privatmythologie.
Seit 1981 gibt es dieses Haus, in dem, ein wenig abseits von den Klinikgebäuden und gleichsam zu erleichterten Bedingungen, derzeit 14 Patienten leben und arbeiten. Zum Kaffee kommen fast alle - nur Walla ist inzwischen weggegangen - in den hellen Speiseraum, wo an den Wänden ihre Bilder hängen, Johann Hausers rote Herzen, filigrane, an Giacometti-Statuen erinnernde Figuren des stillen und fast zerbrechlich wirkenden Oswald Tschirtner, die bunten Kühe von Franz Kamlander. »Eine andere Welt mit einer anderen Zeit«, heißt es in Roths Reportage über das »Haus der schlafenden Vernunft«.
Roth wollte immer »schreiben wie ein Verrückter«. Im »Landläufigen Tod« hat er versucht, eine Welt jenseits des »Stumpfsinns der Normalmenschen« zu erfinden, eine Grenzüberschreitung, seine radikalste. Franz Lindner, sein Held, der stumme Sohn eines Bienenzüchters, der Stimmen hört und sich mit Zetteln verständigt und der immer wieder für längere Zeit in der Anstalt ist, will darin die Bibel neu erzählen: »Beim Erwachen sind die Wälder aus Kupfer/ Eisberge schwimmen im Zimmer und bersten durch die Wände . . .«
Und einen ganzen Kosmos erschafft er aus Märchen, Mythen, Wahnvorstellungen, immer wieder mit Realitätspartikeln durchsetzt, Geschichten aus dem Dorf. Woran Ascher, der mikroskopierende Arzt, scheiterte, das gelingt diesem Franz Lindner: in der Schneeflocke unter dem Vergrößerungsglas die Alpen zu entdecken, die Hieroglyphen der Geschichte zu entziffern.
Am Ende konnte Roth gar nicht mehr aufhören, so zu denken wie sein Held Franz Lindner. Am Ende verdingt sich Lindner an den Zirkus. »Ein wenig ist man in der Situation eines Vogels im Käfig«, sagt Roth, »der Autor sitzt im Käfig seiner Sinnsysteme.« Er kann nur versuchen, aus der Negation des Bekannten das Unbekannte zu gewinnen, durch bewußte Destruktion von Wirklichkeit. Am Ende bleibt er immer mit einem Bein auf der Erde.
Im »Untersuchungsrichter« (1988), den er selber die »Geschichte eines Entwurfs« nennt, hat Roth dann, durch die Fiktion eines Erzählers kaum getarnt, noch einmal über seine Selbstzweifel und das stets gegenwärtige Scheitern geschrieben. Immer wieder verwirft er darin die Möglichkeiten zu einer Geschichte, mischt in das, was gegen seinen Willen sich zu runden droht, Reflexionen über das Schreiben, über die eigene Existenz. Er will sich »verraten«, ausbrechen aus dem »Romangefängnis, dem Stilgefängnis, dem Denkgefängnis«. Das Irrenhaus, sagt er, wäre ein Ort, an dem man endlich der sein könnte, der man ist.
Auf dem jüdischen Friedhof in der Seegasse, den man nur durch die Eingangshalle eines Altersheims betreten kann, stehen inzwischen wieder die alten Grabsteine. Während der Nazizeit waren sie zum Teil auf dem Zentralfriedhof unter einem Erdhügel versteckt.
Karl Berger, der nach dem »Anschluß« Österreichs emigrieren mußte, erklärt die Zeichen auf den rosa Granitsteinen, ein Fisch bedeutet, daß hier ein Dibbuk, eine wandernde Seele, begraben liegt. Unter der Überschrift »Identität« heißt es in der »Geschichte der Dunkelheit": »Damals wäre mir lieber gewesen, kein Jude zu sein . . . Ich wußte nicht mehr, was ich war. War ich Österreicher? Tscheche? War ich Jude? Oder schon Engländer? Irgend etwas mußte ich doch sein, sagte ich mir.«
Berger ist, nachdem er lange in England in der Emigration gelebt hatte, in ständig wechselnden Berufen, auch in Israel sich nicht zurechtfinden konnte, mit seiner zweiten Frau, einer Deutschen, nach Wien zurückgekehrt. Heute wohnt er wieder in der Straße, in der er geboren ist. Sogar die Hausnummer ist dieselbe. Er bereut es, zurückgekehrt zu sein. Sein Sohn ging, wie er, nach Israel, kam nach Wien zurück. Vor ein paar Jahren hat sich der Sohn, 20 gerade, erschossen, in einem Altersheim, wo er für die »Security« arbeitete.
»Bergers Geschichte«, sagt Roth, »sollte sich zusammensetzen, wie die Punkte einer Schwarzweißfotografie, Satz für Satz, Kapitel für Kapitel.« Alle falsche Rührung sollte daraus verbannt sein, und jedes Kapitel - viele sind nur ein paar Zeilen kurz - hat er mit einer Überschrift versehen, Stationen eines zerrissenen, zerstörten Lebens.
Er habe versucht, in den »Archiven des Schweigens« für jede Person eine eigene Sprache zu finden, für den Arzt Ascher, den verrückten Lindner, den Untersuchungsrichter, den Mörder Jenner, für Berger. Und jede Geschichte sollte in Wien enden, im Anatomischen Institut, im »Haus der Künstler«, im Untersuchungsgefängnis, dem »Grauen _(* Auf dem jüdischen Friedhof in der ) _(Wiener Seegasse. ) Haus«, und in der Leopoldstadt, an jenen Orten, »wohin die Gesellschaft ihre Außenseiter verbannt, worauf sie ihre geheimen Ängste richtet«.
Er hat vorgeschlagen, ein paar Fotos im Österreichischen Staatsarchiv zu machen. Vielleicht fehlte das noch in seinem Wienbuch, das »Gehirn der Stadt«, das Zentrum der Erinnerung, der Identität. 23 Kilometer Akten, erklärt der Archivar, reihen sich hier, auf elf Stockwerken, vom 9. Jahrhundert bis 1918.
Roth fragt nach, in welcher Sprache die Akten verfaßt seien. Und ob sie denn wirklich vollständig seien? Schließlich gründete die ganze Macht der Habsburger auf einer Urkunden-Fälschung. Der Archivar korrigiert ihn freundlich. Daß es keine objektive Wahrheit gebe, müsse er doch am besten wissen.
In seiner Wohnung öffnet Roth Schubladen, führt seine Notizbücher vor, die Fotos. »Das Schreiben beginnt mit einem Akt der Selbstüberschätzung, danach ist man in Sicherheit.« Am Abend fährt er nach Graz. Sein Vater liegt im Krankenhaus. Am nächsten Tag will er wiederkommen. Dann könnte man endlich nach Schönbrunn fahren.
Auf dem Umschlag der »Geschichte der Dunkelheit« ist, ein Entwurf von Gerhard Roth, ein Himmel-und-Hölle-Spiel gezeichnet. Man spielt es, indem man auf ein Feld einen Stein wirft und dieses dann, auf einem Bein, überspringt. Die Hölle muß man natürlich auch überhüpfen. Nur im Himmel steht man auf zwei Beinen.
** Gerhard Roth: »Die Archive des Schweigens«. S. Fischer Verlag,Frankfurt am Main; insgesamt 2040 Seiten; 240 Mark. * Mit derwächsernen Lehrpuppe »Mediceische Venus« im Josephinum in Wien.* Auf dem jüdischen Friedhof in der Wiener Seegasse.