Zum Tod von Irina Antonowa Die Kämpferin

Klare Haltung zu Beutekunst: Irina Antonowa
Foto:ITAR-TASS / imago images
Was die Eremitage für Sankt Petersburg, ist das Puschkin-Museum für Moskau. Es ist eine überwältigend große Sammlung europäischer Kunst, gestiftet 1912 von Moskaus selbstbewusster Bürgerschaft. Irina Antonowa, die in dieser Woche gestorben ist, hat dieses Museum mehr als ein halbes Jahrhundert geleitet. Sie ist, man kann das ohne Übertreibung sagen, für lange Zeit die einflussreichste, prägendste Figur der russischen Museumszene gewesen.
Das lag auch daran, dass sie eine Kämpferin war. Das Kämpfen entsprach ihrer Natur, und es gehörte zugleich zur Erfahrung ihrer Generation. Antonowa war Jahrgang 1922; als Hitlerdeutschland die Sowjetunion überfiel, war sie 19 Jahre alt, alt genug, um aus dem Hörsaal ins Lazarett zu wechseln, als Krankenschwester. Als der Krieg 1945 endete, war die Kunsthistorikerin schon Major der Roten Armee und dafür zuständig, aus Deutschland abtransportierte Beutekunst in Moskau entgegenzunehmen.
Es half ihr dabei, dass sie fließend Deutsch sprach, weil sie als Kind einige Jahre in Berlin verbracht hatte. Der Krieg und seine Folgen sollten für ihre Arbeit bis ins hohe Alter eine Rolle spielen – deshalb erinnert man sich in Deutschland und in Russland auf unterschiedliche Weise an Antonowas Wirken.
Raum für Impressionisten
Der russischen Gesellschaft bleibt in Erinnerung, wie Antonowa das Puschkin-Museum führte, veränderte, erweiterte. Noch unter Stalin begann sie ihre Arbeit im Museum, unter Chruschtschow wurde sie zur Direktorin ernannt, unter Breschnew modernisierte sie dessen Dauerausstellung, unter Putin plante sie die Ausweitung des Museums zu einem regelrechten Museumsviertel gleich südlich des Kremls.
Die Expertin für die Kunst des italienischen Rinascimento war zu Sowjetzeiten eine linientreue Kommunistin, aber das hinderte sie nicht daran, 1974 auch Raum für Impressionisten in ihrer Ausstellung zu schaffen – für eine Kunstrichtung also, die der Partei als bürgerlich und fremd galt. Außerdem weitete sie den Austausch mit westlichen Museen aus. So kam die »Mona Lisa« nach Moskau, gab es die großen Ausstellungsprojekte »Moskau-Paris« und »Moskau-Berlin«.

Am liebsten hätte sie das Puschkin-Museum mit seinen älteren Sammlungen westlicher Kunst um ein »Museum für Neue westliche Kunst« erweitert. Ein Museum mit diesem Namen hatte es in Moskau einst gegeben, bis es unter Stalin 1948 aufgelöst und seine Bestände auf Puschkin-Museum und Eremitage verteilt worden war. Antonowas ehrgeiziger Plan – der auf Kosten der Petersburger gegangen wäre – scheiterte.
Verschwiegene Schätze
Wie kämpferisch und kompromisslos Antonowa sein konnte, das haben deutsche Museumsleute über die Jahrzehnte erfahren. Mit Kriegsende waren Millionen deutsche Kulturgüter in die Sowjetunion verbracht worden – vom Berliner Pergamon-Fries bis hin zu den Dresdner Gemäldesammlungen. Kaum jemand wusste so viel dazu wie Antonowa. Und dennoch verschwieg sie beharrlich, was in ihren Beständen lagerte. Erst 1991 wurde zum Beispiel bekannt, dass der »Schatz des Priamos« – ein Goldschatz, den der Archäologe Heinrich Schliemann 1873 in Troja entdeckt hatte – in Antonowas Puschkin-Museum lag.
Antonowa war stets gegen jede Rückgabe. Sie war das schon in den Fünfzigern, als die Sowjetunion – die selbst unter deutscher Besatzung große Verluste erfahren hatte – in einer großzügigen Geste 1,5 Millionen Objekte an die Museen der DDR zurückgab. Und sie war es auch später. Die aus Deutschland überführten Kunstgegenstände waren für sie legitime Trophäen, mit denen die von Deutschland angerichteten Schäden an sowjetischen Kulturgütern entschädigt werden sollten – eine Position, die auch vom russischen Parlament offiziell übernommen worden ist.
Sie war sogar gegen kleine, symbolische Zugeständnisse an die deutsche Seite. Und sie hatte die Macht, ihre harte Linie durchzusetzen. »Was sie nicht will, das passiert nicht«, kommentierte entnervt der Direktor des Berliner Museums für Vor- und Frühgeschichte, als das Schliemann-Gold 1996 erstmals ausgestellt wurde.
2013 gab Antonowa die Leitung des Puschkin-Museums an Marina Loschak ab. Manche werden damals aufgeatmet haben. Aber die Achtung vor ihr und ihrer Lebensleistung ist groß. Sie war »ein faszinierender Patriot ihres Museums«, so kommentierte es am Dienstag der Chef der Petersburger Eremitage, Michail Piotrowskij. »Ein ganzes Kapitel der Museumsgeschichte geht zu Ende – nicht nur in Russland, sondern in Europa«, so die Chefin der Tretjakow-Galerie, Selfira Tregulowa.
Antonowa starb im Alter von 98 Jahren.
Anmerkung: In einer früheren Version dieses Artikels war das Gründungsdatum des Puschkin-Museums falsch angegeben. Es wurde 1912 eröffnet, nicht 1913.