Zur Ausgabe
Artikel 46 / 80

IM RHENISCHEN UTOPIA

aus DER SPIEGEL 45/1966

Reinhard Baumgart, 37, und Heinrich Böll, 48, sind nicht nur als Roman-Autoren (Baumgart: »Der Löwengarten«, »Hausmusik") und als gelegentliche SPIEGEL-Beiträger Kollegen. Baumgart wird im Wintersemester 1966/67 die Poetik-Gastdozentur an der Universität Frankfurt übernehmen, auf der Böll im Sommersemester 1964 seine inzwischen auch als Buch erschienenen Vorlesungen »Zu einer Ästhetik des Humanen in der Literatur« hielt.

Von einem Buch, das ist nahezu Gesetz,

wird als erstes der Titel gelesen. Als

ich diesen hier las, fiel wie ein Groschen das erste Vorurteil in mein Bewußt- oder Unterbewußtsein. Denn schon Bölls letzter Buchtitel ("Entfernung von der Truppe") war fast ein Programm. Auch dieser Autor, so gab er zu verstehen, wollte nicht mehr für jeden politisch-moralischen Fronteinsatz zur Verfügung stehen auf Abruf. »Ende einer Dienstfahrt« klang ähnlich genug. Ich war also vorbereitet, und zwar schlecht.

Als zweites wußte ich nämlich auch den rohen Inhalt des Buches im voraus, ein weiterer Fehler. Zwei Tischler, so wußte ich, ein Vater und ein Sohn, haben auf rheinischem Acker einen Bundeswehrjeep in Brand gesetzt, was aber als Happening, nicht als Sabotage gemeint war, und dieser Fall wird nun, für die Dauer des Buches, einen Tag lang in einem Ort namens Birglar vor Gericht sehr versöhnlich verhandelt. Zwei Böllsche Käuze, gemütvoll und aufsässig, ein geringen Sachschaden anrichtender Anarchismus - das glaubte ich mir ausmalen zu können. Nur der als sanft versprochene Prozeßausgang ließ mich schon stutzen.

Tatsächlich exponiert Böll sehr behäbig und zu genüßlich, was ihm als Handlungsrohstoff eingefallen ist, und wer das im voraus weiß, wird zunächst mit Langeweile bestraft, also auch ich. Zur Ungeduld kam noch Ärger. Dieser Kleinstadtprozeß, die harmlose Behandlung eines harmlosen Affronts gegen die Obrigkeit, sah das nicht aus wie ein aufgewärmter Scherz aus der oder über die Kaiserzeit? Verglichen damit kam mir der »Biberpelz« geradezu wild, Heinrich Spoerls »Maulkorb« ähnlich schmunzelhaft vor. Zu bescheiden und zu drastisch, meinte ich, wurden da auf- und abtretende Figuren umrissen, in billiger Volksstückmanier: hier der Laffe, dort der Biedermann. Sympathie hat nicht schwertwählen.

Wenn, wie Aby Warburg behauptet hat, der liebe Gott im Detail steckt, so war der bei Böll offenbar ein lieber Opa. Etwas wie Kerzenschein fällt schummrig auf Prozeßszenen, die man lieber Sonnen- oder Neonlicht ausgesetzt sähe. Sorgsam, fast betulich, wird zwar alles motiviert, auch, daß diese Brandstiftung an Bundeswehreigentum Ganz ohne Presse, fast unter Ausschluß der Öffentlichkeit verhandelt wird. Trotzdem häufen sich Widersprüche. Schon beginnt sich ein Schleier von Unwahrscheinlichkeit um den Gerichtssaal zusammenzuziehen.

Dabei, und genau dieser Widerspruch reizte mich nun, sind doch die einzelnen Figuren so triumphierend »richtig« gesehen. Der rheinische Menschenschlag, der da zu Wort kommt, wird mit stiller Freude, fast Affenliebe porträtiert. Wäre das aber, fragte ich mich, die Aufgabe der Literatur, diese milieugerechte Richtigkeit der Beobachtung? Wollen wir, will ich aus ihr wirklich erfahren, wie die typische Justizwachtmeistersfrau Kaffee aufgießt? Oder wäre solche trist akkurate Verdoppelung der Welt durch Sprache, diese Anpassung der Wörter ans leidig Bekannte, nicht genausogut oder besser durch Reportage zu leisten?

Während ich mit solchen Skrupeln noch beschäftigt war, hatte in Bölls Prozeß

schon die Mittagspause eingesetzt. Und langsam, jetzt erst begann ich dem Erzählten zu glauben. Was war geschehen? Die Erzählung verläßt den Verhandlungsraum und folgt dem Gerichtspersonal, den Zeugen, Angeklagten, Zuhörern zum jeweiligen Mittagessen, sie zerstreut sich über die Stadt. Ums Bild also beginnt der Rahmen zu wuchern. Während im Prozeßbericht vieles nach Schablone, nach Justizschwank aussah, kann sich Böll jetzt auf kein Muster mehr verlassen, nur noch auf die Figuren selbst. Die Handlung ruht, doch die Erzählung erreicht erste Höhepunkte.

Zunächst steigt nur ihr Informationswert. Über einen Dorfpfarrer etwa, den aus dem Bayerischen herüberversetzten Staatsanwalt oder einen christkatholischen Oberleutnant erfahren wir jetzt Einzelheiten, die nicht mehr dem Prozeß- und Handlungsschema dienen, die für sich wichtig genommen werden. Ab und zu aber verliert die Erzählung auch jede treuherzige Bodenhaftung. Da schält sich eine alte Dame in ihrer Küche gemütlich einen Apfel, und dabei fällt ihr nun« sozusagen aus dem Stand, ein: »Nichts, nichts, nichts würde bleiben als eine Handvoll, ein Händchen voll Staub

- soviel, wie in einen Salzstreuer geht.«

Diese Stimmung, diese heitere Hysterie bleibt nicht am Rande. Als das Gericht wieder zusammentritt, greift sie auf fast alle Beteiligten über. Sie scheinen, sicher im Auftrag des Autors, der höheren Unwirklichkeit ihres Daseins hier im Buch, der Unwirklichkeit dieses Prozesses heimlich innezuwerden. Immer aufdringlicher wird auch der Konjunktiv der indirekten Rede, in dem alles Gesagte erscheint. Klingt es nicht merkwürdig dünn, wie etwas nur Behauptetes?

Am Ende sagt der einzige Ortsfremde, ein in höherem Auftrag zuhörender Amtsgerichtsrat, den erlösenden Satz: ihm nämlich kommt nun »fast alles in Birglar verdächtig vor«. Das Verdächtigste schien mir jetzt, daß dieses spätsommerlich oder frühherbstlich sonnige Örtchen überhaupt im Rheinland, ja auf dieser Erde liegen sollte. In Wirklichkeit (was hier heißt: in Unwirklichkeit) liegt es irgendwo in Utopia, auf deutsch: in Nirgendwo.

Denn gegen Ende schimmern die Masken der Figuren immer durchsichtiger. Sitzt etwa in Gestalt der beiden Happening-Brandstifter hier die Kunst leibhaftig auf der Anklagebank? Spielt der nachsichtige Richter gar den Stellvertreter eines utopisch lieben Gotts? Vorübergehend scheint es so, dann verblaßt der Goldhintergrund wieder und man riecht wiederum nur rheinische Amtsstubenluft. Der Prozeß, heißt es aber hinterhältig, wird in eine Revision gehen.

Mit Bedacht, ja Genuß hat sich Böll offenbar zwischen die Stühle gesetzt. Der listigen Unscheinbarkeit seiner Erzählweise werden die Liebhaber avancierter Schönschreibkunst kalt den Rücken kehren. Den Liebhabern des Engagements dagegen muß das Buch vorkommen wie ein redseliges Schweigen. Zwischen den Stühlen aber sitzt Böll mitten im Publikum. Das Wort ist heruntergekommen, aber so könnte heute eine »volkstümliche« Erzählung aussehen, eine, die sich weder mit dem Zeigefinger noch mit Herz anbiedert, deren literarischer Verstand sich tief 'unter einer trockenen Oberfläche verbirgt.

Womit ich, statt nur einen Lesebericht zu geben, scheinbar wieder auf Literaturkritik verfalle. Die könnte nun Kunstgriffe und Moral testen, dann fragen: War's ein Fortschritt für Böll, für die deutsche Literatur, für Literatur überhaupt? Doch was diese gutachtende Attitüde angeht, so ist auch mir im Augenblick sehr nach »Entfernung von der Truppe« zumute. Wie gesagt, erst war ich gelangweilt, dann verwirrt, schließlich beeindruckt, und kein Zweiplus oder Dreiminus läßt sich daraus errechnen. Auf die dringende Frage, ob das nun gut sei oder schlecht oder irgend etwas dazwischen, würde ich antworten: Man soll es lesen, unbedingt.

Baumgart

Heinrich Böll: »Ende einer Dienstfahrt«

Verlag

Kiepenheuer & Witsch

Köln

252 Seiten

16,80 Mark

Reinhard Baumgart
Zur Ausgabe
Artikel 46 / 80
Die Wiedergabe wurde unterbrochen.
Merkliste
Speichern Sie Ihre Lieblingsartikel in der persönlichen Merkliste, um sie später zu lesen und einfach wiederzufinden.
Jetzt anmelden
Sie haben noch kein SPIEGEL-Konto? Jetzt registrieren