FASER-OPTIK Indischer Seiltrick
Im Hörsaal der Medizinischen Universitätsklinik Erlangen waren zwei Fernsehschirme aufgebaut. 120 Ärzte sahen ein faszinierendes Programm: eine Live-Sendung aus dem Magen eines Patienten.
Jede Schleimhautfalte, jede Muskelbewegung des Verdauungsorgans war auf den Bildschirmen deutlich zu erkennen. Den Zuschauern - es waren Teilnehmer eines Fortbildungskurses für Magen- und Darmspezialisten - bot sich ein anschaulich-präzises Bild vom Mageninneren, wie sie es bis dahin nie hatten erblicken können.
Mit diesem Originalbericht aus dem Menschenleib demonstrierten die Erlanger Kliniker Professor Dr. Norbert Henning und Privatdozent Dr. Klaus Heinkel kürzlich ein neues optisches Hilfsmittel der Magenspiegelung: das sogenannte Bildleitkabel.
Die Bezeichnung gilt einem biegsamen Stab, in dem sich Licht leiten läßt wie Wasser in einem Schlauch - und zwar so wohlgeordnet, daß ein Bild von einem zum anderen Ende transportiert werden kann. Als Transportkanäle fungieren dabei feine Glasfasern von nur wenigen Tausendstel Millimeter Durchmesser. Vieltausendfach gebündelt, erweisen sich die Fasern als geradezu idealer Bildleiter.
Das Bildleitkabel etwa, das die Erlanger Wissenschaftler bei ihrem Fernseh -Experiment benutzten, enthielt 150 000 Glasfasern. Das eine Ende des knapp fingerstarken Kabels hatte der Patient geschluckt. Es war mit einer lichtstarken Zwerglampe und einer winzigen Optik ausgestattet: Die Lampe leuchtete den Magen aus; die Linse, die einen Blickwinkel von 45 Grad erfassen konnte, schleuste das Bild in das Kabel. Das andere Ende des Kabels hatten die Erlanger Mediziner mit einer Fernsehkamera gekoppelt, so daß auf der Mattscheibe der beiden Fernsehgeräte jeweils zu sehen war, was die Linse gerade einfing.
Die Idee, mit Hilfe eines Glasfaserbündels Bilder zu übertragen - vor 25 Jahren in Deutschland erstmals diskutiert -, wurde von dem indischen Physiker Dr. Narinder Kapany im Jahre 1956 verwirklicht, als er an der amerikanischen Universität Rochester (US-Staat New York) arbeitete. Der Forscher ging aus von einem längst bekannten optischen Phänomen: der totalen inneren Reflexion.
Dieses Prinzip bewirkt beispielsweise, daß Licht, sobald es - unter einem bestimmten Einfallswinkel - in die Schnittfläche eines runden Glas- oder Klarplastikstabs eindringt, nicht wieder nach außen gespiegelt, sondern von der Grenzfläche des Stabs immer wieder nach innen zurückgeworfen (total reflektiert) wird. Das Licht folgt - im Zickzackkurs von Wand zu Wand eilend - den Krümmungen des Stabs.
Bilder lassen sich mit einem solchen Stab allerdings nicht übertragen, da sich in ihm die Lichtstrahlen nicht parallel von einem Stabende zum anderen fortbewegen, sondern in wirr durcheinanderlaufenden Reflexionsbahnen. Da kam Kapany mit dem indischen Seiltrick: Er benutzte nicht einen einzigen Glasstab zur Übertragung, sondern ein Bündel aus Tausenden feinster Glasfäden.
Dadurch löste er das Bild gewissermaßen in einzelne Rasterpunkte auf, so daß jeder Bildpunkt durch eine eigene Lichtleitfaser transportiert wurde. Ausschlaggebend für den Erfolg dieser Technik war allein, daß jede einzelne Glasfaser an einem Ende des Bildleitkabels genau dieselbe Position hatte wie am anderen. Mit anderen Worten: Die Glasfäden mußten parallel laufen - ein Problem, das der Inder nahezu löste, indem er Glasfäden in eine Plastikmasse einbettete.
Heute werden Bildleitkabel in den USA bereits industriell gefertigt. »Das ist gar nicht einfach zu glauben«, schrieb die Zeitschrift »Saturday Review« schon vor einigen Jahren. »Aber es ist Tatsache, daß Licht nunmehr durch ein Seil geschickt werden kann und dabei allen Schleifen folgt, die man eben mit einem Seil knüpfen kann. Und vom anderen Ende kann man das Licht abstrahlen, wohin man will.«
Die Faser-Optik, wie dieser neue Forschungszweig genannt wurde, eröffnete eine ganze Reihe technischer Möglichkeiten. Mit Hilfe von Bildleitkabeln
- inspizieren amerikanische Techniker die gewundenen Kühlwasserleitungen von Atomreaktoren,
- versuchen US-Wissenschaftler ein System der verschlüsselten Bildübertragung zu entwickeln: Die Glasfasern werden dabei innerhalb des Kabels so versetzt, daß das Bild am Ende des Kabels ein scheinbar sinnloses Gewirr von Rasterpunkten zeigt. Eine entsprechend konstruierte Entschlüsselungsanlage liefert das Klarbild.
Amerikanischen Forschern ist es inzwischen gelungen, das Lichtleitungsvermögen der Kabel durch einen Trick zu verbessern. Sie hüllten jede einzelne Faser in eine dünne Schicht eines Glases mit besonders niedrigem Brechungsfaktor. Das Bild, das am Ende eines zwei Meter langen Kabels aus solchen Fasern empfangen werden kann, weist noch einen Helligkeitsgrad von 50 Prozent des Eingangsbildes auf, obgleich jeder Lichtstrahl auf dieser Strecke über 100 000mal von Wand zu Wand reflektiert worden ist.
»Ein so lichtstarkes Bild«, notierte etwa das deutsche Mediziner-Magazin »Selecta« über das Erlanger Fernseh -Experiment, »hatte man bei einer Magenspiegelung noch nie gesehen.« Und die TV-Vorführung erwies zudem, daß
- Magen- und Darmbereiche einzusehen sind, die der Sicht des Arztes normalerweise verborgen bleiben;
- Magenbilder mit einer Schärfe auf den Bildschirm übertragen werden
können, die der Prägnanz herkömmlicher Magenspiegelungen durchaus entspricht;
- Bilder aus dem Mageninneren auf Schmalfilm festgehalten und so - durch Vergleich mit späteren Aufnahmen-diagnostische Rückschlüsse gezogen werden können.
Schließlich ist für die Patienten angenehmer, das nahezu beliebig biegsame Bildleitkabel als den herkömmlichen Magenspiegel zu schlucken. Die konventionellen Magenspiegel enthalten anstelle der Glasfäden ein Linsensystem. Sie sind zwangsläufig starr oder halbstarr, und die Ärzte können damit nur bestimmte Mägenpartien betrachten (wenngleich einzelne diagnostische Probleme zur Zeit noch mit Hilfe der konventionellen Magenspiegel besser gelöst werden können). Für Film- oder Fernsehaufnahmen dagegen ist das Bild, das der gewöhnliche Magenspiegel vermittelt, zu dunkel.
Amerikanische Mediziner glauben daher, daß künftig bei der optischen Untersuchung des Körperinneren (Endoskopie) in immer stärkerem Maße Bildleitkabel verwendet werden. Sie halten für möglich, daß die Kabel in Kürze auch Bilder von Kieferhöhlen und Hauptbronchien, Blasen und Nieren liefern werden.
»Ein dünnes Bildleitkabel«, verkündete Erfinder Kapany, »sollte es sogar möglich machen, das Innere des Herzens zu beobachten.«
TV-Übertragung aus dem Magen (o.) mit Bildleitkabel (u.): Licht um die Ecke