

Coronabilanz Interessant wäre ein Virus, dem nur Idioten zum Opfer fallen

Zum ersten Lockdown vor zwei Jahren schrieb der Schriftsteller Jochen Schmidt darüber, warum er das Zuhausebleiben schon immer geliebt hat, jetzt sind viele Coronamaßnahmen gefallen, gleichzeitig scheitert die Bundesregierung mit einer Impfpflicht. Wir haben Schmidt gefragt: Wie ist es Ihnen seitdem mit Corona ergangen, wie geht es Ihnen heute?
Es ist immer aufschlussreich, zu beobachten, wie die Passanten reagieren, wenn ich an ihnen vorbeijogge. Vor zwei Jahren, als man noch dachte, die Pest breche aus, haben manche einen richtigen Hüpfer zur Seite gemacht, momentan muss ich wieder Slalom laufen oder auf die Straße ausweichen, sozusagen auf meinen persönlichen Pop-up-Fußweg, wozu ich mich als Jogger berechtigt fühle, außerdem fahren inzwischen ja auch elektrische Roller auf dem Bürgersteig.
Damals hat man eine Weile den Jackenärmel über die Hand gezogen, um die Klinke der Haustür aufzudrücken, auch die Kinder haben das gemacht, und man hatte Angst, dass sie deshalb einen Waschzwang entwickeln, es wäre einem nicht mehr eingefallen, beim Abgeben der Kinder im Kindergarten mit dem Finger ein Herz ans behauchte »Kussfenster« zu malen.
Covid hatte meine Familie trotzdem ziemlich bald, zum Glück sehr milde, dennoch fühlte man sich damals noch wegen der besorgten Blicke, die man erntete, wenn man davon erzählte, ein bisschen besonders, als hätte man »etwas durchgemacht« und endlich eine Biografie. Dabei ging es mir dann in den letzten zwei Wintern viel besser als in vergangenen Jahren, ich war kaum noch erkältet, das haben ja schon viele an sich bemerkt, vielleicht liegt es an den Masken, vielleicht auch am Stahlbad der Kindergartenkeime, durch das wir gegangen sind.
Ich habe weder Angst vor Corona, noch stören mich Maßnahmen dagegen. Ich hoffe, das Tragen der Maske wird auch in einer Zukunft ohne Corona eine gesellschaftlich akzeptierte Möglichkeit bleiben, sich bei Erkältungswellen zu schützen. Aber vielleicht wird man sich auch wieder fühlen wie ein Bankräuber, der für den Weg zur Arbeit die Straßenbahn nimmt.
Die Maske macht mir persönlich auch deshalb nichts aus, weil ich schon seit vielen Jahren daran gewöhnt bin, nachts eine Schlafmaske zu tragen, dazu Ohrstöpsel, Schnarchzapfen, eine Beißschiene gegen Zähneknirschen und inzwischen auch eine Hallux-valgus-Schiene am linken Fuß, es fühlt sich immer an, als würde ich mich für einen Raumflug präparieren, wenn ich ins Bett gehe.
Als die Masken noch aus Stoff waren und man sich eine lustige besorgte, eine die aussah wie die Maske von Hannibal Lecter, oder wie ein Damenslip, fand ich es praktisch, dass ich immer ein Stück Stoff in der Tasche hatte, um meinen regennassen Fahrradsitz trockenzuwischen. Natürlich mit einem leichten schlechten Gewissen, das ich auch habe, wenn meine FFP2-Maske manchmal ein bisschen sehr schmutzig ist, das erzeugte eine ganz neue Form von Scham. Wer eine schmutzige Maske trägt, wie wird da erst seine Unterwäsche aussehen? (Vielleicht bevorzugen deshalb manche schwarze Masken?)
Meine Mutter schämte sich beim Lockdown einmal, als sie schnell in der Tankstelle eine Zeitung kaufen wollte, was ja nicht erlaubt war, deshalb zog sie zur Tarnung ihren Einkaufstrolley (»Rentner-Volvo«) hinter sich her, damit es so aussah, als gehe sie zu Rewe, denn das durfte man. Einmal habe ich, weil ich meine Maske vergessen hatte, vor der Kaufhalle überlegt, ob ich wirklich wieder zurückgehen und sie von zu Hause holen, oder schnell unbemerkt eine Weggeworfene vom Bürgersteig aufheben sollte.
Dabei bin ich eigentlich ziemlich neurotisch, was Keime betrifft, ich spüle zum Beispiel immer mit geschlossenem Klodeckel, seit ich gelesen habe, dass man sonst die Bakterien durch den Raum schleudert, in meinem Bekanntenkreis werde ich nur noch übertroffen von meinem Schwiegervater, der einmal einem Sportfreund beim Fußball ein Handtuch geborgt hatte und es, als er es zurückbekam, nicht mehr benutzen aber auch nicht wegwerfen wollte, weshalb er es jahrelang nach dem Waschen immer gleich wieder zur Schmutzwäsche warf, ohne dass seine Frau etwas davon bemerkte.
Was Corona betrifft, denke ich, es hätte auch schlimmer kommen können, und wir hätten von einem Virus heimgesucht werden können, das für alte Menschen ungefährlich und für Kinder gefährlich ist. Wobei das natürlich Ansichtssache ist. Interessant wäre ein Virus, dem nur Idioten zum Opfer fallen, wer hätte es dann noch gewagt, seine Wohnung zu verlassen? Man weiß ja nicht, ob man in Wirklichkeit auch ein Idiot ist. So gut kennt man sich ja gar nicht. Eigentlich denken ja nur Idioten, dass sie keine Idioten sind.
Ich habe in der Zeit der Pandemie zweimal gewissenhaft für einen Halbmarathon trainiert, der dann abgesagt wurde, dabei war ich gerade in eine neue Altersklasse gerutscht, und in der wäre ich wieder einer der jüngsten gewesen. Meine langen Läufe, die man zur Vorbereitung machen soll, haben mich meist durch Ost-Berlin geführt, gern an großen Straßen vor oder hinter endlosen Plattenbauten entlang, dann muss man nicht so oft an Ampeln halten und man hat auch keine Angst, sich zu verlaufen.
Ich liebte die sommerliche Stille in einem Plattenbau-Karree, wenn es dort ein großes, von Unkraut überwuchertes Planschbecken gibt, DDR-Skulpturen, die hinter Buschwerk verschwunden sind, Baumwurzeln, die den Asphalt hochdrücken, überraschende Durchgänge zur Straße. Einmal kam ich aus einem Stück Stadtwald, schlüpfte durch eine Zaunlücke und stand auf einem riesigen, leeren Parkplatz vor der Wand eines Möbelhauskastens, solche intensiven Übergänge erlebt man in der Natur gar nicht, deshalb laufe ich so gerne in der Stadt.
Ich fing irgendwann an, auf Abdrücke im Asphalt zu achten, die hinterlassen wurden, als er noch frisch war, also als die Viertel in den Siebziger- und Achtzigerjahren errichtet wurden. Hundespuren, Kinderschuhe, Vögel, sogar Inschriften findet man, wie freute ich mich, als ich in Berlin-Lichtenberg einmal am Boden ein Herz entdeckte, in dem »Udo L.« stand, das musste bestimmt schon 40 Jahre alt sein und hatte bis heute überlebt, und Udo L. lebt ja auch noch, nur dass er vermutlich nicht mehr der Held der Jugendlichen von Lichtenberg ist, dafür aber natürlich seit vielen Jahren meiner.
Eigentlich müsste man solche Spuren untergegangener Kulturen längst archäologisch sichern. Auf der Grenze zwischen Lichtenberg und Marzahn fand ich auch einen fast im Originalzustand erhaltenen, ganz einsam stehenden Plattenbau, der aber schon anderen aufgefallen ist, man kann ihn nämlich, wie ich nachgelesen habe, als Filmkulisse mieten. Ich könnte mir vorstellen, da einzuziehen und tagsüber als Ossi zu arbeiten.
Nebenbei sammelte ich, da ich immer mit Fotoapparat jogge, schlechte Wortspiele aus der Werbung (»Stromnetz Berlin: Hier gibt’s Watt für jeden«, »Ich will ein Rind von dir: Lieferando«, eine Bowlingbahn hieß »Bowlero's«, und an einem Grillstand wurde für »festliche MomENTE« geworben) oder Wegwerftrends, z.B. Katzenkratzbäume, während Bürostühle ja ein Evergreen des inoffiziellen Sperrmülls sind, der unsere Straßen interessanter macht. Wer kann mir erklären, warum so viele alte Bürostühle auf die Straße gestellt werden? Man will seinen zwar nicht mehr, aber man denkt, für weniger anspruchsvolle Mitmenschen sei er noch gut genug? Es gibt dagegen kaum noch weggeworfene Röhrenbildschirme zu sehen, vielleicht gibt es dafür schon wieder Sammler? Ich freue mich über jeden, den ich noch finde und dokumentieren kann.
Oft bin ich vom Laufen auch mit Mitbringseln zurückgekommen, die ich aus Verschenkekisten, von denen seit der Pandemie viel mehr in den Hauseingängen stehen (vor allem am Sonntagvormittag), mitgenommen und unter dem Hemd transportiert habe, in »besseren Gegenden« findet man schon mal ein paar nagelneue Kinderschlittschuhe, einmal habe ich auch Boxhandschuhe gefunden, ein alter Kindheitstraum, dummerweise hatten wir den Boxsack meiner Freundin gerade bei eBay-Kleinanzeigen verkauft, ich benutze sie jetzt als Türstopper. Wir selbst müssen unseren Verschenke-Abfall immer bis in die Außenbezirke Berlins schaffen, damit meine Kinder die Kisten nicht entdecken und alles wieder nach Hause schleppen.
Manchmal habe ich beim Laufen auch angehalten, um eine Kette bemalter Steine vor einem Kindergarten zu betrachten, oder ich habe einen Schlenker gemacht, um mir eine in Folie verpackte Predigt mitzunehmen, die in Plastiktüten an einem Kirchenzaun hingen, aber ich habe sie dann doch nie richtig gelesen, trotzdem war es eine schöne Geste. Es war sogar einmal eine Kerze dabei.
Sehr einverstanden war ich damit, eine Weile nicht mehr zum Friseur zu müssen, denn das habe ich schon immer gehasst. Außerdem sehe ich nicht ein, dass sie meine Haare nach dem Schneiden in ihr »Haarloch« kehren und vermutlich als teuren Rohstoff verkaufen, ohne dass ich davon profitiere. Schön finde ich es auch, wenn an der Ampel einer der vielen Essensboten, die es jetzt gibt, mit seinem Fahrrad und seinem würfelförmigen Rucksack neben mir hält und in einer interessanten Fremdsprache telefoniert, es ist ein bisschen wie Urlaub, man könnte es »Passivreisen« nennen, so wie ich, als ich mir das Rauchen abgewöhnt habe, manchmal an Ampeln freiwillig meine Nase in eine fremde Tabakwolke getaucht habe.
Ich habe, nachdem ich mich immer für völlig unbegabt gehalten habe und ohne, dass sich das jetzt plötzlich geändert hätte, eine Schachleidenschaft entwickelt, am besten sind natürlich die Partien gegen meine Tochter, bei denen jede Figur so ziehen darf, wie sie will und auch mehrere gegnerische Figuren auf einmal schlagen, bis alle weg sind. Sie dreht immer die Köpfe der Pferde nach vorn, das ist ihr wichtig.
Ein paar Monate habe ich jeden Abend eine von Daniel Kings Test-und-Training-Partien aus dem »Schach 64«-Magazin nachgespielt. Schach macht eigentlich jede andere intellektuelle Bemühung überflüssig und ist zudem überaus komplex und dabei, was mir besonders gefällt, vollkommen zweckfrei. Ich habe sogar das Buch »Spiel mit gegen Großmeister«, das ich mir als Junge einmal in der Kaufhalle gekauft hatte, um festzustellen, ob ich schon so gut wie Bobby Fischer war, und mit dem ich damals dann nichts anfangen konnte, weil ich keinen einzigen richtigen Zug erriet, durchgearbeitet, eine wirkliche Freude, solch eine alte Schuld endlich beglichen zu haben. Das Schöne am Schach ist ja, dass man immer meint, man stehe kurz davor, es zu verstehen, was aber gar nicht möglich ist. Mit meinem Schwiegervater spiele ich manchmal am Telefon, und wir trinken dabei Rotwein. Er muss, weil er sich mit Wein auskennt, immer teuren kaufen, während mir zum Glück auch der billigere schmeckt. Er war mal Vereinsspieler und ist der Meinung, nur Schachspieler und Juristen sollten ein Wahlrecht haben.
Wenn Corona lange genug dauert, werde ich vielleicht auch noch das BGB lesen. Das sind natürlich alles Rückzugsgefechte, denn meine geistige Spannkraft lässt in meinem Alter schon nach, ich kann nichts dagegen tun, aber immerhin kann ich es dokumentieren. Ich schreibe mir jetzt zum Beispiel immer auf, welche Wörter mir nicht eingefallen sind, neulich im Heimwerker-Laden »Sperrholz«, ich kam mir vor, als spiele ich »Tabu«, als ich erklären wollte, was ich suchte, ohne »Sperrholz« zu sagen. Ein andermal war es der Name dieses einen Schauspielers, den man schon aus diesem anderen Film kannte, wenn das derselbe war.
Man denkt ja immer gleich, man habe Long Covid. (Es gab tatsächlich einen unangenehmen Moment, als ich einmal dachte, meine Bronchien würden schwellen und die Luft bliebe mir weg, aber es war dann nur Sodbrennen.) Ich bin auch schon eingeschlafen, während ich meinen Kindern vorgelesen habe, ich habe dabei das Wort »Ententeich« gemurmelt, obwohl es nichts mit dem Buch zu tun hatte. Ich weiß nicht, was das zu bedeuten hat.
Einmal waren wir rodeln, es lag tatsächlich Schnee, und die Polizei musste, weil zu viele Menschen sich angesammelt hatten, die Leute auffordern, den Ort zu verlassen (»Kommen Sie einfach in einer halben Stunde wieder«, murmelte mir ein Polizist zu.) Manche haben sich mächtig aufgeregt über diese Maßnahme. »Wir halten uns nur an unsere Anweisungen ...« »Ja, genau wie '33!« Einerseits war es vielleicht das letzte Mal, dass meine Kinder in ihrer Kindheit im Winter Schnee erleben werden, andererseits kam mir der Vergleich doch etwas übertrieben vor.
Manches, was andere an den Coronamaßnahmen stört, nehme ich sowieso eher gelassen. (Wenn ich einen Maserati sehe, denke ich immer: bestimmt Impfgegner.) Gerade ist die Impfpflicht im Bundestag durchgefallen. Ich hingegen freue mich sogar, dass die Kanülen beim Impfen heutzutage so spitz sind, dass man den Einstich kaum noch spürt, das war in meiner Kindheit ganz anders, da haben die Schwestern die Kanülen, die natürlich sterilisiert und wiederverwendet wurden, wenn sie zu stumpf geworden waren, selbst angeschliffen.
Das kleine Pflaster habe ich ewig an meiner Schulter kleben gelassen, wie die Jugendlichen, die immer ihre Festivalarmbänder vom Sommer das Jahr über am Handgelenk tragen.
Die Nasen-Selbsttests begeistern mich sogar richtig, weil man sich dabei ein bisschen wie ein Wissenschaftler fühlen darf, wenn man seinen verdünnten Schleimhautabstrich mit einer Pipette gegen das Licht hält und vorsichtig auf ein Spezialpapier träufelt (warum eigentlich ausgerechnet drei Tropfen? Das hat so etwas Märchenhaftes.)
Es macht Spaß, diese Chromatografien zu machen, wie im Chemieunterricht, obwohl ich den gar nicht mochte, da haben wir das mal mit Kugelschreiberfarbe gemacht, man sieht dann die verschiedenen Farbstoffe, aus denen die Tinte besteht, weil sie vom Papier unterschiedlich schnell und weit aufgesogen werden. Auf den erlösenden Strich zu warten, ist aufregend wie früher das Warten auf das Bild beim Entwickeln von Fotos in der Dunkelkammer.
Man ist fast ein bisschen enttäuscht, wenn das Ergebnis immer negativ ist. Ein Freund schrieb mir auf meine SMS, ob wir uns mal wieder zum Spazieren treffen wollten: »Bin positiv. Termine im Februar?« Erst zwei Wochen später fiel bei mir der Groschen, dass er »positiv« war und nicht etwa »einem Treffen gegenüber positiv eingestellt«, weil er einen Anglizismus verwendet hatte, im Sinne von »I'm positive« (was natürlich in Wirklichkeit auch etwas ganz anderes heißt).
Einmal bin ich auch beschimpft worden, weil ich eine zufallende Kaufhaustür nicht aufgehalten habe, sondern schnell durch die Lücke gehuscht bin, wie beim Fußball zwischen zwei Abwehrspieler. Der Mann war für mein Höflichkeitsempfinden eine Nuance zu weit weg gewesen, um ihm so lange die Tür aufzuhalten, er schien aber zu denken, ich hätte die Tür aus Angst vor Coronaviren nicht anfassen wollen, was ihn sofort aggressiv machte.
Man hat dann immer die Wahl, sich ebenfalls zu ärgern oder sich klarzumachen, dass der Ärger der anderen nichts mit einem selbst zu tun, sondern seinen eigenen »Stammbaum« hat. Die Heftigkeit von Ärger steht meist in keinem Verhältnis zur Bedeutung seines Auslösers.
Da man gegen die Pandemie als Einzelner wenig machen kann, sollte man sie vielleicht als Gelegenheit sehen, sich in Gelassenheit zu üben, das wird einem hinterher sicher noch von Nutzen sein. Es gibt eben keine endgültigen Sicherheiten für uns in diesem Universum, und sehr wahrscheinlich wird man auch über mich irgendwann sagen müssen: »Am Ende seines Lebens ist er ja gestorben.«