SCHALLPLATTEN / NEU IN DEUTSCHLAND In der Narkose
Als Aristide Bruant, der erste moderne Chansonsänger und politische Kabarettist, nicht mehr im »Chat Noir« auf dem Montmartre »die Anklage der Recht- und Besitzlosen aus den Gefängnissen und Arbeitshäusern« sang, als Yvette Guilbert, die in den Café-Concerts zynisch, mit leidenschaftlich-hysterischer Stimme Farcen, Legenden und Balladen vortrug, verstummt war -- da dämmerte das französische Chanson wie in einer Narkose dahin:
In den »Folles Années«, das macht die Music-Hall-Serie deutlich, hatten die Franzosen für die Volkskunst der Cabarets und Café-Concerts nicht mehr viel übrig; sie zogen die Revuen à la Folies-Bergère vor, wo Joséphine Baker im Bananenröckchen tanzte (CCTX 240 363), Lucienne Boyer »Parlez-moi d'amour« sang (CCTX 240 354) und die »Chanteurs de charme«, wie Jean Lumière (CHTX 240 352), Jean Tranchant (PTX 40 233) und Tino Rossi simple, sorglose Couplets mit stereotyp wiederkehrenden Liedzeilen vortrugen. Die Stars unter diesen Entertainern waren die Mistinguett und Maurice Chevalier.
Die Mistinguett, als »Königin der Pariser Revuetheater« gefeiert, sang mit plebejischem Charme und Mutterwitz rosige Liedchen von Paris und von den armen Pariserinnen, die vom Glück und Reichtum träumen; eine richtig gute Sängerin war die »Miss von Paris« jedoch nicht -- diese Schallplatten -Wiederveröffentlichung beweist es (CCTX 240 358). Doch sie hatte andere Vorzüge, an denen sich die in jenen Tagen so amtisierbesessenen Franzosen mehr ergötzten: schöne lange Beine und soviel Sex-Appeal wie Brigitte Bardot.
Auch Maurice Chevalier, der zeitweilige Revue- und Lebenspartner der Mistinguett, als größter Show-Techniker der Music-Hall unumstritten, hat nie jene Bedeutung erreicht, die ihm die verklärte Legende zuschreibt: Der »Playboy of Paris« mit dem Strohhut und dem Lächeln des pseudo-mondänen Romme à femmes, bevorzugte meist Texte, in denen die »absolute Leere gähnte« (Boris Vian). Aber Chevalier wollte ja auch »nie etwas anderes als mein Publikum erheitern«, und zwar mit »Liedern, die man nachsingen kann und die entspannen« (HTX 40 356/CHTX 240 355).
Ohne je vulgär zu werden, entspannte der einstige Akrobat, Puppenmaler, Elektriker, Metallstecher, Drucker und Verkäufer sein Publikum nahezu 60 Jahre lang mit Charme, Grotesken, gesungenem Lustspiel und getanztem Chanson und natürlich immer wieder mit dem Song von Valentine, dem Mädchen mit den kleinen Brüsten, die man so gut abtasten kann.
Einsichtig gestand Chevalier: »Ich fühle mich eher mit den Zirkusleuten als mit den Schauspielern verwandt.«