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Artikel 53 / 76

»JEDEN TAG EIN NOCH WEISSERER RIESE«

Für Forschung gibt die bundesdeutsche Pharma-Industrie jährlich 500 Millionen Mark aus, ein Zehntel ihres Umsatzes, Für Werbung zahlt sie das Doppelte -- zwischen 15 und 25 Prozent vom Jahresumsatz. Drei Zentner gedrucktes Papier, so erklärte kürzlich ein Arzt, der die Flut von Werbematerial gewogen hat, auf einem Kongreß des Bundesverbandes der Vertrauensärzte, gelangen jedes Jahr in die Praxis eines niedergelassenen Mediziners. Unter immer neuen Phantasienamen bringt die westdeutsche Pharma-Industrie ihre Produkte auf den Markt, bislang ohne die Wirksamkeit nachweisen zu müssen; von 1600 neu angemeldeten Präparaten, die 1969 beim Bundesgesundheitsamt registriert wurden, enthielten nur 25 neue Wirkstoffe. »Dem Arzt fehlt jede Vergleichsmöglichkeit«, kommentierte das Ärzteblatt »Euromed«; denn »infolge der bekannten Ausbildungsmisere« bestehe »die Medizinzunft vorwiegend aus pharmakologischen Analphabeten«. Wie der Durchschnittsbürger für die Verführungskünste von Waschmittel- und Zigarettenwerbern, so haben sich »die Arzte als anfällig gegenüber der Pharma-Propaganda erwiesen« -- zu diesem Urteil gelangt Professor Herbert Herxheimer, Direktor der Universitäts-Asthma-Poliklinik im Rudolf-Virchow-Krankenhaus in West-Berlin. Einem Aufsatz, den Herxheimer dem »Arzneimittelbrief«, einem »unabhängigen Informationsblatt für den Arzt«, beifügte, ist folgender Auszug entnommen.
aus DER SPIEGEL 30/1970

Die Praxis der Medizin dient in erster Linie dem Wohl des Patienten. Das Wohl des Patienten hängt nicht nur von der Persönlichkeit des Arztes ab, sondern auch von seiner Ausbildung und Fortbildung. Bei der schnellen Entwicklung der technischen Wissenschaften macht die Medizin jetzt so rapide Fortschritte, daß der Arzt, der sich nicht auf dem laufenden hält, schon fünf Jahre nach seiner Approbation als in seinen Ansichten veraltet gelten kann.

Die ausreichende Information des Praktikers, Fortbildung genannt, beruht auf den medizinischen Zeitschriften, Fortbildungskursen, Fachkongressen und der Werbung der pharmazeutischen Industrie. Dieser Aufsatz wird darlegen, daß diese vier Informationsmittel durch die finanziellen Interessen der Pharma-Industrie und der Zeitschriftenverlage in einer Weise verflochten sind, daß eine objektive Information des Durchschnittsarztes. die im Interesse der Öffentlichkeit liegt, nicht stattfindet.

Unter den Zeitschriften spielen die großen wissenschaftlichen Vierteljahresschriften oder Archive keine Rolle für die Fortbildung, da sie nur von einer Minderzahl von Spezialisten gelesen werden. Die Wochen- und Vierzehntageschriften dagegen, die den Hei der Karlsruher Therapie-Woche 1968.

Ärzten als Fachliteratur angeboten werden, bestehen vorwiegend aus Reklame für Arzneimittel.

In vielen von ihnen kommen zwei, manchmal auch vier, oft grellfarbige Glanzpapier-Reklameseiten auf etwa zwei Textseiten. Es gibt In der Bundesrepublik neun solcher Zeitschriften (neben zwei schweizerischen und zwei österreichischen) -- eine beträchtliche Zahl. In England zum Beispiel gibt es nur zwei.

Diese Zeitschriften haben alle einen niedrigen Abonnementspreis, der für Studenten und nicht vollbezahlte Ärzte noch weiter ermäßigt ist. Einige werden auch an niedergelassene Ärzte gratis verschickt, offenbar Auflage und Inseratenpreis zu erhöhen.

Die Qualität des Textes ist sehr unterschiedlich. Während einzelne dieser Wochenschriften sich auf wissenschaftlich wertvolle, aber hochspezialisierte Originalarbeiten und einige Übersichten beschränken, ist der Inhalt der meisten anderen von geringem Wert. Lesbare und belehrende Übersichten wechseln mit Originalarbeiten aus zweifelhaften Quellen.

Dies ist nicht anders zu erwarten. Denn bei der großen Anzahl der Zeitschriften und unter der Voraussetzung, daß jede acht bis zehn Aufsätze enthält, müßten in jedem Jahr weit über 2000 wertvolle Artikel erscheinen. So viele wissenschaftlich zuverlässige Autoren stehen nicht zur Verfügung. Auch wird in der Medizin nicht so viel Neues entdeckt, daß der Stoff hierfür ausreichen würde.

Es erscheinen daher vielfach Aufsätze, die nicht sachlich zuverlässig sind, und ein Heft mag also neben einer guten Übersicht mehrere Artikel von nicht kompetenten Autoren enthalten. Der Leser, der der Sachkunde der Schriftleitung vertraut, ahnt oft nicht, daß die Schriftleitung den Text nur dazu benötigt, um damit die vielen Anzeigen auszupolstern. Wenn die Aufsätze sich auf neue Arzneimittel beziehen, macht das Fehlen von Objektivität und Kritik eine Meinungsbildung unmöglich ...

Aus solchen Aufsätzen muß der Arzt das Material für seine Fortbildung schöpfen. Da es nur selten erstklassig und zudem nicht immer zuverlässig Ist, ist es für ihn ungeeignet und für einen kritiklosen Arzt sogar gefährlich.

Die Anzeigen, mit denen diese Zeitschriften vollgepfropft sind, bringen naturgemäß viel Geld ein. Die »Deutsche Medizinische Wochenschrift« zum Beispiel hat im Durchschnitt etwa 70 ganzseitige pharmazeutische Anpreisungen in jedem Heft, die in Schwarzweiß-Ausführung 1450 Mark pro Seite bringen. Dies bedeutet bei 60 Anzeigenseiten eine Bruttoeinnahme von fast 90 000 Mark pro Woche; ohne Beilagen, Stellenanzeigen und Buchreklame, also eine Jahreseinnahme aus Anzeigen von wahrscheinlich über fünf Millionen Mark.

Die »populären« medizinischen Wochenschriften -- ein anderer Zeitschriftentyp -- existieren erst seit einigen Jahren. Sie bringen keine Originalartikel, sondern feuilletonistisch gehaltene Notizen oder Übersichten über das Neueste in der Medizin mit reichlichen Illustrationen, besonders den Photos der von ihnen zitierten Autoren.

Diese Form der Information wäre ganz brauchbar, wenn sie zuverlässig wäre. Sie ist aber als einzige Quelle ärztlicher Fortbildung unbefriedigend. Sie erfordert von der Schriftleitung eine fast enzyklopädische Kenntnis der gesamten Medizin, ihrer Quellen und eine äußerst kritische Einstellung. Die wenigen Zeitschriften dieser Art besitzen, soviel ich sehe, keinen Schriftleiterstab, der dem Leser eine Auswahl des wichtigsten Materials verantwortlich und vorverdaut vorsetzen kann.

Die Gefahr für die Fortbildung besteht darin, daß ein unkritischer oder schlecht informierter Schriftleiter irgendwelche unbestätigten oder aus zweifelhaften Quellen stammenden Arbeiten herausstellt, deren Resultate dann von den Lesern als bare Münze angesehen werden. Jede Woche wird in diesen Zeitschriften groß aufgemacht, aber ohne ausreichende Gewähr, über neue medizinische Entdeckungen berichtet, die für den Fachmann unwahrscheinlich und deren Ursprungslaboratorium oder -krankenhaus in weiten Kreisen unbekannt ist. Die Überschrift ist mehrere Zentimeter breit und reißerisch gehalten,

So stellt eine solche Zeitschrift das medizinische Korrelat einer sensationslüsternen Boulevardpresse dar. Sie unterstützt die Pharma-Industrie nicht nur durch Anzeigen, sondern auch im Textteil. Für die Fortbildung sind diese Organe nicht ausreichend, so gut sie auch journalistisch aufgezogen sein mögen. Natürlich sind sie gefüllt mit Industrieanzeigen, und der Verlag verschickt sie vielfach umsonst. Manche Leser sind von dem Inhalt begeistert, wie abgedruckte Leserzuschriften zeigen.

Auch die sogenannten Standeszeitschriften kosten den Arzt meist nichts. An ihrer Spitze steht das »Deutsche Ärzteblatt«, das allen Ärzten jede Woche unentgeltlich zugeht. Die übrigen sind die zahlreichen lokalen Standeszeltungen verschiedener Herkunft. In Berlin zum Beispiel gibt es außer dem »Deutschen Ärzteblatt« das »Mitteilungsblatt der Kassen ärztlichen Vereinigung«, das »Berliner Ärzteblatt« und das Blatt der Ärztekammer. Drei davon sind unentgeltlich, so daß jeder Berliner Kassenarzt mindestens drei solcher Blätter frei ins Haus geschickt bekommt.

Der Text dieser Blätter ist oft unbeschreiblich langweilig. Er besteht aus amtlichen Bekanntmachungen, Propaganda für Tagungen oder Kurse, Berichten über Verhandlungen mit Krankenkassen, illustriert mit Bildern von Ärzteführern. Oft werden ganze Verträge mit Krankenkassen oder ihre Änderungen mit allen Paragraphen abgedruckt, oft auch Urteile von Sozialgerichten oder ihrer Berufungsinstanzen mit vielen Spalten Begründung.

Das »Deutsche Ärzteblatt«, das früher nur alle 14 Tage erschien und ein im Umfang bescheidenes Heftchen war, erscheint jetzt jede Woche und ist mindestens dreimal so umfangreich wie früher. Sein Text dehnt sich auf Steuerratschläge und -urteile aus. Daneben gibt es aber auch reines Feuilleton nichtärztlicher Art und sogenannte Sachverständigenberichte über Autos oder Börsenratschläge. Meist gibt es auch einen wissenschaftlichen Aufsatz in einem Heft. Polemiken gegen Behörden, Krankenkassen oder Ärzteorganisationen sind häufig.

Für die ärztliche Fortbildung sind das »Deutsche Ärzteblatt« und die anderen Standesblätter ohne Bedeutung. Finanziert werden sie jedoch ebenso wie die anderen Zeitschriften durch die Anzeigen der pharmazeutischen Industrie. Diese Anzeigen werfen für die Verleger der Zeitschriften mit großer Auflage enorme Gewinne ab. Dies bedeutet für alle Verlage dieser Art eine starke finanzielle Bindung an die Industrie. Es ist nicht zu erwarten, daß diese Verlage in ihren Zeitschriften ohne lebenswichtige Notwendigkeit irgend etwas bringen werden, das sich für die pharmazeutische Industrie nachteilig auswirkt.

Es ergibt sich also, daß die gesamte medizinische Presse -- mit Ausnahme der rein wissenschaftlichen Zeitschriften -- durch die massenhaften Anzeigen der pharmazeutischen Industrie, deren Preis 100 Millionen Mark pro Jahr erreichen dürfte, unterhalten wird und dadurch von ihr mehr oder weniger abhängig ist. In England betrugen die Aufwendungen der Pharma-Industrie für Zeitschriftenanzeigen im Jahre 1965 nur etwa 15 bis 16 Millionen Mark.

Für die Fortbildung stehen außer den Zeitschriften und den anderen bereits genannten Quellen allgemeine Fortbildungskurse und Kongresse einzelner Fachgebiete zur Verfügung.

Fortbildungskurse werden von der Bundesärztekammer und anderen Ärzteorganisationen veranstaltet. Sie sind von recht unterschiedlicher Qualität. Die Programme werden von Gremien gestaltet, in denen die Universitäten nur einen geringen Einfluß besitzen. Sie gehen an manchen wichtigen, aber kitzligen Themen, wie dem Arzneimittelproblem, vorbei.

Vor allem aber gibt es nur eine begrenzte Zahl von Kurslehrern, die ein kompliziertes Thema autoritativ und dabei spannend behandeln können, und diese können nur für eine begrenzte Zahl von Stunden in Anspruch genommen werden.

Auch werden trotz aller Bemühungen der ärztlichen Standesorganisationen die Fortbildungskurse nur von einem relativ kleinen Teil der Ärzte besucht, da dieser Besuch einen erheblichen Zeitverlust bedeutet und eine bezahlte Praxisvertretung notwendig macht, die schwer zu bekommen Ist.

Dazu kommt, daß sowohl die großen Fortbildungskongresse wie die Spezialkongresse der verschiedenen Fachrichtungen immer mehr von der pharmazeutischen Industrie abhängig werden.

Wer die riesigen pharmazeutischen Ausstellungen eines Berliner Fortbildungskongresses oder der Karlsruher Veranstaltung gesehen hat, die einer Messe gleichen, wird verstehen, wo die Finanzen dieser Veranstaltungen herkommen. Die Veranstalter zögern naturgemäß, etwas auf die Tagesordnung zu bringen, was für ihre Geldgeber abträglich sein könnte. Manche Teilnehmer erinnern sich noch recht gut, welcher Sturm der Entrüstung sich in der Pharma-Industrie vor wenigen Jahren nach dem Berliner Fortbildungskongreß entlud, weil der Einleitungsvortrag eines bekannten Pharmakologen gewisse Mißstände im Arzneimittelwesen hervorhob.

Die Kongresse der Fachgebiete sind ebenfalls finanziell von der Industrie abhängig. In den letzten Jahren Ist geradezu ein Kongreßfieber ausgebrochen, und der Jahreskalender reicht schon lange nicht mehr aus, alle diese Kongresse hintereinander stattfinden zu lassen.

Es läßt sich vermuten, daß die pharmazeutische Industrie zu den meisten Kongressen und Tagungen erhebliche finanzielle Beiträge leistet, aus denen zum Beispiel die Reise- und Unterhaltskosten der Vortragenden bezahlt werden. Solche Treffen werden auch manchmal direkt von der Industrie angeregt und bezahlt. Und wer von uns könnte sich ohne weiteres der Versuchung entziehen, aus Deutschland kostenlos nach Capri oder Tarragona zu reisen, um dort an einer Diskussion teilzunehmen, wenn er dazu eingeladen wird? Und welcher Arzt wird es dann nicht als undankbar empfinden, ein Produkt der gleichen Firma öffentlich als unnütz zu bezeichnen, wenn es ihm einige Zeit danach zur Prüfung vorgelegt wird?

Die Berichte über Kongresse gehen durch alle Wochenschriften hindurch, die »wissenschaftlichen« wie die »populären«, und der Leser wird aus dem Vorstehenden entnehmen, daß die Einflußnahme der pharmazeutischen Industrie sich auf alle Zweige der Fortbildung erstreckt. Die von ihr ausströmenden Gelder verhindern eine objektive Haltung der Zeitschriftenredaktionen und sind geeignet, die Haltung der Ärzte in einer freundschaftlichen Weise zu beeinflussen.

Selbst die Haltung der theoretischen Mediziner, also zum Beispiel der Pharmakologen, wird hierdurch beeinflußt werden, denn ihr oft knapper Institutshaushalt wird nicht selten durch die Übernahme des Gehalts von wissenschaftlichen Assistenten oder technischen Assistentinnen wohltuend ergänzt, wenn bestimmte, eine Firma interessierende Probleme bearbeitet werden sollen.

Ist es dann verwunderlich, wenn sich im Conterganprozeß herausstellt, daß die Veröffentlichung von schädlichen Nebenwirkungen in einer Zeitschrift zurückgestellt wurde? Ist es verwunderlich, daß Chloramphenicol, ein hervorragendes, aber für einen geringen Prozentsatz der Patienten sehr gefährliches Antibiotikum, als »bestes« Mittel, ja als Panzerwaffe gegen Infektionen herausgestellt wird, ohne daß die tödlichen Nebenwirkungen auch nur erwähnt werden?

Ist es verständlich, daß in der Bundesrepublik keine Firma gesetzlich verpflichtet ist, bei der Anpreisung Ihrer Waren auf die Nebenwirkungen hinzuweisen, wie dies in den Vereinigten Staaten der Fall 151*? Kann man begreifen, daß die pharmazeutische Industrie jedes Jahr ohne jeden Protest der Ärzteschaft 300 bis 400 »neue« Präparate herausbringt, die meist nicht Ergebnisse der Forschung, sondern neue Formen oder Kombinationen von seit langer Zeit vorhandenen Substanzen sind?

Die Industrie versucht auch, ganz abgesehen von ihrer Zeitschriftenwerbung, auf die Praxis der Medizin Einfluß zu nehmen. Sie schickt ihre Vertreter zu den Ärzten. um sie über ihre Produkte zu »informieren«, das heißt, sie ins beste Licht zu setzen.

Die großen Firmen schulen ihre Vertreter in besonderen Kursen und bereiten ihnen sorgfältig die Antworten vor, die sie den Ärzten auf schwierige Fragen geben sollen. Außerdem überschwemmen sie die Ärzte tagtäglich mit einer Lawine von postalischen Werbesendungen, die vielfach noch nicht einmal die Zusammensetzung der angepriesenen Präparate angeben.

* Als erste große deutsche Firma haben sich die Farbenfabriken Bayer vor einigen wachen entschlossen, Nebenwirkungen und Kontraindikationen ihrer Medikamente auch in Anzeigen und Werbetexten mit aufzuführen.

Diese enthalten oft Musteranforderungskarten, und die so bestellten Muster werden dann bei Gelegenheit an die Patienten verteilt,

Solche Werbung würde der Praxis der Medizin nicht abträglich sein, sondern sie sogar unterstützen, wenn sie zuverlässige Informationen vermittelte. Zuverlässig ist eine Werbung aber nur dann, wenn sie sich auf unbestreitbare Tatsachen beschränkt und alle Vorzüge und Nachteile ihres Objekts darstellt.

In der Medizin ist diese Zuverlässigkeit eine absolute Notwendigkeit, da die medizinische Wissenschaft heute so kompliziert Ist, daß der einzelne Arzt irgendwelche Behauptungen nur in seltenen Fällen sofort nachprüfen kann, und auch nur in seinem Spezialgebiet. Der Arzt muß sich bei seiner Wahl des Arzneimittels auf die Informationen, das heißt die Werbung der pharmazeutischen Industrie verlassen können. Er tut dies auch heute noch in vielen Fällen, weil diese Werbung kaum je Widerspruch findet.

Wie sie aber in Wirklichkeit aussehen kann, geht aus den nachfolgenden Beispielen hervor:

* Metabolan: »programmiert die Leber auf Regeneration, stellt die normalen Leberfunktionen bei chronischer Hepatitis, auch mit Zirrhose, und bei Fettleber wieder her«. Schön wär's -- aber: erstens ist jede geschädigte Leber schon von Natur aus auf Regeneration »programmiert«, zweitens ist die Wiederherstellung normaler Leberfunktionen bei Leberzirrhose nach keinem Mittel gelungen ...

* Dilcoran: »die Entwicklung zum Herzinfarkt kann unterbrochen werden« -- durch ein coronarerweiterndes Mittel, dessen Wirkung von vielen Seiten angezweifelt wird. Wenn es wirklich diese Entwicklung unterbrechen würde, würde sein Umsatz alle anderen Arzneimittel in den Schatten stellen.

* Recaps Depot: »gegen vorzeitiges Altern gibt es eine neue Möglichkeit«. Ein Procainpräparat, das regenerierende, tonisierende, potenzsteigernde und vitalisierende, durchblutungsfördernde. gefäßabdichtende sowie antiarteriosklerotische Eigenschaften« hat -- Behauptungen, teilweise so allgemeiner Natur, daß es für sie keinerlei exakte Beweise geben kann Manchmal ist es ausgesprochener Unsinn und als solcher leicht erkennbar. Andere Anzeigen sind durch komplizierte Redensarten etwas mysteriös verschlüsselt, etwa wie bei > Vivioptal: »Vitamine. lipotrope Substanzen und andere Bioaktivatoren von beispielloser Komplexität, sinnvoll dosiert für eine effektvolle Substitutionstherapie« für alternde und alte Menschen, die zu jung sind. um alt zu sein.« Dieses Mittel enthält dreißig verschiedene Vitamine, teilweise in winzigen Mengen. Nicht alle Anzeigen sind so irreführend, daß schon der Laie ihre Unsinnigkeit erkennt, aber es ist erstaunlich, daß viele Ärzte auf diese und viele andere Werbetricks hereinfallen. Die Umsätze der pharmazeutischen Fabriken zeigen aber, daß ihre Werbung tatsächlich bei vielen Ärzten Erfolg hat, zumal sie nicht immer so plump ist wie in den obigen Beispielen.

Die Regierung hat uns nun 1965 das Heilmittelwerbegesetz beschert, das gerade diese Art von Werbung, die irreführende Behauptungen aufstellt, unmöglich machen soll. Auf dem Gebiet der Ärztewerbung aber hat sich dieses Gesetz als völliger Fehlschlag erwiesen ...

Irreführend ist beispielsweise die Werbung für einen großen Teil der sogenannten fixen Kombinationspräparate. Dies sind Präparate, die aus zwei, drei oder vielen verschiedenen Substanzen bestehen. Ihr Gebrauch wird von den meisten Pharmakologen aus zwei Hauptgründen abgelehnt: Man kann die Dosis eines Einzelbestandteils dieser Mittel nicht den individuellen Bedürfnissen des Patienten anpassen, ohne gleichzeitig alle Bestandteile zu ändern. Auch wird durch die fixen Kombinationen die Möglichkeit der schädlichen Nebenwirkungen und Wechselwirkungen vervielfacht.

Trotzdem gibt es in der Bundesrepublik viele Tausende von Kombinationspräparaten, mehr als drei Viertel aller Präparate aus der »Roten Liste«.

Da wird alles wild durcheinander kombiniert: Belladonna, Cortisone, Digitalis, Antibiotika, Sulfonamide, Enzyme, Tranquilizer, Analgetika, bronchialerweiternde Mittel, ganz zu schwelgen von den wirkungslosen Substanzen oder Substanzen mit zweifelhafter Wirkung, wie vielen Vitaminen, sogenannten coronarerweiternden Mitteln, Roßkastanie, Weißdorn und vielen anderen.

Es gibt freilich einige wenige Kombinationen, die nützlich sein können, aber die meisten Kombinationen haben den zusätzlichen Nachteil, daß ihre Bestandteile so vorsichtig dosiert sind, daß eine Wirkung gar nicht erwartet werden kann. Sie sind daher meist wenigstens unschädlich ...

Wie kommt es, daß solche Mittel tatsächlich verordnet werden? Um dies zu verstehen, muß man den ungeheuren Druck kennen, mit dem die pharmazeutische Werbung auf die Ärzte herunterprasselt. Die Zeitschriften sind, wie anfangs geschildert, voll glanzvoller Anzeigen -- man kann keine Textseite lesen, ohne gleichzeitig eine Anzeige in fetten Buchstaben zu sehen.

Geschulte Vertreter besuchen außerdem die Ärzte und erzählen ihnen von den fabulösen Erfolgen ihrer Mittel. Sie lassen ihnen Muster da und fordern den Arzt auf, mehr Muster zu verlangen. Der Arzt gibt das eine oder andere dem Patienten mit, und wenn dieser Günstiges berichtet -- mit Recht oder Unrecht -- denkt mancher Praktiker »vielleicht ist doch etwas dran« und verordnet es. Bis er dann, nach Monaten oder Jahren, dahinterkommt, daß »vielleicht doch nichts dran ist«, gibt es schon wieder andere Mittel, und die Fabrik hat möglicherweise bis dahin schon genügend an dem ersten Mittel verdient.

Entscheidend ist, daß jede öffentliche Kritik fehlt. Die Fabriken sorgen dafür, daß günstige Berichte gedruckt werden, wenn auch vielleicht teilweise in obskuren oder wenig anerkannten Zeitschriften, und diese Berichte werden dann bündelweise bei den Ärzten herumgereicht, und viele Ärzte nehmen wahrscheinlich an, daß keine renommierte Fabrik Behauptungen aufstellen wird, die nicht richtig sind.

Er liest keine Gegenstimmen, denn wenn sie existieren, sind sie kaum zu hören und werden von der Propaganda übertönt. Das Werbegebaren der Industrie und die Massenproduktion unnötiger und untauglicher Mittel wird praktisch niemals öffentlich kritisiert, weder in den Zeitschriften noch von den Ärzteorganisationen oder Ärzteführern.

Bezeichnend ist, daß der Geschäftsführer der Bundesärztekammer, Professor Stockhausen, in einem Vortrag Im Frühjahr 1969 sich ausführlich mit der Arzneimittelsicherheit und dem Zulassungsverfahren in Deutschland befaßt hat (das ihn offenbar völlig befriedigte), aber nicht mit einem Wort auf die Wirksamkeit oder vielmehr Unwirksamkeit vieler Arzneimittel und die irreführende Werbung einging.

Die Bundesärztekammer wünscht auch offenbar nicht, an den Werbemethoden der Industrie etwas zu ändern. Denn sie hat kürzlich gegen eine Richtlinie der EWG, die eine Anzeigenzensur vorsieht, Einspruch erhoben.

Wir sehen also, daß die übermächtige Werbung der Pharma-Industrie im Mittelpunkt des ganzen Arzneimittelwesens, das heißt der Arzneimittelmisere, steht. Sie beherrscht die Zeitschriften und die Kongresse, so daß sie große Mengen von Mitteln auf den Markt werfen und absetzen kann, die ganz oder teilweise nutzlos sind. Die Ärzte haben sich als ebenso anfällig gegenüber dieser Propaganda erwiesen wie das allgemeine Publikum gegenüber anderen Werbemaßnahmen. Dazu kommt, daß die Ausbildung der Ärzte gerade in der Pharmakologie schon seit Jahren völlig unzureichend ist.

So kann es nicht mehr weitergehen. Wir Ärzte können nicht weiter in einer Atmosphäre leben, In der die Psychologie des »Weißen Riesen« herrscht, der jeden Tag durch einen noch weißeren Riesen abgelöst wird. Die Technik des kaufmännischen Wettbewerbs darf nicht unbeschränkt auf die Arzneimittel übertragen werden, die die Krankheit bekämpfen sollen und bei deren Anwendung objektive Maßstäbe angelegt werden müssen.

Auch die Preispolitik der Industrie bedarf der Nachprüfung. Für viele Substanzen, deren Patent abgelaufen ist, gibt es gleichwertige, »gegnerische« Präparate, wie schon seit langen Jahren für Aspirin. Es sollte nicht erlaubt sein, daß die Hersteller der sehr viel teureren Markenartikel ihre billigeren Konkurrenten als minderwertig verteufeln, obwohl sie in vielen Fällen die Grundsubstanz selbst hergestellt haben und kein Beweis für die Minderwertigkeit des billigeren Produkts besteht.

Unsere Industrie muß sich von den schädlichen Gewohnheiten, die sich in langen Jahren eingebürgert haben, befreien, und es hat den Anschein, daß dies bei uns ohne staatliche Hilfe nicht möglich sein wird.

Die Pflicht der Regierung wird es sein, der Industrie zu geben, was der Industrie zukommt. Sie muß die Möglichkeit haben, die relativ wenigen Arzneimittel mit solchem Nutzen zu verkaufen, daß sie in der Lage ist, weiter selbständig Forschung zu betreiben und nicht von dem Nutzen der vielen wenig oder gar nicht wirksamen Mittel abhängig ist.

Dies wird die Industrie von der Notwendigkeit befreien, für diese Mittel irreführende Behauptungen aufzustellen. Sie wird dann auch von der Notwendigkeit befreit sein, irgendwelche zweifelhaften Mittel zu machen, die rasch Geld bringen (sogenannte »pot boilers"), wie das kürzlich erschienene Tonol einer bekannten Berliner Firma, von dem alternde Männer eine Potenzsteigerung erhoffen sollen.

Die Ärzte werden mit den verhältnismäßig wenigen dann noch verbleibenden Mitteln mehr anzufangen verstehen als mit dem jetzigen Überfluß, und diese Veränderung wird sich auch auf die Ökonomie des Arzneiverbrauchs, der die Krankenversicherung besonders interessiert, günstig auswirken.

Das Arzneimittelwesen In der Bundesrepublik bedarf dringend einer durchgreifenden Reform:

* Die Werbung der Pharma-Industrie, die die gesamte Praxis der Medizin nachteilig beeinflußt, muß durch den Staat so wirksam kontrolliert werden, daß jede Irreführung über die Wirkung eines Mittels oder das Verschweigen von Nebenwirkungen unmöglich wird.

* Die Zulassung von Arzneimitteln muß an den Nachweis ihrer Unschädlichkeit und Wirksamkeit gebunden sein. Dazu gehört, daß Kombinationspräparate nur ausnahmsweise zugelassen werden.

* Die Preisgestaltung der Pharma-Industrie bedarf staatlicher Überwachung. Die Preise der auf dem Markt verbleibenden beschränkten Zahl der Arzneimittel sollten so hoch sein, daß der Industrie bei normaler Informationsgestaltung genügend Überschuß bleibt, um experimentelle Forschung zu treiben.

* Die Einrichtung staatlicher Sachverständigenausschüsse zur Erreichung dieser Ziele erscheint geboten.

Es mag sein, daß die hier vorgetragenen Gedankengänge das Vertrauen mancher Laien zu den Arzneimitteln erschüttern. Ich fürchte jedoch, daß das Vertrauen der großen Mehrheit in die Sicherheit und Wirksamkeit vieler Arzneimittel, zumindest seit den Contergan- und Menocil-Affären, bereits tief erschüttert ist. Diese Vertrauenskrise hat dazu geführt, daß der Laie viel kritischer gegenüber den Arzneimitteln ist als früher.

Die Öffentlichkeit erwartet von einem Arzneimittel, daß nicht nur seine Sicherheit, sondern auch seine Wirksamkeit gewährleistet ist. Auch die große Masse der Öffentlichkeit wird bald zu dieser realistischen Auffassung kommen und wird vom Arzt eine entsprechende Haltung erwarten.

Professor Herbert Herxheimer

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