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Pop Jede Menge Cola

Sie machen Musik, Filme und Mode - vor allem aber ringen die Lärmpioniere der US-Band Sonic Youth mit dem Dilemma des Erfolgs.
aus DER SPIEGEL 39/1995

Der Bursche sieht aus wie einer jener gutgelaunten Karrieristen, die man am Bankschalter trifft oder im marmorverkleideten Fahrstuhl eines Appartementblocks für hungrige Wall-Street-Broker: Das pausbäckige, frische Jungengesicht zeigt immerzu ein sonniges Grinsen, und die langen Knochen ragen aus jedem Anzug, als habe er das Ding von seinem kleinen Bruder geborgt - diesem Jüngling würde noch die mißtrauischste Großmutter eine Versicherungspolice abnehmen.

Tatsächlich ist Thurston Moore Ende 30 und hält nichts von Aktenmappen und einem geregelten Arbeitsplan. Er liebt es, spät aufzustehen, und sein Geld verdient er auf ziemlich einfache Weise: »Wir gehen in einen Raum und trinken jede Menge Coca-Cola, wir drehen die Verstärker auf, haben viel Spaß und machen dazu Musik.«

Zusammen mit Kim Gordon, Lee Ranaldo und Steve Shelley betreibt Moore die »Supergroup des amerikanischen Undergrounds«, wie das deutsche Fachblatt Spex rühmt. Die Band heißt Sonic Youth, wurde vor 14 Jahren in New York gegründet und hat gerade, unter dem Titel »Washing Machine«, ihr zwölftes Album veröffentlicht.

Schon der Titel deutet an, daß sich irgendwas verändert hat im Bohemeleben Moores und seiner Kumpane. Vor einem Jahr hat seine Gefährtin Kim Gordon ein Kind in die Welt gesetzt; da werden Platten eben einfach nach einem Neuneinhalbminutensong namens Waschmaschine benannt, und auch mit dem Spätaufstehen ist es nicht mehr weit her.

Ziemlich übernächtigt lungern Moore und Kim Gordon in den roten Plüschsesseln einer Pariser Hotellobby herum und geben Auskunft über große Zeiten: Wie sie in den besten Tagen der Punkmusik loslegten mit wütender Gitarrendrescherei und intellektueller Begeisterung für alles Abseitige aus dem Mülleimer der Popgeschichte; wie sie zum Vorbild für die Grungerocker von Nirvana werden konnten und für das wüste Mädchenidol Courtney Love - und zugleich ihren Ruhm bewahrten als Ingenieure einer Trivialkunst, die viele Kritiker sogleich an Andy Warhols »Factory« in deren Sechziger-Jahre-Glanzzeiten erinnerte.

Die neue Platte zeugt abermals von der Sammelwut und Umdeutungskraft der Sonic-Youth-Mitstreiter: jeder Song ein Readymade aus sorgfältig übersteuerten Instrumenten und mild expressionistischen Storys über Sciencefiction-Abenteuer oder amerikanische Eßgewohnheiten. Ein staunenswert melodisches Werk voller jaulender Byrds-Gitarren - und ein Verstoß gegen das Bandprinzip, den linearen, ordentlich durchkomponierten Popsong um jeden Preis zu vermeiden.

»Einen richtigen Radiohit zu haben, das wäre das schlimmste für uns«, behauptet Kim Gordon und läßt dazu mürrisch die Mundwinkel hängen.

So muß man natürlich reden im Untergrund, wenn der Erfolg droht. Gordon, die früher mal Kunstkritikerin war und bis heute den Ruf einer Art Anti-Madonna genießt, wird am Abend in einem überfüllten Konzertsaal vor rund tausend kreischenden Fans gegen den Hitverdacht anbrüllen. Sie wird ihre blonden Strähnen schütteln und lustig herumtoben, damit niemand daran zweifelt, um wieviel wilder sie ist als Courtney Love, die sie eine »kranke Person« nennt, seit Love kürzlich einem ihrer Freunde die Faust zwischen die Augen knallte.

Zuvor aber erzählt sie vom unbeirrten Gesamtkunst-Anspruch der Band, von obskuren Filmen und von den netten Kleidern für ungezogene Mädchen, die sie unter dem Label »X-Girl« für einen Laden entwirft, den der Musikerkollege Mike D. von den Beastie Boys in New York betreibt: »Sieht alles verdammt gut aus«, sagt sie, »aber trotzdem langweilt mich Mode. Vielleicht sollten wir besser ein paar Mädchenbands zusammensuchen und X-Girl-Platten verkaufen.«

Sonic Youth sind konfrontiert mit dem Dilemma des Erfolgs. Im Sommer haben sie auf einer ausgedehnten US-Tour vor bis zu 25 000 Zuhörern gespielt. Wie läßt sich das mit dem Pioniermythos vereinbaren? Kim Gordon hat dafür einen der Lieblingssprüche der Band parat: »Am besten, ihr schmeißt alle CDs von uns weg und kauft euch dafür die Platten von Led Zeppelin.« Y

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