ARCHÄOLOGIE Junge Scherben
Der rote Mann war längst als stolzer Wilder in die Legenden eingegangen, der »Winnetou« Karl Mays schon Bestseller. Durch die Rocky Mountains fauchten Dampfrösser, und Doppeldecker brummten über Manitus Himmel.
Da wurde der Westen noch einmal wild: Im Februar 1911 verschwanden im nördlichen Nevada vier reiche Rancher, die nach ihren Herden hatten sehen wollen; ein Suchtrupp fand sie erschossen am Little High Rock Canyon.
Die Männer waren offenbar Viehdieben in die Quere gekommen. Sie lagen gefleddert und verstümmelt unter Schnee versteckt.
Polizisten und Cowboys folgten den Mördern 18 Tage lang über 225 Meilen. Am Kelly Creek stellte das Aufgebot schließlich die Bande -- eine indianische Sippe, geführt von dem Schoschonen Mike Daggett.
Diesem filmreifen blutigen Abenteuer sind nun Forscher nachgegangen, die sonst in der Vorgeschichte graben: Archäologen fahndeten nach den Spuren der Indianer, die aus musealem Dahindämmern in den Reservationen noch einmal ausgebrochen waren.
Tatsächlich fanden sie etliche Winterlager dieser Nomaden des frühen 20. Jahrhunderts. In entlegenen Berghöhlen und unter Felsüberhängen lagen noch Skelette geraubter Rinder und Holzpflöcke zum Spannen der Felle.
Als Indiz werteten es die Forscher, daß die Tierschädel aufgebrochen waren; die Indianer schätzten Gehirn als Leckerbissen oder nutzten es zum Weichwalken von Leder. Und an einer Feuerstelle entdeckten die Ausgräber auch das kümmerliche Werkzeug der Outcasts, steinerne Schaber und eine gläserne Schneide, zugerichtet aus einer Bierflaschenscherbe.
Was mit Schoschonen-Mike weiter geschah, wurde zur Sensationsstory im ganzen Westen der USA. Über das Showdown am Kelly Creek gibt es noch Presseberichte.
Polizei-Captain Donelly und seine Leute, so schilderte etwa die »Reno Evening Gazette« das einstündige Massaker, »holten die Rothäute gegen Mittag ein. Die Indianer beobachteten sie aus der Ferne und tanzten mit der rohen Wildheit früherer Zeiten. Ihre Gesichter waren bemalt. Alle trugen Waffen, die Kinder Bogen und Pfeile; und sie kämpften mit aller indianischen Tapferkeit«.
Den jungen Cowboy Ed Hogle riß als ersten eine tödliche Kugel vom Pferd. Doch die übrigen Weißen attackierten im Galopp.
»Die Kriegsrufe erstarben«, berichtete die »Gazette«, »aber ·die Cowboys kreischten und schrien, während sie zwischen die Wilden jagten und Salve um Salve abfeuerten.« Mike Daggett und die anderen drei Indianer fielen; auch zwei Squaws und zwei Jungen wurden erschossen.
Nur ein Mädchen und zwei kleine Kinder kamen mit dem Leben davon. Daggetts Adlerfedern-Kopfschmuck, die Bogen, Pfeile und indianischen Trommeln wurden später in Nevadas Hauptstadt Carson City ausgestellt.
Viel mehr als das Klischee vom Sieg der Guten über die Bösen allerdings geben die zeitgenössischen Quellen nicht her. Dabei, erklärt nun Professor Thomas N. Layton in der Fachzeitschrift »Archaeology«, »war der Schoschone Mike Daggett, dieser Viehdieb, wohl eher zeittypisch als eine Ausnahme«.
Den Lebensumständen dieser Indianer galt die wissenschaftliche Nachsuche. Es war ein Unternehmen einer neuen Sparte der Altertumskunde« der »zeitgeschichtlichen Archäologie«.
Mit Grabungen an Schauplätzen aus geschichtlicher Zeit -- in den jungen USA eine besonders kurze Spanne -- suchen amerikanische Archäologen neuerdings die schriftliche oder auch bloß mündliche Überlieferung zu überprüfen. Vor allem zum 200-Jahr-Jubiläum der Vereinigten Staaten wurde eine Reihe von Stätten aus den Pioniertagen freigelegt (und zumeist als Touristenattraktion hergerichtet).
So nutzte die Verwaltung der Nationalparks ein Stadterneuerungsprojekt in Rome (US-Staat New York), um nach den Relikten von Fort Stanwix zu forschen. Dieses Bollwerk hatte im amerikanischen Unabhängigkeitskrieg strategische Bedeutung gehabt; aber über seine Lage gab es nur mehr Mutmaßungen.
Schon Anfang des vorigen Jahrhunderts hatten Schatzsucher das damals bereits verfallene Fort um und um gewühlt. Dennoch konnten die Archäologen nun unter der modernen Überbauung die Befestigungen und Fundamente lokalisieren.
Sie fanden Reste von Waffen und Schanzzeug, Flaschen, Tintenfässer und Tabakspfeifen. Im Untergrund staken sogar noch 6000 bis 15 000 Jahre alte indianische Pfeilspitzen.
Allein im Südwesten der USA wurden in den letzten Jahren die Ruinen von einem halben Dutzend Pionier-Stützpunkten mit einer Sorgfalt untersucht und restauriert, als wären es antike Tempel. So entstanden aufs neue
* Fort Larned in Kansas, das die Bautrupps der Santa-Fé-Eisenbahn geschützt hatte und als Basislager im Krieg gegen die Prärie-Indianer diente,
* Bent's Old Fort in Colorado, ein 1830 gegründeter Vorposten für den Handel mit Mexiko,
* Fort Davis in Texas, wo Mitte des vorigen Jahrhunderts 60000 Pioniere auf dem Weg ins Goldland Kalifornien durchtreckten, und
* Fort Union, das in New Mexico die Apachen, Utes, Kiowas und Comanchen in Schach hielt.
Am Missouri bargen die Archäologen einen besonders ergiebigen Fund: den Raddampfer »Bertrand«, der 1865 mit einem Großteil des Passagiergepäcks und der Ladung gesunken war. Flußschlick hatte das Wrack konserviert.
Mitsamt dem Schiffsrumpf kamen nahezu zwei Millionen Einzelstücke zutage, darunter Lebertran, Limonade-Konzentrat und Patentmedizinen reisender Quacksalber, Kerzen und Kämme, Sprengpulver für die Gold- und Silberminen, Bullenpeitschen, Türknäufe und Wetzsteine für die Farmer. Die »Bertrand« ist eine bis heute nicht völlig ausgewertete Zeitkapsel der Ara Mark Twains.
Zu einer Korrektur des herkömmlichen Geschichtsbildes trugen vor allem die Befunde bei, die aus den Grabungen auf den Spuren des Viehdiebs Daggett gewonnen wurden.
»Mit der Einrichtung von Reservaten in den siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts«, konstatiert Professor Layton, der an der California State University Anthropologie lehrt, »waren die Nevada-Indianer aus dem öffentlichen Bewußtsein und an den Rand der amerikanischen Gesellschaft gedrängt worden.« Trotzdem führten einzelne Gruppen in diesem rauhen vulkanischen Tafelland bis ins 20. Jahrhundert ein Dasein als Jäger und Sammler -- wenngleich kaum mehr auf ursprüngliche Weise.
Mike Daggett zum Beispiel war in der Fort Hall Reservation von Idaho registriert. Dennoch hatte er sich mehrfach im freien Land durchzuschlagen versucht.
Aber für die heruntergekommenen Ureinwohner Amerikas war kein Platz mehr. Ihre Jagdgründe waren zu Weideland geworden, an den besten Wasserstellen siedelten die Weißen. Als Daggett im schneereichen Winter 1910/11 im Little High Rock Canyon kampierte, erklärte Layton, »mußte er das nahebei stehende Ranch-Vieh nehmen, um zu überleben«.
Die Grabungen lehrten, daß zur selben Zeit mehrere andere indianische Sippen durch Nevada streiften. Sie alle brachten sich mit gestohlenen Zuchtrindern zumindest durch den Winter.
Verräterische Skelettreste lagen in Denton's Cave, am Hanging Rock Shelter und im Last Supper Cave, wo die Indianer wohl aus Furcht vor Entdeckung -- die größeren Knochen hinter eine Steinwand geworfen hatten,
Datieren konnten die Forscher diese Küchenabfälle bis auf wenige Jahre genau: Die Glasklinge aus dem Hanging Rock Shelter etwa stammt von einer Bierflasche der Fels Distilling Company in Kansas City, die 1911 gegründet und 1919, zu Beginn der Prohibition, wieder geschlossen worden war.
»An Schoschonen-Mikes Viehräubereien«, schließt Anthropologe Layton, »war mithin nur eines ungewöhnlich -- daß er dabei erwischt wurde.«