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ANTISOWJET-ROMAN In Stalins Wanst

aus DER SPIEGEL 21/1962

Am 29. September 1960 ging bei Nikita Chruschtschow im Kreml ein Postpaket aus Leningrad ein. Inhalt: das Manuskript eines Romans mit dem Titel »Das ungesungene Lied« und ein Brief des Autors Michail Nariza.

Der Schriftsteller gab dem Ministerpräsidenten zu verstehen, daß es ihm gelungen sei, eine Kopie seines Romans in den Westen zu schaffen. Er forderte Chruschtschow auf, das Werk in der Sowjet-Union drucken zu lassen; andernfalls begehrte er, Rußland mit seiner Familie verlassen zu dürfen.

Nariza schrieb an Chruschtschow: »Den Kapitalismus betrachte ich als ein unmoralisches und zersetzendes System, aber das, was Sie als Sozialismus bezeichnen, ist nur eine Abart des Kapitalismus... Natürlich glaube ich nicht, daß die Machthaber der kapitalistischen Welt' mit großem Vergnügen nach meinem Roman greifen werden, aber dort gibt es wenigstens eine gewisse Freiheit für geistige Betätigung.«

Und weiter: »Ich weiß nicht, ob es Ihnen schwerfallen würde, sich von uns zu trennen; wir jedenfalls würden ohne das mindeste Bedauern auf die Errungenschaften des Sozialismus verzichten.«

Der Adressat antwortete nicht. Brief- und Romanschreiber Nariza wurde im Oktober 1961 in Leningrad festgenommen und blieb bis heute in Haft. Sein von Chruschtschow wohl weniger verbotenes als verschmähtes, wenn nicht überhaupt ignoriertes »Ungesungenes Lied« indes soll im nächsten Monat deutsch in der Deutschen Verlags-Anstalt Stuttgart erscheinen. Es wird die erste Buchpublikation des bislang weithin unbekannten russischen Autors sein.

Michail Alexandrowitsch Nariza, 53, ursprünglich Bildhauer und zeitweilig Dozent an der Leningrader Kunstakademie, unter Stalin jahrelang in Gefängnissen und Zwangsarbeitslagern inhaftiert, 1957 rehabilitiert und dann wieder in Leningrad tätig, hatte seinen Roman »Das ungesungene Lied« 1952 zu schreiben begonnen und Anfang 1960 beendet.

Narizas Romanheld Anton, mit dessen Kindheit im zaristischen Rußland das stark autobiographische Werk beginnt, verliert nach seiner willkürlichen Verhaftung durch Stalins NKWD den Glauben an das sowjetische Regime. Beim Transport ins Lager befreundet er sich mit dem überzeugten Antistalinisten Wolschin. Anton stirbt im Lager, und Wolschin nimmt sich nach seiner Entlassung der Familie Antons an.

Der Roman - Motto: »Dreifacher Mörder, wer den Gedanken mordet (Romain Rolland)« - endet bei Ausbruch des Zweiten Weltkriegs. Wolschin muß an die Front. Im Transportzug läßt Autor Nariza die Rotarmisten meditieren: »Wieso ist Hitler schlechter als Stalin? Wofür muß man leiden und sterben?« Wolschin denkt: »Auch ich muß über deutschen Stacheldraht, durchs Feuer und über Minen mit Hurra für Stalin. Und gerade diesem Schurken möchte ich das Bajonett in den Wanst bohren.«

Im August 1960 steckte Nariza sein nicht mit vollem Namen gezeichnetes Romanmanuskript im Leningrader »Eremitage«-Museum einer französischen Touristin zu. Die Fremde erschrak und ließ das Päckchen fallen. Nariza und die Französin wurden festgenommen, konnten sich aber bei der Polizei herausreden

Einige Wochen später, am 25. September 1960, gelang es dem Autor, sein Manuskript zwei am Newa-Ufer flanierenden westdeutschen Touristen unauffällig in die Hand zu drücken. Im Hotel lasen die Westdeutschen auf dem Umschlag des Päckchens einen in Deutsch, Englisch, Französisch und Russisch abgefaßten Vermerk:

Ich bitte dieses Manuscript aus unserem Staat (und anderen »socialistischen« Ländern) wegzubringen Wenn Sie dazu nicht den Willen oder Gelegenheit und Möglichkelt haben, bitte es zu verbrennen keinen von socialistischen Untertanen zu zeigen, und vom Diebstahl zu bewahren,

Die westdeutschen Rußlandreisenden brachten die unfreiwillig empfangene literarische Konterbande in die Bundesrepublik, überstellten sie dem Rußlandkenner Klaus Mehnert ("Der Sowjetmensch") und verbürgten sich notariell an Eides Statt für die Authentizität des Manuskripts und die Wahrheit ihres Berichts. Mehnert gab das Manuskript an die in Frankfurt erscheinende russische Emigrantenzeitschrift »Grani« (Grenzen) weiter.

»Grani« veröffentlichte den Nariza -Roman im Juli 1961 in russischer Sprache unter dem Autorenpseudonym »M. Narymow« mit einer Nachbemerkung in der sich der Verfasser jede Textänderung verbat und »von vornherein« auch jede Adaptierung des Romans - »Film, Theater, Oper usw.« - untersagte.

Die Emigranten ahnten nicht, daß der von ihnen notdürftig als »Narymow« kaschierte Nariza, offenbar um jeden Preis auf Geltung erpicht, sich unterdessen keck dem Kreml-Herrscher Chruschtschow offenbart hatte.

Als Chruschtschow nichts von sich hören ließ, richtete Nariza ein förmliches Gesuch um Auswanderungserlaubnis an den Obersten Rat der UdSSR. Im Mai 1961 wurde er von der zuständigen Behörde in Leningrad dazu vernommen und nach den Gründen seines Emigrationsbegehrens gefragt. Der Schriftsteller-Bildhauer antwortete, er vermisse in der Sowjet-Union die künstlerische Freiheit. Daraufhin erklärte die Behörde, der Antrag könne erst nach Entrichtung der bei fünf auswanderungswilligen Familienmitgliedern vorgeschriebenen Gebühr von 250 Rubel (1100 Mark) bearbeitet werden. Nariza konnte nicht zahlen.

Im Juli druckte »Grani« in Frankfurt das »Ungesungene Lied«; im Oktober 1961 wurde Autor Nariza in Leningrad verhaftet und auf seinen Geisteszustand untersucht. Narizas Sohn Peter, der in der Kunstakademie als Modell beschäftigt war, verlor seine Stellung und unternahm einen - erfolglosen - Selbstmordversuch.

Inzwischen gelangte auch eine Kopie von Narizas Brief an Chruschtschow in den Westen. Die »Grani«-Redaktion machte Brief und Schicksal Michail Alexandrowitsch Narizas unlängst in Paris publik. Nun wurde das Objekt für die westlichen Büchermacher interessant. Der deutschen Ausgabe des Nariza-Romans, die Anfang Juni in Stuttgart erscheinen soll - Übersetzerin Irene Neander ist noch bei der Arbeit -, werden französische und englische Ausgaben bald folgen. Westdeutsche Zeitungen avisierten schon einen neuen Fall Pasternak.

In seinem Brief an Chruschtschow hatte Michail Alexandrowitsch, frei von Furcht und Selbstunterschätzung, den Kreml-Chef vorsorglich gewarnt, das »Ungesungene Lied« etwa mit politischen Argumenten abzulehnen. Nariza an Nikita: »Es wäre doch viel einfacher zu sagen, der Roman sei schlecht und die Aufmerksamkeit des Volkes und die Druckkosten nicht wert. Wenn Sie sich so weit erniedrigen, dieses Argument zu gebrauchen, kann ich Ihnen die 'Unkosten' ersparen.«

Nicht Chruschtschow freilich, sondern der englische Ostexperte Victor Zorza urteilte (im »Guardian") über Narizas Werk: »Der Roman... ist keineswegs ein großes Kunstwerk. Es ist durchaus denkbar, daß ein unvoreingenommener Verleger ihn wegen Mangels an literarischem Wert ablehnen könnte.«

Sowjet-Autor Nariza

Konterbande für die Bundesrepublik

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