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KAFKA Josef in Amerika

aus DER SPIEGEL 43/1966

Franz Kafkas schreckliche Alpträume

von der Schuld der Schuldlosen, von Verzweiflung und Verlassenheit sollen nicht sang- und klanglos bleiben.

So hatten es, jeder für sich, vor Jahren schon die Tonsetzer Gottfried von Einem und Hans Werner Henze beschlossen: Nach Kafka-Texten brachten sie je eine Oper auf die Bühne. Resultat: Henzes »Landarzt«-Musik erwies sich als unfreiwilliges Requiem, von Einems »Prozeß« ging mit klingendem Spiel verloren.,

In dieser Saison warten zwei weitere zeitgenössische Komponisten mit Kafka-Vertonungen auf: Mitte letzter Woche dirigierte der Amerikaner Gunther Schuller, 40, in der Hamburgischen Staatsoper die englisch gesungene Uraufführung seines jazz-durchwirkten Musikdramas »The Visitation« ("Die Heimsuchung").

Nur wenige Tage zuvor hatte die Deutsche Oper Berlin eine Weltpremiere von Roman Haubenstock-Ramati gebracht. Die Oper hieß »Amerika«, hätte aber gleichfalls »Die Heimsuchung« heißen können - so zumindest wurde sie vom Publikum empfunden.

Haubenstock-Ramati, 47, in Krakau geboren, in Israel naturalisiert, in Wien wohnhaft, hat sich mit vokalen Kammermusiken - etwa seinem »Mobile« nach Shakespeare und seinen »Credentials« nach Samuel Beckett - längst als »Komponist eines neuen Idioms« (so Kritiker Hans Heinz Stuckenschmidt) bewährt. Sein allerneuestes »Amerika« -Idiom jedoch, das er im selbstgefertigten Libretto wie in seinen Seriell-Tönen den Berliner Premierengästen kundtat, fand kaum einen Enthusiasten.

Jedenfalls blieb die im Programmheft abgedruckte Bitte, »den Ablauf der Vorstellung zu gewährleisten und Ihre Einstellung zu diesem Werk erst am Ende zum Ausdruck zu bringen«, unerfüllt: Schon am Ende des ersten Teils der zwei Akte und zwei Stunden währenden Oper wurde im Parkett getrommelt, gepfiffen und - von Gast zu Gast

- mit Handgreiflichkeiten gedroht.

Schuld an diesem Unglück war vor allem der Haubenstock-Text, der Kafkas Roman-Fragment in 25 winzige Szenen zerlegte und nur dürftige Dialog-Partikel übrigließ.

Zwar schickt auch Haubenstock, wie Kafka, den aus dem Elternhaus verstoßenen Helden Karl Roßmann in die weite Neue Welt (symbolisiert von Bühnenbildner Michel Raffaelli durch eine wuchtige Drei-Etagen-Kulisse, die in insgesamt 27 Fächer unterteilt ist).

Doch was er dort, in einem Fach oder anderen, unter Landstreichern und Wahlkandidaten, bei Klara und Brunelda, im »Hotel Occidental« und im »Großen Naturtheater von Oklahoma« erleidet, wird nicht einmal versierten Kafka-Lesern klar,

Das Ärgernis, das der Librettist Haubenstock-Ramati stiftete, vermochte der Komponist Haubenstock-Ramati nur noch zu vergrößern. Sein ständig schlagwerktätiges Orchester (Dirigent: Bruno Maderna), durch vierkanalige Stereo -Effekte erweitert, begleitet mit manipulierten Zwölfton-Strukturen, Klangballungen, Tremoli und Glissandi lediglich einen pathetischen und oft ungewollt komischen Sprechgesang.

Fraglich ist allerdings, ob Haubenstock, der von der herkömmlichen Notenschrift nichts hält und seine Kompositionen vorwiegend graphisch fixiert, sein traumspielhaftes, »Amerika« auf diese Weise entdeckt sehen wollte. »Wer getraute sich zu sagen«, gab die »Zeit« zu bedenken, »ob das, was da von der Bühne aus Lautsprechern und Orchestergraben klang, dem in der Partitur Niedergeschriebenen entsprach?«

Partiturgetreu oder nicht: Das Ergebnis war »eine interessant-quälende Langeweile« - so Stuckenschmidt. Und der Kritiker wußte nach seinen Erfahrungen mit Henze, von Einem und Haubenstock-Ramati auch warum: »Kafkas Gedankenwelt ist antidramatisch.«

Von Stuckenschmidts Skrupeln unbelastet, präsentierte der New Yorker Komponist Gunther Schuller letzten Mittwoch in Hamburg dennoch eine

halbwegs dramatische Kafka-Oper, freilich keine hundertprozentige.

In seinem »Heimsuchung«-Stück hat sich Schuller, auch er sein eigener Librettist, mit bloßen Motiven aus dem »Prozeß«-Roman begnügt, um »eines der Sozialprobleme des heutigen Amerika« zu zeigen - den Kampf zwischen Schwarz und Weiß. Schuller: »Ich wollte das Metaphysisch-Unheimliche bei Kafka ins Aktuelle übersetzen.«

Aus dem von anonymen Instanzen gehetzten Prager Bürger Josef K. wurde dabei der Südstaaten-Neger Carter Jones, der sich in seiner durchaus realen Umwelt verirrt - von weißen Frauen wohlgelitten, von weißen Männern eingeschüchtert, verhöhnt, drangsaliert, verhört, geknüppelt, vertrieben und zum Schluß gelyncht.

Zu dieser Rassen-Oper fühlte sich Schuller »förmlich gezwungen«, nachdem ihn vor drei Jahren der Hamburger Intendant Rolf Liebermann damit beauftragt hatte, eine »Jazz-Oper« zu schreiben. Schuller, der für sein Werk die Bezeichnung Jazz-Oper nicht gern hört: »Da mußten, das war klar, Neger rein.« In Hamburg waren Neger drin - und zwar echte, keine angeschwärzten Weißen, wie ursprünglich vorgesehen.

Zuvor hatte der Komponist, der in New York ein Zehn-Zimmer-Appartement bewohnt und bis 1970 mit Aufträgen eingedeckt ist, zwei Jahre lang Zeitungsberichte über Rassenkrawalle studiert, und er machte außerdem noch eigene Erfahrungen: Als er mit einem schwarzen Mann durchs nächtliche Cincinnati promenierte, flogen Flaschen; Schuller hat die Szene in sein Musikwerk eingearbeitet.

Für eine Jazz-und-Neger-Oper im üblichen Sinne ("Porgy and Bess") freilich wäre Schuller nicht der rechte Autor gewesen. Er hat differenziertere Vorstellungen: Der ehemalige Solo-Hornist der »Metropolitan« und jetzige Musikprofessor an der Yale-Universität, der sich als Komponist autodidaktisch heranbildete, versucht seit nunmehr sieben Jahren den Jazz mit zeitgenössischer Konzertmusik zu amalgamieren.

So schrieb er unter anderem ein »Concertino für Jazz-Quartett und Orchester« und das symphonische Märchen »Journey into Jazz«.

Schuller - für seine Synthese von Kunstmusik und Jazz kreierte er den Begriff »Third Stream« (Dritter Strom)

- hat sich mit seiner »Visitation« erstmals in der Großform der Oper versucht. Er benutzte dabei eine persönlich modifizierte Reihentechnik, »Combinatoriality« genannt. Mit ihr hofft er die Schönbergsche Zwölftöne-Technik zu »vertiefen und wesentlich zu erweitern«.

In diesem Kombinations-Verfahren leitet Schuller von der Grundreihe eng verwandte Nebenreihen ab - »verwandt wie Kinder und Cousinen mit dem Vater« (Schuller) -, die er, je nach Bedarf, vom Philharmonischen Orchester oder von einer Jazz-Combo intonieren läßt.

Bedarf nach (freilich sparsam eingesprenkeltem) Jazz-Drive - Schuller: »Diejenigen, die mit der Erwartung kommen, daß da jetzt dauernd 'tüchtig gejazzt' wird, werden arg enttäuscht sein« - verspürte der Komponist vor allem bei den Sex-and-Crime-Szenen, bei Verführung, Striptease und Schlägerei, die Günther Rennert in Hamburg brillant auf die Bühne brachte.

Schuller, der seinen notierten und improvisierten Jazz nie zu Charakterisierungen in Leitmotiv-Manier, sondern für oszillierende Färbungen und als Element der Spannungssteigerung verwendet: »Mein Vorsatz war es, Jazz und sogenannte Kunstmusik so zu verschmelzen, daß man die Unterschiede nicht mehr hört.«

Das ist dem Amerikaner in Hamburg, Gunther Schuller, auch gelungen.

Auf eines allerdings mußte der Komponist verzichten: Die Kastration per Rasiermesser, die Schuller seinem Carter Jones zugedacht hatte, fiel aus. Statt dessen wurde der schwarze Josef K., die erste plausible Kafka-Gestalt auf dein Musiktheater, ganz dezent mit einem Spaten erschlagen.

Schullers »Visitation« in Hamburg*: Cousinen für die Combo

* V. l. n. r.: McHenry Boatwright, Kerstin Meyer und Erwin Wohlfahrt.

** Barry McDaniel und Patricia Johnson.

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