KURZSCHRIFT Kampf um Krakel
Siebenunddreißig Jahre lang war der Bibliotheksangestellte Eduard Kühn in seinem Verein heimisch gewesen. Nun wurde er verstoßen. Grund: Kühn hatte wider das höchste Klub-Gut gefrevelt.
Statt satzungsgemäß die »Pflege und Verbreitung der Deutschen Einheitskurzschrift« zu betreiben, hatte Kühn, 56, Träger der Goldenen Steno-Verdienstnadel, ketzerische Reform-Kringel gemalt - und das sogar vor Nachwuchsstenographen an der Wandtafel.
Der abtrünnige Altstenograph aus Lübeck, seit einem Monat aus seinem Verein verbannt, ist das jüngste Opfer einer Ur-Fehde, die seit der Jahrhundertwende Deutschlands Gaue überzieht. Niemals verglomm der Zwist zwischen »Stolze-Schreyanern« und »Gabelsbergern«, zwischen Reformern und Traditionalisten.
Letzte Woche kam es zur offenen Feldschlacht der Systeme. Vergangenen Donnerstag bliesen - auf einer Tagung der »Deutschen Angestellten-Gewerkschaft« in Hamburg - die Neuerer zum Sturm. Schlachtruf: »In Deutschland muß die Kurzschrift-Diktatur endlich gebrochen werden.«
Dagegen wetterten die Anhänger der seit Jahrzehnten in Deutschland etablierten »Einheitskurzschrift« - auf Tagungen des »Deutschen Stenografenbundes« in Hamburg und Hannover. Ihr Kampf-Vokabular: »Verbandszucht«, »Obstruktion und Subversion«.
Das Streitobjekt: drei neue, angeblich vereinfachte und leichter erlernbare Stenographie-Systeme, die das Monopol der alldeutsch-einheitlichen »Schriftung« (so die Einheitler-Verbandsbroschüre) zu brechen drohen:
- die »Einfache Stenografie« ("ES"),
ersonnen von dem Gladbecker Konrektor Karl Otto, 56 (sie wurde dem Lübecker Kurzschrift-Ketzer Kühn zum Verhängnis);
- die »Deutsche Notizschrift« ("Deno") des Münchner DGB-Angestellten Georg Paucker, 55, und
- die »Stiefografie« des 61jährigen
ehemaligen Parlamentsstenographen Helmut Stief aus Frankfurt. Die Neuerer, durchweg Kurzschriftfanatiker seit früher Jugend, möchten mit ihrem Kampf gegen die Einheits-Stenographie dem »deutschen Kurzschriftelend« ("Stenografische Rundschau") abhelfen: Jeder dritte westdeutsche Berufsschüler scheitert derzeit bei der Handelskammerprüfung - wegen mangelnder Leistung in Stenographie. Der Grund dafür, so meinen die Reformer; seien altüberlieferte Mängel im System der Einheitskurzschrift, die 1924 als Kompromißlösung entstand.
Obgleich das erste deutsche Steno -Lehrbuch von einem Schotten namens Ramsay verfaßt worden war (Titel: »Tacheographia oder Geschwinde Schreibkunst"), wurde das Schnellschreiben im 19. Jahrhundert zu einem nationalen Anliegen der Deutschen: Im Jahre 1913 zählte man in Deutschland 6173 Kurzschriftvereine mit mehr als 250 000 Mitgliedern, die sich in 600 verschiedenen Schriftarten übten.
Um den Wirrwarr der Systeme zu ordnen, bildete die Reichsregierung 1906 einen Einigungsausschuß, der sich aus Vertretern der neun wichtigsten Steno-Schulen zusammensetzte und eine Einheitsstenographie erarbeiten sollte.
Sechzehn Jahre lang berieten die Experten - ohne Erfolg. 1922 legte das Gremium zwei verschiedene Entwürfe zur Auswahl vor. Und erst nach weiteren zweijährigen Verhandlungen mit den beiden größten Krakel-Sekten - »Stolze-Schrey« und »Gabelsberger« - entschied sich die Regierung für einen der beiden Vorschläge: Es entstand die »Deutsche Einheitskurzschrift«.
Die Kompromißschrift stieß von Anbeginn auf erbitterte Ablehnung. Schon 1925 bemängelte der Reichstagsabgeordnete Theodor Heuss das neue System. Und seither werfen die Apostel der traditionellen Kurzschriftschulen -
namentlich »Stolze-Schreyaner« und »Nationalstenografen« - der Einheitsstenographie vor, sie sei altmodisch, zu kompliziert und schwer erlernbar.
Die drei Reformschriftler dagegen möchten das System der schnellen Kringel radikal vereinfachen. Während
- nach Angaben der Reformer - zum
Einpauken der Einheitskurzschrift etwa 100 Stunden gebraucht werden, sollen »Deno«, »ES« und »Stiefografie« in Rekordzeiten erlernbar sein: in 16 (Paucker), acht (Otto} oder sogar zwei bis drei (Stief) Stunden.
Während die Einheitsschrift dem Schüler 421 »Gedächtnismomente« aufgibt - darunter 156 Kürzel und 157 Schreibregeln -, enthält Konrektor Ottos Einfache Kurzschrift nur 150 »Lerneinheiten«, darunter 70 Kürzel. Pauckers Notizschrift - sie lehnt sich an die Langschrift an und verkürzt sie um zwei Drittel - beschränkt sich auf 50 Kürzel. Und Stiefs Stiefografie will gar - ganz ohne Kürzel - mit nur 25 Grundzeichen auskommen.
Stief, der einst mit herkömmlichen Einheits-Kürzeln Rekordleistungen erschrieb und sein neues System während achtjähriger Haft im Zonen-Zuchthaus Bautzen entwickelte, erreicht inzwischen, nach eigener Bekundung, mit seiner Stiefografie die gleiche Schreibgeschwindigkeit wie mit der Einheitskurzschrift: mehr als 300 Silben in der Minute.
Zu solchen Hochleistungen befähigen Pauckers Notizschrift und Ottos Einfache Kurzschrift nicht. Sie erlauben aber, wie die Erfinder angeben, ein für normalen Büro-Bedarf ausreichendes Schreibtempo von 100 bis 150 Silben in der Minute - genügende Übung vorausgesetzt.
Alle drei Reformschriften nehmen zudem Rücksicht auf modernes Schreibgerät: Sie verzichten auf das Ausdrucksmittel der (etwa bei »a« und »ü") verdickten Schriftzüge ("Druckverstärkung"), das, wie Kritiker meinen, »noch aus der Zeit des Gänsekiels stammt«.
Hauptziel der - in der Kampfzeit noch untereinander einigen - Steno -Aufrührer ist die »Befreiung der Kurzschriftlehre« von den Fesseln der Einheitlichkeit: Der Kurzschriftunterricht, meinen sie, sollte von den Lehrplänen der Berufs- und Handelsschulen gestrichen und endlich wieder den Stenographenvereinen überlassen werden.
Und während die Reformgegner, das Schreckenswort von drohender »Systemzersplitterung« auf dem Panier, das nationale Heiligtum der einheitlichen
Schriftung zu verteidigen suchen, scheinen die Revoluzzer im Kampf um ihr - gleichfalls nationales - Anliegen zum Äußersten bereit.
»Deno«-Erfinder Paucker, Geschäftsführer des Berufsfortbildungswerks beim DGB: »Es wird einen schrecklichen Kampf geben.«
Gabelsberger StolzeSchrey
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... ein Aufstand der Reformer
* Kurzschrift-Fassungen des Satzes »SPIEGEL-Leser wissen mehr«.