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GEHIRNENTZÜNDUNG Immer negativ

aus DER SPIEGEL 39/1964

Der Krieg gegen die Moskitos wurde mit allen Waffen geführt: Hubschrauber streuten Insektenvernichtungsmittel auf Kanäle und sumpfige Wiesen, Löschzüge der Feuerwehr sprühten das Gift auf unbewohnte Grundstücke, Kinder zielten mit Spritzpistolen auf einzelne Stechmücken.

Tausende von Pfadfindern durchstreiften die Wohnviertel, um nach Gartenteichen, Regenwassertonnen und anderen Kleinstgewässern zu fahnden, die den Moskitos als Brutstätte dienen konnten. Vor den Feuerwachen standen Hausbesitzer Schlange, um in alten

Konservenbüchsen und Einmachgläsern insektentötende Mittel in Empfang zu nehmen, die kostenlos verteilt wurden.

Die Millionenstadt Houston in Texas verteidigte sich gegen eine Seuche: gegen die St.-Louis-Enzephalitis, eine von Viren ausgelöste und von Insekten übertragene Gehirnentzündung*.

Letzte Woche waren die Symptome der unheimlichen Krankheit bereits bei mehr als 500 Einwohnern Houstons registriert worden. Die Opfer der Epidemie litten an Sprach- und Bewegungsstörungen, Gliederzittern und Lähmungen, sie wanden sich in Krämpfen, wurden von Schlafsucht befallen oder dämmerten im Koma. 20 Patienten waren der Krankheit erlegen. Viele Kranke werden lebenslänglich gezeichnet sein.

»Charakterveränderungen, geistige Defekte, Epilepsie ...«, so notierte der Virusforscher Professor Wolfdietrich Germer von der Freien Universität Berlin in seinem Lehrbuch »Viruserkrankungen des Menschen«, können ebenso bleibende Folgeerscheinungen der Seuche sein wie »Blindheit, Taubheit Schlafstörungen sowie parkinsonistische Züge ...«

Gehirnentzündungen wurden auch außerhalb Houstons beobachtet - in anderen Städten von Texas, in den US -Staaten Florida, Illinois und Arizona.

»Wir haben jetzt die zweitschlimmste

Enzephalitis-Epidemie, die das Land jemals gehabt hat«, erklärte ein Wissenschaftler des amerikanischen öffentlichen Gesundheitsdienstes.

Enzephalitis-Epidemien wüten auch in Ostasien: In Südkorea war vorletzte Woche die Zahl der Erkrankten auf über 2000, die Zahl der Toten auf mehr als 500 angestiegen, Japan meldete zu Beginn des Monats bereits 350 Todesopfer.

Epidemien dieser Art flackern in vielen Teilen der Welt immer wieder auf. Schon Hippokrates, der griechische Urvater der Medizin, kannte im fünften Jahrhundert vor Christus die Seuche. Doch erst seit wenigen Jahrzehnten kennen die Mediziner die Ursachen:

Die Krankheit wird durch eine Reihe von Viren mit ausgeprägten geographischen Vorlieben ausgelöst. So unterscheiden Seuchenforscher unter den Erregern der Virus-Enzephalitis eine fernöstliche, eine eurasische, eine afrikanische und eine amerikanische Gruppe.

Zu jeder Gruppe gehören mehrere Virustypen, die wiederum jeweils bestimmte Gebiete bevorzugt heimsuchen. In den Vereinigten Staaten wurden bislang drei Typen der Gehirnentzündung beobachtet:

- Die »westliche-Pferde-Enzephalitis« tritt vor allem in den westlichen Staaten der USA auf«.

- Die »östliche Pferde-Enzephalitis« ist auf bestimmte Bezirke an der amerikanischen Atlantikküste und am Golf von Mexiko beschränkt.

- Die »St.-Louis-Enzephalitis, die in Houston grassiert, bevorzugt die US -Staaten westlich des Mississippi, das untere Ohio-Tal und Florida; sie wurde nach einer Epidemie benannt, die im Jahre 1933 vor altem die Stadt St. Louis (US-Staat Missouri) heimsuchte. Damals litten 1130 Amerikaner an der Krankheit - 201 starben.

Genaugenommen, erläuterte Dr. Raymond White, ein Fachreferent der »American Medical Association«, sei die von Insekten übertragene Enzephalitis eher eine Krankheit der Vögel und der kleinen Säugetiere als des Menschen. White: »Die Übertragung auf den Menschen ist in gewissem Sinne eine Panne.« Denn die Insekten, die Enzephalitis -Viren übertragen - vor allem eine Reihe von Moskito-Arten, aber auch Zecken, Milben und anderes Kerbgetier -, verschmähen normalerweise den Menschen als Nahrungsquelle.

Nimmt jedoch die Zahl der von Viren befallenen Vögel und Kleinsäugetiere zu und treten gleichzeitig die übertragenden Insekten in verstärktem Maße auf, häufen sich nach White auch die Fälle, bei denen »kurzsichtige Insekten ... die irrtümlich einen Menschen stechen, Viren übertragen«. Es kommt zu den sporadisch auftretenden Epidemien.

Den infizierten Patienten können die Ärzte wenig helfen. »Eine spezifische Behandlung der Virus-Enzephalitiden«, so heißt es in Germers Lehrbuch der menschlichen Viruserkrankungen lakonisch, »gibt es nicht.« Die Seuchenbekämpfung in Houston und anderen Epidemie-Gebieten konzentriert sich denn auch auf einen Vernichtungsfeldzug gegen die virusübertragenden Moskitos.

Die Wirksamkeit dieser Methode läßt freilich zu wünschen. Einmal kann diese Art der Bekämpfung stets erst dann aufgenommen werden, wenn die Seuche bereits grassiert. Zum anderen wird die Virus-Enzephalitis - anders als die Malaria, die in manchen Gebieten der Erde durch Bekämpfung einer einzigen Moskito-Art ausgerottet werden konnte

- von zahlreichen Insektenarten übertragen, und keineswegs nur von Moskitos. Als Virus-Reservoir dienen vor allem zahlreiche Vogelarten - die Vögel sind nur Träger der Viren, ohne selbst zu erkranken - sowie verschiedene Säugetiere.

Fachleute sehen daher nur eine Möglichkeit zu durchgreifender Bekämpfung der Krankheit: ständige Überwachung der tierischen Virusträger und überträger, bevor eine Epidemie ausbricht. Dr. White: »Wenn es erst einmal möglich ist vorherzusagen, wo und wann die Enzephalitis zuschlagen könnte, dann würde es auch möglich werden, konzentrierte Abwehrmaßnahmen zu treffen, um sicherzustellen, daß die Krankheit nicht 'zufällig' auf den Menschen übertragen wird.«

Genau das hatte ein Virologe der Medizinischen Hochschule in Houston, Dr. Joseph Melnick, vor vier Jahren angeregt. Houstons Sumpfgebiete, warnte Melnick, seien ein ideales Brutgebiet für virusübertragende Moskitos. Der Wissenschaftler forderte die Behörden auf, in Houston ein virologisches Laboratorium zur Überwachung von Enzephalitis-Viren einzurichten.

Doch die Stadtväter glaubten, sich die Ausgaben sparen zu können. Immerhin wurden jahrelang Moskitos und Blutproben von Geflügel an ein Laboratorium in Austin geschickt, das feststellen sollte, ob die Tiere von Enzephalitis -Viren befallen seien. In diesem Jahr stellte Houston jedoch die Sendungen ein.

Ein Sprecher der Stadtverwaltung begründete die Abschaffung der Vorsichtsmaßnahme: »Die Tests kamen immer mit negativen Ergebnissen zurück.«

* Neben den direkt von Viren ausgelösten und von Insekten übertragenen Gehirnentzündungen gibt es auch Enzephalitis-Erkrankungen, die als Komplikation verschiedenster Infektionskrankheiten, wie Masern oder Mumps, Fleckfieber oder etwa Typhus auftreten.

** Da der Krankheit zahlreiche Pferde zum Opfer fielen, wurde sie zunächst für eine Pferdekrankheit gehalten.

Moskito-Bekämpfung in Houston: Von zweifelhaftem Wert

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