

US-Wahl Was tun, wenn Frauen gewinnen?


Designierte US-Vizepräsidentin Kamala Harris im Wahlkampf in Philadelphia, 2. November 2020
Foto:Mark Makela / Getty Images
Eine neue Ära ist angebrochen, mal wieder: Fettnäpfchen o’clock! Kamala Harris wird die nächste Vizepräsidentin der USA, und da stellt sich natürlich die Frage: Wie verarbeitet man das? Erste Hilfe ist gefragt. Weise Menschen werden sagen: warum? Man kann ihre Wahl genauso bewerten, wie wenn sie ein Mann wäre, ein weißer noch dazu: sachlich und seriös, so gut es geht. Aber Menschen lernen langsam und sind auch über 200 Jahre, nach dem Olympe de Gouges das Recht für Frauen forderte, politische Reden zu halten, noch nicht sehr geübt darin, Frauen mit Macht gegenüberzutreten.
Wenn eine Frau in einem patriarchalen System einen relevanten Posten erlangt, der bislang nur von Männern besetzt wurde, dann ist es einerseits zumindest rein formal ein Schritt in Richtung Gleichberechtigung, aber gleichzeitig entlädt sich an ihr auch all das, was die anderen Frauen unten hält. Das heißt, in dem Moment, in dem ein Fortschritt passiert, werden auch die Hürden noch mal sichtbar, die ihn bislang verhindert haben.
Erst mal den Style checken
Einige Kommentatorinnen und Kommentatoren versuchen, der Lage – wie man zufällig immer noch sagt – Herr zu werden, indem sie sich ganz klassisch von außen nach innen vorarbeiten: erst mal den Style checken. Das ist zwar ganz dünnes Eis, aber immer noch eine beliebte Strategie.
Und so weiß man, wenn man nach Informationen über Kamala Harris stöbert, lange bevor man ihre Agenda kennengelernt hat, dass sie gern joggen geht, öfter mal Turnschuhe trägt oder tanzt, dass sie ein "herzliches Lachen" hat, dass sie aber "manchmal auch zu laut" lacht. Und selbstverständlich wird man ausführlich darüber unterrichtet, warum genau sie bei ihrer ersten Rede nach Verkündung des Wahlergebnisses ein weißes Outfit trug, und da dankt man dann aber auch sämtlichen göttlichen Wesen, dass es hierbei einen Bezug zur Geschichte des Frauenwahlrechts gibt, auch wenn man ahnt, dass es nicht wesentlich weniger Modekommentare gegeben hätte, wenn Harris etwas anderes getragen hätte. So eine fundierte Fashion-Analyse hat man sich aber auch redlich verdient nach der ganzen zermürbenden Warterei der vergangenen Tage.
Nachdem das Äußerliche also geklärt ist, kann man sich um das Sonstige kümmern, und da darf man nun aber nicht denken, dass man da jetzt so holterdiepolter in politische Fragen stolpern muss. Erst mal: Charakteranalyse. Wichtig! Denn genau wie die Causa "Outfit" ist die Causa "Persönlichkeit" ein sprudelnder Quell zumindest theoretisch möglicher Erkenntnis.
War es ein Unfall?
Frauen, die plötzlich dort sind, wo vorher Männer waren, sind für viele Menschen ein Grund zur Freude, für viele andere aber eine Art Unfall: Wie hat sie das gemacht, was ist schiefgegangen, wo hat sie uns betrogen, was wird sie mit uns anstellen? Es gibt hier mindestens vier Momente von Anfangsverdacht: die machtgeile Streberin, die manipulative Hexe, das verwöhnte Gör und die Killerin, die über Leichen geht.
Das sind die Klischees. An Kamala Harris werden sicherheitshalber alle davon durchgespielt. Harris ist "hartnäckig" und "angriffslustig", hört man. Sie "soll auch über enormen Ehrgeiz und Durchsetzungsvermögen verfügen", weiß man beim "Merkur", was noch recht positiv formuliert ist im Vergleich mit anderen, die sie als "knallhart" beschreiben. Wieder andere erklären, dass sie "geschickt ihre Klientel pflegt", dass sie sich "socialmediatauglich" zu inszenieren weiß, was immer auch ein bisschen nach Manipulation und mangelnder Authentizität klingt. Nur: Es ist alles selbstverständlich. Es ist dem Job der Vizepräsidentin dann doch recht immanent, dass man einen gewissen Antrieb braucht, um die Stelle zu kriegen, und es gehört ziemlich zentral zum Wahlkampf, sich zu inszenieren.
In der "taz" ging die Kritik an Harris' Inszenierung so weit, dass ihr Video in Joggingkleidung als eine Art mäßig subtiler Klassenhass ausgelegt wurde: "Es war von ausgesuchter Symbolik, dass sich Kamala Harris nach der Siegesmeldung ausgerechnet nach dem Joggen filmen ließ ('We did it Joe!'). Joggen ist in den USA vorzugsweise der Sport der effizienten Leistungsmenschen aus Kalifornien oder New York City." Bei welcher Tätigkeit hätte sie sich denn idealerweise filmen lassen sollen, um als die linksradikale Chillerin gesehen zu werden, die sie nicht ist? Bekifft in der Schlange eines Burgerladens?
Harris habe einen "auf Selbstoptimierung getrimmten Habitus", fand der "taz"-Autor, eine "auf persönlichen Ehrgeiz fixierte Programmatik" und sei außerdem so privilegiert, in eine elitäre Familie hineingeboren zu sein (Mutter Forscherin, Vater Professor), sodass ihre Wahl der "alleinerziehenden schwarzen Mutter aus Minneapolis, die bei Wendy’s arbeitet und noch einen zweiten Job hat, um über die Runden zu kommen", nicht helfen wird. Man kann Kamala Harris sicherlich politische Vorwürfe machen, aber man kann ihr schlecht vorwerfen, dass sie laufen geht und wessen Tochter sie ist. Zumal sie angekündigt hat, die Bezahlung von Frauen und People of Color verbessern zu wollen.
Eine Frage des Anstands
Es ist natürlich ein Segen, wenn man Linken oder marginalisierten Gruppen, die sich über etwas freuen, vorwerfen kann, dass sie da etwas übersehen haben und in Wirklichkeit nicht der Messias erschienen ist, sondern einfach nur eine mittelmäßig fortschrittliche Politikerin eine Wahl gewonnen hat. Es ist aber auch eine gewisse Frage des Anstands, Leuten, die jahrelang unter Trump gelitten haben, jetzt auch mal einen Moment der Freude und Erleichterung zu gönnen.
Das bedeutet nicht, dass man Harris "erst mal machen lassen" sollte, denn "erst mal machen lassen" hatten wir jetzt ein paar Jahre. Es bedeutet, dass man sie für die richtigen Dinge kritisieren sollte. Wer Harris fürs Joggen kritisiert, sollte auch Obama fürs Basketballspielen kritisieren, ein Sport für Leute mit dem Privileg räumlichen Sehvermögens. Hat auch nicht jeder.
Man kann Kamala Harris in genug politischen Punkten kritisieren, man muss nicht auf klassisch misogyne Muster ausweichen. Es ist durchaus möglich, anzuerkennen, dass sie sich für Frauen und People of Color einsetzen will, und zugleich bislang eine harte Law-and-order-Linie fuhr, zu der gehörte, Gefängnisstrafen für die Eltern schulschwänzender Kinder zu fordern und sie generell der Gefängnisindustrie nicht sehr kritisch gegenüberzustehen scheint. Man kann ohne Weiteres kritisieren, dass Harris als ersten ihrer Werte "hard work" nennt. Dass sie "working families" unterstützen will, und da offensichtlich die arbeitslosen nicht vorkommen. Dass sie für eine Erhöhung von Trumps Militärbudget stimmte und gegen die staatliche Finanzierung von Abtreibungen und dass sie sich nicht für die Rechte von Sexarbeiterinnen einsetzt, im Gegenteil. Dass sie in der Vergangenheit für ein diffuses neoliberales Profil häufiger mal Minderheiten fallen ließ, darunter auch Opfer sexualisierter Gewalt.
Man kann kritisieren, dass sie keine klar erkennbare politische Linie hat, wobei das auch nicht immer nur schlecht sein muss, weil Menschen dazulernen können. Von einigen Feministinnen wird Harris vorgeworfen, dass sie für die Inhaftierung von transgeschlechtlichen Menschen in den falschen Gefängnissen (d. h. Frauen mussten in Männergefängnisse) gewesen ist und transgeschlechtlichen Menschen den Zugang zu OPs verweigerte. Zugleich erklärt sie inzwischen allerdings, dass sie sich dafür einsetzen will, dass LGBTQ-Jugendliche in Sicherheit aufwachsen können, ohne gemobbt zu werden, und dass sie sich um die "transgender community" mit Fokus auf schwarzen Frauen kümmern will, damit diese "beschützt und sicher" sein können.
Ihre aktuellen Positionen zu all diesen Fragen wird man in den nächsten Jahren kennenlernen, und man wird sie anhand ihrer Worte und Taten vermutlich oft genug kritisieren können. Wenn das allerdings bedeutet, dass man seltener fragt, wie denn der künftige Präsident, Joe Biden, zu Fragen der Abtreibung, Transgeschlechtlichkeit, Sexarbeit und all den anderen Themen steht, dann ist etwas falsch. Es gibt keinen guten Grund, eine schwarze Frau an strengeren Maßstäben zu messen als den weißen Mann, mit dem sie gemeinsam angetreten ist.