Star-Theater in Hamburg und Bochum Wer ist der bessere Psychopath?

In den Titelrollen treten die Schauspielstars Devid Striesow und Jens Harzer gegeneinander an: Zwei Inszenierungen von Anton Tschechows "Iwanow" hatten am Samstag in Hamburg und Bochum Premiere – ein Aufführungsvergleich.
Aus Bochum und Hamburg berichten Anke Dürr und Wolfgang Höbel
Devid Striesow in der Titelrolle im Hamburger Schauspielhaus

Devid Striesow in der Titelrolle im Hamburger Schauspielhaus

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Christian Charisius/ dpa

Wovon erzählt das Stück?  

Alle Dramen von Anton Tschechow handeln von Verlorenen, moralisch Orientierungslosen in einer Welt, die aus den Fugen ist – das macht sie für viele Theaterbegeisterte zu Helden, mit denen man sich auch heute identifizieren kann. "Iwanow" ist Tschechows erstes Stück, der Autor war 27 Jahre alt, als die erste Fassung 1887 zur Uraufführung kam. Der Gutsbesitzer Iwanow hat einst studiert und hatte "Visionen", nun ist er ein müder, trauriger, zorniger Mann. Ein vom Leben und seinen Routinen Erschöpfter. "Was ist nur mit mir los?", fragt er ein ums andere Mal. Seine Frau Anna Petrowna hat seinetwegen ihren jüdischen Glauben abgelegt und ist krank; Iwanow liebt sie nicht mehr. Sein Landgut ist am Rande des Ruins. Dass die reiche, junge Nachbarstochter Sascha in Iwanow verliebt ist, hilft ihm nicht: Er weiß nicht mehr, wofür er lebt. 

Was sieht man auf der Bühne?

In Bochum hat der Bühnenbildner Johannes Schütz für Tschechows unbehauste Menschen einen riesigen goldenen Quader auf die Bühne gestellt: ein Luxusgefängnis und ein leerer Raum zugleich. Im zweiten Akt wird dieses Gerüst gekippt, im letzten zerfällt es. Rundherum liegen alte Baumstämme und Äste, abgestorbene Natur. Alles sehr dekorativ und natürlich hochsymbolisch. In dieser Nichtbehausung sitzen die Menschen viel auf Stühlen herum, gern nah an der Rampe aufgereiht, und reden, trinken oder schweigen. Wer gerade nicht mitspielt, zieht sich zur Bühnenrückwand zurück. 

In Hamburg taumelt Iwanow durch ein leeres Filmstudio. Drei riesige Scheinwerfer und ein paar Lautsprecherboxen stehen im schwarzen Raum, die Regisseurin kommt ohne Bühnenbilder aus. Wenn auf dem Gutshof von Iwanows Nachbarn, den Lebedews, Party gefeiert wird, schleppen die Figuren große Gläser mit Stachelbeermarmelade auf die Bühne, benutzen die Gläser als Hocker und schrauben sie auch mal auf, um sich mit bloßen Händen Marmelade in die Münder zu stopfen. Das ist ein großer Lacher fürs Publikum. Alle Menschen auf der Bühne sind unfassbar nervös. Oft sprechen sie auch hier vorn an der Rampe ins Publikum, als müssten sie sich zwanghaft erklären.

Was für eine Figur spielt der Titelheld? 

Bochum: Jens Harzer als Iwanow ist ein großartiger, vielschichtiger Charmeur. Melancholisch, fast verdruckst wirkt er, wie er da anfangs vorn an der Rampe auf seinem Stuhl hockt, im zerknitterten Hemd, die Schultern gebeugt, die Hände knetend. Seine Bosheit gegenüber seinen Mitmenschen kommt aus diesem Unglück mit sich selbst. Aber es hat auch einen um sich selbst kreisenden Egoisten aus ihm gemacht: Sobald es nicht um ihn geht, reißt er die Aufmerksamkeit an sich, notfalls, indem er auf die Bühne kotzt und anschließend in dieser Pfütze ausrutscht. Als er am Ende den Entschluss gefasst hat, sich zu erschießen und mit großer Überzeugungskraft der jungen Sascha erklärt, warum er sie nicht heiraten kann, ist er endlich ganz bei sich. Das ist die Tragik dieser Figur.  

Hamburg: Ach wie gut, dass niemand weiß, dass ich Iwanowitsch heiß’ – Devid Striesow ist ein Rumpelstilzheld. Er schlurft in Hemd und Anzughose auf die Bühne, zerknüllt sein Sakko und führt drei Stunden lang einen Zappelirrsinn vor, als müsse es ihn sogleich zerreißen. So redet er auch. Er presst seinen Überdruss an sich selbst und den anderen heraus, nennt sich einen "Jammerlappen" und "Psychopathen". Die große Rätselfrage des Dramas lautet seit jeher, warum dieser elende Iwanow eigentlich von so vielen Menschen geliebt wird. In Hamburg ist sie unbeantwortbar: In einer oft zu expressionistischen Tanzeinlagen aufgelegten Müdigkeitsgesellschaft von Leuten, die dauernd über Langeweile klagen, ist Iwanow, der Abstinenzler, der gruseligste Langweiler von allen. Ein zu jeder Amoktat (die er auch androht) fähiger Wutbürger.

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Theater in Hamburg und Bochum: der doppelte "Iwanow"

Foto: Monika Rittershaus

Wie gehen die Frauen, wie geht der Rest der Welt mit Iwanow um?

Bochum: Iwanow und seine Frau Anna sind in einem Teufelskreislauf gefangen: Er fühlt sich, auch weil sie bald an Tuberkulose sterben wird, verpflichtet, sie zu lieben, und gerade deshalb kann er es nicht mehr. Annas (bei Jele Brückner tatsächlich ziemlich anstrengende) Klage über seine Lieblosigkeit macht es nicht besser: Er ist kein Kümmerer, er sucht jemanden, der sich um ihn kümmert. Die junge Sascha, Tochter eines reichen Gutsbesitzers, will sich kümmern und ihn retten. Gina Haller tollt als diese Sascha auf der Bühne rum wie ein junger Hund, kein Satz ohne Hüftschwung, keine Frage ohne große Geste. Aber ihre Verspieltheit ist ansteckend, auch für Iwanow, der sich mit ihr balgt und tanzt, als könne er seine Jugend zurückholen. Die Männer dagegen stehen Iwanows Zorn ziemlich hilflos gegenüber. Es wird viel Haar gestrubbelt – eine typische Männergeste, wenn man nicht so recht weiß, was man sagen soll.

Hamburg: Als habe George Grosz sie gemalt, sind die Frauen und Männer um Iwanow herum ein Haufen überdrehter Monstermenschen. Selbst seine todkranke Gattin Anna wird von der Schauspielerin Angelika Richter mit dunkel geschminkten Augenhöhlen und papageienbuntem Morgenmantel als gespreiztes Nachtgeschöpf vorgeführt. Eva Mattes tapert in der Rolle der reichen Nachbarin als Matrone auf die Bühne, die vor Geldgier Rubelzeichen in den Augen zu haben scheint. Immer wieder sucht die Regisseurin die grelle Komödie, in der die Schauspieler wodkaselig wanken und nuscheln und die Lachbedürfnisse vieler Theaterbesucher bedienen. Nur eine Figur ist die meiste Zeit absolut ruhig und strahlt vor Glück: Die Schauspielerin Aenne Schwarz spielt die 20-jährige Sascha, die den Titelhelden unbedingt retten will und erst im letzten Bild, wenn sie ihr Brautkleid spazierenträgt, mit viel Geheul ihre Niederlage erkennt.

Was will uns der Regisseur/ die Regisseurin sagen?

Bochum: Johan Simons ist da ganz bei Tschechow: So ist das Leben. Er hält uns einen Spiegel vor - und vermutlich soll man das Bochumer Schauspielhaus nach vier Stunden mit dem Gedanken verlassen, die eigenen Routinen wenigstens mal zu überdenken. 

Hamburg: Karin Beier sucht die Zeitdiagnose und will offenbar den strapaziösen Krawall der spätkapitalistischen, wertefernen, von sich selbst angeödeten Leistungsgesellschaft anprangern. Auf der Bühne trägt eine junge Frau einmal eine Klimakatastrophen-Anklage gegen die lahmen Alten vor, sie schreit: "Die Zukunft hat keine Zukunft." Merkwürdigerweise ist sie die unsympathischste, lächerlichste Figur des Abends. 

Geht das Konzept auf? Ist Iwanow ein Stoff, der heute Gewicht hat?

Bochum: Johan Simons drängt einem die Übertragung in die Gegenwart nicht auf. Und doch kennt jeder Leute, die sich in ihrem starr eingerichteten Leben eingesperrt fühlen, aber den Absprung in ein neues nicht schaffen. Oder Männer, die in die Arme einer jüngeren Frau fliehen. Dass in diesem Stück, würde man es heute schreiben, irgendwo ein Therapeut vorkommen müsste: geschenkt. 

Hamburg:  Karin Beier lässt ein fast durchweg tolles Ensemble lange Zeit komödiantisch auftrumpfen und gegen Ende auf offener Bühne wild herumheulen. Es bleibt aber bei aller Bewunderung ein bisschen unbegreiflich, warum im Jahr 2020 eine Bande von so klugen, hochbegabten Theatermenschen gerade die Geschichte des Jammerlappens Iwanow erzählen musste. 

Lohnt sich die Aufführung?

Bochum: Man braucht Geduld. Das Drama der Langeweile, erzählt in vier Stunden: natürlich gibt es da ein paar Durchhänger. Aber es braucht eben Zeit, um diese widersprüchliche Figur zu begreifen – und zum Glück ist es Jens Harzer, der sie uns nahebringt. 

Hamburg: Wer im Theater intelligente Unterhaltung sucht und gut aufgelegten Schauspielkünstlern bei der Arbeit zusehen will, der ist im Hamburger Schauspielhaus prächtig aufgehoben. Wer wirklich mitreißende, Hirn und Herz aufrüttelnde Bühnenkunst sucht, eher nicht. Dieser "Ivanov" (wie man ihn in Hamburg vornehm schreibt) ist vergnügliches Edelboulevardtheater.

"Iwanow". Schauspielhaus Bochum , nächste Vorstellungen am 22., 26. und 27. 1.  

"Ivanov". Schauspielhaus Hamburg , nächste Vorstellungen am 20. und 24.1.,

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