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IST KREBS ANSTECKEND?

aus DER SPIEGEL 47/1964

SPIEGEL: Herr Dr. Nieper, durch Ihre Aussagen als Gutachter im Issels-Prozeß haben Sie Schlagzeilen gemacht. Die Frankfurter »Abendpost« schrieb: »Krebs ist ansteckend«, die »Bild«-Zeitung auf ihrer Frontseite: »Krebs ist übertragbar.« Glauben Sie, daß das Schreckbild, das Sie damit heraufbeschworen haben, durch wissenschaftliche Beweise zu rechtfertigen ist?

NIEPER: Ja, das ist eben eine in gewisser Weise erschütternde Reaktion, die passieren kann, wenn eine gewisse Sensationspresse zu fachlich schwer verständlichen Prozessen Zugang hat.

SPIEGEL: Die Unruhe, die Sie bei vielen Menschen - besonders bei denen, die häufig mit Krebskranken in Berührung kommen - hervorgerufen haben, ist beträchtlich: Sie haben doch als Gutachter in dem Prozeß erklärt, Krebs sei übertragbar.

NIEPER: Ja, bösartiges Wachstum ist übertragbar, aber nicht ansteckend, wie das da geschildert worden ist.

SPIEGEL: Was ist der Unterschied?

NIEPER: Ich will Ihnen das erklären. Es gibt eine Übertragbarkeit von bösartigem Wachstum auf einer niedrigeren Ebene als der Zellebene. Und dann durch sogenannte Krebsviren ...

SPIEGEL: Sind Krebs-Übertragungen durch Viren jemals beim Menschen nachgewiesen worden?

NIEPER: O ja.

SPIEGEL: Soweit wir wissen, nein. Eine solche Viren-Übertragung ist bisher allenfalls vermutet worden, und zwar nur ganz vereinzelt, etwa bei den leukämiekranken Kindern in Illinois.

NIEPER: Ja, in Niles die Leukämnie -Häufungen.

SPIEGEL: Damals, 1961, sind innerhalb eines Jahres in einem Stadtteil acht Kinder an Leukämie, also an Blutkrebs erkrankt. Aber ein derartiger Fall ist niemals vorher und nie wieder nachher beobachtet worden. Glauben Sie, daß diese einmalige, vielleicht zufällige Häufung von Leukämie-Erkrankungen eine Krebs-Übertragbarkeit beim Menschen beweisen könnte?

NIEPER: Nein, das ist wahrscheinlich in dieser Form ein Sonderfall. Das andere, an das ich dachte, ist das sogenannte Burkitt-Lymphoma ...

SPIEGEL: Eine Geschwulst, die meist in der Nähe des Kiefers auftritt ...

NIEPER: Ja, die in einem bestimmten Teil Afrikas häufig vorkommt. Man nimmt an, daß dabei Tsetsefliegen ein Virus übertragen.

SPIEGEL: Aber auch dieser Burkitt -Tumor in Afrika - bei dem die Übertragung gleichfalls noch nicht schlüssig nachgewiesen wurde - läßt doch wohl nicht den Rückschluß zu, daß Krebs allgemein übertragbar sei?

NIEPER: Nein, nein. Das ist wahrscheinlich eine Sonderform, auch wieder ein sogenanntes Krebsvirus oder ein Partikel, das weitgehend als Virus anzusprechen ist.

SPIEGEL: Ist bisher jemals ein Virus nachgewiesen worden, das beim Menschen Krebs erzeugen könnte?

NIEPER: Außer bei dieser Sonderform in Afrika bis jetzt nicht, nein.

SPIEGEL: Trotzdem sprechen Sie von der Übertragbarkeit...

NIEPER: Entschuldigen Sie, ich habe auch nicht direkt an Viren gedacht, ich habe dabei an einen Prozeß gedacht, der beim Menschen so ähnlich abläuft wie etwa die Stallinfektion bei Versuchstieren.

SPIEGEL: Mit Stallinfektionen meinen Sie Krebs-Übertragungen von Tier zu Tier in den Versuchslabors der Krebsforschungsinstitute?

NIEPER: Ja. Da kennt man das Faktum, daß gesunde Tiere, etwa Mäuse, die zeitlebens im selben Stall mit krebskranken Mäusen zusammenleben müssen, mitunter ebenfalls an Geschwülsten erkranken.

SPIEGEL: Solche Erkrankungen von gesunden Stallgenossen sind unter vielen Millionen Versuchstieren nur in seltenen Einzelfällen beobachtet worden. Daß es sich um eine Krebs-Übertragung handelt, ist noch nicht nachgewiesen, sondern allenfalls vermutet worden.

NIEPER: Das Phänomen der Stallinfektion, das ist klar, ist minim, äußerst geringfügig. Aber es ist die Frage, ob so etwas nicht auch beim Menschen vorkommen könnte.

SPIEGEL: Das ist aber reine Spekulation, wenn wir Sie recht verstanden haben.

NIEPER: Ich habe mir beispielsweise ältere Ehepaare angeschaut, die beide krebskrank sind oder wo der eine vor dem anderen an Krebs verstorben ist, und das verfolge ich nun seit zehn Jahren.

SPIEGEL: Sind das größere Untersuchungsreihen?

NIEPER: Das geht außerordentlich langsam. Aber ich bin nicht der einzige, der so etwas untersucht, es gibt noch jemand, aber ich möchte wegen des heißen Themas das nicht nennen.

SPIEGEL: Gibt es irgendwelche größeren Statistiken, die diese Hypothese stützen könnten, daß - über einen Zeitraum von Jahrzehnten - Krebs etwa von einem auf den anderen Ehepartner übertragen werden könnte?

NIEPER: Meine eigenen laufenden Beobachtungen, die ich noch längst nicht abgeschlossen habe, will ich noch mindestens zehn Oder zwanzig Jahre weiterführen.

SPIEGEL: Liegen schon Zwischenergebnisse vor?

NIEPER: Ich will darüber nichts sagen. Es kommt etwa das Phänomen Stallinfektion heraus, das ist auch nicht anders zu erwarten.

SPIEGEL: Aber Herr Dr. Nieper, ist es dann nicht etwas verfrüht, öffentlich als Gutachter solche Hypothesen aufzustellen, wenn Sie selbst glauben, erst in zehn oder zwanzig Jahren Gesichertes darüber aussagen zu können?

NIEPER: Ja, sicher, es ist vielleicht etwas verfrüht, das ist richtig ...

SPIEGEL: Im übrigen: Wie müßte man sich überhaupt eine solche Infektion über Jahrzehnte hinweg vorstellen? Es ist also keine einmalige Übertragung, wie etwa bei Typhus oder bei Grippe?

NIEPER: Wir haben Anhaltspunkte dafür, daß es ein Kontakt von Zelle zu Zelle ist, etwa von Mäuse-Nase zu Mäuse-Nase. Ob diese Infektion, wenn man das überhaupt so nennen will, zum Tragen kommt, wird allerdings bestimmt durch die körperliche Kondition des Empfängers. Aber ich möchte darauf hinweisen, daß ich dieses ganze Thema der Übertragbarkeit von bösartigem Wachstum beim Issels-Prozeß nur angesprochen habe, weil es meiner Ansicht nach ein Beweis dafür ist, daß Krebs keine Lokalerkrankung ist sondern eine Allgemeinerkrankung.

SPIEGEL: Uns erscheint diese Auseinandersetzung, ob man Krebs als lokale oder allgemeine Erkrankung bezeichnen soll, recht müßig ...

NIEPER: Ja sicher, Krebs als Allgemeinerkrankung ist letzten Endes auch wieder nur ein Wort.

SPIEGEL: Immerhin scheint sich darauf wohl auch jene sogenannte interne Krebstherapie zu beziehen, die Sie beim Issels-Prozeß so heftig verfochten haben.

NIEPER: Ich habe nicht diese interne Krebstherapie verfochten, sondern Issels hat seine verfochten. Ich verwende Issels' Therapie nicht, höchstens bestimmte Elemente davon.

SPIEGEL: Was muß man sich überhaupt unter diesem Begriff »interne Krebstherapie« vorstellen?

NIEPER: Unter interner Krebstherapie versteht man das ganze Spektrum, das der Internist zur Geschwulstbehandlung zur Verfügung hat, also angefangen von Chemotherapeutika ...

SPIEGEL: ... von krebshemmenden Medikamenten ...

NIEPER: Dann die Diät und etwa die Stützung der körpereigenen Abwehrkräfte, und auch die Herdsanierung...

SPIEGEL: Damit meinen Sie die Entfernung erkrankter Zähne oder eitriger Mandeln?

NIEPER: Ja, zum Beispiel.

SPIEGEL: Bis zu einem gewissen Grade werden solche internen Therapiemaßnahmen ja heute an fast allen Kliniken angewendet ...

NIEPER: O nein, wenn Sie es bei Lichte betrachten, viel zuwenig. Ich glaube, man ist da auf dem falschen Weg, diese interne Therapie wird noch zuwenig berücksichtigt.

SPIEGEL: Immerhin: In den Forschungsinstituten der amerikanischen Krebsgesellschaft in Bethesda sind während der letzten Jahre weit über 300 000 chemische Substanzen darauf hin überprüft worden, ob sie gegen Krebs wirksam sind. Und gewisse krebshemmende Mittel gehören, als Unterstützung der chirurgischen oder der Strahlenbehandlung, heute zum Standard-Arsenal der Kliniken.

NIEPER: Ja, Chemotherapeutika, aber die sind ja nur ein kleiner Ausschnitt aus der möglichen internen Therapie.

SPIEGEL: Sie sprachen von einer »Stützung der körpereigenen Abwehrkräfte« - was verstehen Sie darunter?

NIEPER: Der Körper hat von Natur aus Abwehrkräfte gegen Krebs, die ihm angeboren und von einer beträchtlichen Wirkdimension sind.

SPIEGEL: Und wie kann man diese Abwehr stärken?

NIEPER: Wie man die stärken kann?

SPIEGEL: Zumal der ursächliche Ablauf der Krebs-Entstehung noch keineswegs aufgeklärt ist und mithin niemand weiß, wie diese körpereigene Abwehr funktionieren könnte?

NIEPER: Man weiß nicht, worauf sie beruht. Wahrscheinlich ist sie nicht humoraler Art ...

SPIEGEL: Würden Sie das für unsere Leser verdeutlichen?

NIEPER: Ja, also sie ist nicht säftebedingt, sondern gewebsständig.

SPIEGEL: Und auf welche Weise kann man sie stärken?

NIEPER: Man kann sie stärken erst mal, indem man untersucht, welche Faktoren es gibt, die diese Abwehrkräfte schwächen, also zum Beispiel Giftsubstanzen, die aus Herden kommen.

SPIEGEL: Von kranken Zähnen oder Mandeln.

NIEPER: Auch durch Erhöhung der Körpertemperatur beispielsweise.

SPIEGEL: Durch Schwitzkuren?

NIEPER: Durch Einspritzen von Malaria-Erregern.

SPIEGEL: Aber muß so eine künstlich hervorgerufene Malaria nicht gerade den Körper schwächen, statt seine Abwehrkraft zu stärken?

NIEPER: Schwächen schon, aber im Fall Krebs schaffen solche Infektionen eine erhöhte Resistenz.

SPIEGEL: Hm. Das ist wohl noch sehr umstritten.

NIEPER: Da gibt es Untersuchungen aus den zwanziger und dreißiger Jahren. Aber entschuldigen Sie, das ist nicht mein Sektor. Allerdings habe ich über körpereigene Abwehr am krebskranken Tier gearbeitet, und auch am Menschen.

SPIEGEL: Bei dem Prozeß in München haben Sie sehr viel von dieser körpereigenen Abwehr gesprochen. Sie haben behauptet, der ehemalige amerikanische

Außenminister John Foster Dulles hätte länger leben können, wenn nicht durch eine Behandlung mit radioaktivem Gold seine körpereigenen Abwehrkräfte zerrüttet worden wären. Woher kennen Sie eigentlich die Details der Krankengeschichte von John Foster Dulles, die unseres Wissens in der medizinischen Literatur nie veröffentlicht worden sind?

NIEPER: Ich hatte 1960 mit einem amerikanischen Kollegen im Sloan -Kettering-Institut in New York eine Diskussion. Das heißt, er fragte mich: Was meinst du dazu? Der Fall Dulles war deswegen interessant, weil bei ihm eine Metastasierung, eine Tochtergeschwulstbildung, und ein akuter Zusammenbruch erfolgt waren, wie er sonst bei dieser Geschwulst unüblich ist.

SPIEGEL: Sie haben die Ansicht vertreten, diese Tochtergeschwülste seien durch die Radiogold-Behandlung ausgelöst worden. Nun ist aber Dulles schon mehr als zwei Jahre zuvor an einem Darmkrebs operiert worden. Es ist also wahrscheinlich, daß die Metastasierung bei der zweiten Operation im Februar 1959 - also noch vor der Radiogold-Behandlung - bereits eingetreten war. Und Dulles starb dann ja auch schon vierzehn Wochen später.

NIEPER: Ich weiß, er wurde ja wieder ins Krankenhaus eingeliefert wegen Verdachts auf angeblich Blinddarmentzündung.

SPIEGEL: Auf Leistenbruch.

NIEPER: Ah ja.

SPIEGEL: Auf eine Rückfrage unseres New Yorker Korrespondenten haben Forscher der »American Cancer Society« es gestern als »absolut absurd« bezeichnet, die Metastasierung bei Dulles auf die Radiogold-Behandlung zurückzuführen, wie Sie es beim Issels-Prozeß getan haben.

NIEPER: Ich kann nur sagen, daß ich in Amerika eine gegenteilige Diskussion miterlebt habe.

SPIEGEL: Sie haben beim Issels-Prozeß behauptet, John Foster Dulles hätte länger leben können, wenn er Kassenpatient gewesen und mithin nicht mit dem aufwendigen radioaktiven Gold behandelt worden wäre. Glauben Sie, daß es wissenschaftlich vertretbar ist, so etwas in der Öffentlichkeit zu behaupten - ohne genaue Kenntnis der Details im Krankheitsverlauf?

NIEPER: Ja - ich wollte damit den Kontrast deutlich machen, daß man durch ein Zuviel des Guten, in diesem Fall der Bestrahlung, die körpereigene Abwehr zu schnell zerschlagen habe.

SPIEGEL: Herr Dr. Nieper, Sie haben sich im Issels-Prozeß dem Gericht vorgestellt als Inhaber einer selbständigen Klinikposition und Mitglied einer internationalen. Forschungsgruppe ...

NIEPER: Also entschuldigen Sie, es ist nicht alles so, wie es in den Zeitungen steht, ich bin zum Beispiel kein geheimer Militärforscher, aber ich arbeite mit einem französischen Kollegen zusammen, der bei der Kriegsmarine ist.

SPIEGEL: Sie sind auch Mitglied der »Cancer International Research Cooperative«, einer »Dachorganisation zur Erforschung des Krebses«, wie die »Welt« schrieb. Wir hatten bis gestern noch nie etwas von dieser Organisation gehört.

NIEPER: Die »Cancer International Research Cooperative« ist eine Koordination von Krebsforschern und Krebsfachleuten.

SPIEGEL: Welche prominenten Krebsforscher gehören ihr denn an?

NIEPER: O, eine ganze Menge, ich müßte das in den Listen nachsehen.

SPIEGEL: Wir haben in New York angefragt, und nach unseren Erkundigungen handelt es sich bei dieser Organisation eher um einen größeren Familienverband. Er hat ein Büro in einem Vorort von New York. Mit einem Präsidenten, einem Vizepräsidenten - beide zwar Doktores, aber nicht der Medizin - und einer Sekretärin.

NIEPER: Ja, ich weiß, die sind jetzt umgezogen. Mich hat ein Kollege am Sloan - Kettering - Institut eingeladen, dieser Organisation beizutreten.

SPIEGEL: Maßgebende Krebsforscher in Amerika halten diese Vereinigung zwar für »aufrichtig und idealistisch«, aber auch für »naiv, vage in den Zielen und nicht eben gut informiert«. Sie ist offenbar von einer Familie ins Leben gerufen worden, nachdem ein Familienmitglied an Krebs gestorben war und die Angehörigen annahmen, es sei falsch behandelt worden.

NIEPER: Es ist ja oft so, daß solche Organisationen privat gestiftet werden.

SPIEGEL: Laut Satzung hat sich die Organisation zum Ziel gesetzt, Forschungsergebnisse und Erfahrungen auszutauschen, aber sie will auch »bessere Heilmethoden gegen Krebs als Bestrahlung und Operation entwickeln«.

NIEPER: Ja, das steht in den Satzungen. Für mich sieht es so aus, daß Resultate, die noch relativ unfertig im Raum stehen, als Briefe hinausgehen, und andere Resultate kommen dann zurück.

SPIEGEL: Wir dürfen resümieren, daß die Unruhe, die In der Bevölkerung nach Ihren Aussagen im Issels-Prozeß eingesetzt hat, unbegründet ist und daß Ihre These, Krebs sei übertragbar, gleichfalls »im Raum steht": Sie halten eine Übertragung von Krebs beim Menschen unter höchst extremen Bedingungen für denkbar, Beweise für diese These aber sind noch nicht greifbar.

NIEPER: Ja, so etwa könnte man sagen.

Gutachter Nieper

»Bösartiges Wachstum ist übertragbar«

Krebskranker Dulles

Vorschneller Tod durch Bestrahlung?

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