
Rassismus Trump ist die Personifizierung von weißen Privilegien


Mann vorm Kapitol: Ein Gros der Weißen macht sich die Welt, wie es ihnen gefällt?
Foto: Michael Reynolds / EPA-EFE / ShutterstockStellen Sie sich vor, Sie könnten alles tun, was Sie wollen – und das, ohne Acht auf andere zu geben oder Konsequenzen fürchten zu müssen. Okay, vielleicht würden Sie ab und zu ein blaues Auge riskieren. Mehr aber nicht. Diese unbegrenzten Möglichkeiten der eigenen Entfaltung würden Sie sehr mutig leben lassen. So wie eine erwachsene Pippi Langstrumpf.

M. Heinke
Mohamed Amjahid, Jahrgang 1988, ist freier Journalist und Buchautor. Er schreibt unter anderem für den SPIEGEL und ist Thomas-Mann-Fellow in Los Angeles. Im März 2021 erscheint sein neues Buch »Der weiße Fleck. Eine Anleitung zu antirassistischem Denken« im Piper-Verlag.
Sie könnten also etwa in einen Laden spazieren, sich am Sortiment bedienen und wieder gehen – ohne zu bezahlen. Denn für den Ladendetektiv sind Sie quasi unsichtbar. Sie könnten aber auch ein Parlament stürmen, Dokumente mitgehen lassen und dabei noch in Kameras winken, sich dann in ihr Auto – natürlich ohne Führerschein in der Tasche – setzen und gemütlich heimfahren.
Falls Sie weiß sind, so behaupten es viele rassismuskritische Analysen, sind diese Szenarien keine Gedankenspiele. Sie beschreiben demnach die Realität vieler Menschen, die nicht von Rassismus betroffen sind. Ein Gros der Weißen macht sich die Welt, wie es ihnen gefällt. So simpel ist diese Debatte dann doch nicht – aber von vorn:
Der Sturm auf das Kapitol in Washington, D.C. vor wenigen Tagen hat in den USA erneut eine Auseinandersetzung mit White Privilege, also weißen Privilegien, ausgelöst. Auf sozialen und in klassischen Medien wird emotional debattiert, ob sich weiße Menschen einfach mehr leisten können, ob weiße Menschen also einen vielseitigen Extrarabatt genießen. Die privilegienkritische Denkschule hat darauf eine eindeutige Antwort: Ja.
Eine besonders gute Illustration von weißen Privilegien lieferte während der Erstürmung des Kapitol-Gebäudes die weiße Texanerin Jenny Cudd: Sie streamte live über Facebook ein Video, in dem sie offen zugab, dass sie zusammen mit ihren Mitstreitern die Tür zum Büro von Nancy Pelosi, der demokratischen Mehrheitsführerin im US-Kongress, eingetreten habe. Einer von Cudds Freunden habe den Hammer gestohlen, mit dem Pelosi die Parlamentssitzungen leitet.
Jenny Cudd of @beckysmidland now complains she’s getting threatening calls.
— (((Evan Shapiro))) (@eshap) January 8, 2021
Jenny, here, you admit to attacking the Capitol. You promise more attacks. These are crimes. Turn yourself in.
PLEASE NOTE: Threatening her is not right. Prosecuting her is.
Do NOT menace. RT to @FBI. https://t.co/40fLIihQoY
Jenny Cudd lacht im Video, streckt den Mittelfinger aus, freut sich kindisch, sieht sich im Recht und fürchtet anscheinend keine Strafen. Immerhin steht der noch amtierende US-Präsident auf ihrer Seite.
Einige antirassistische Aktivisten interpretierten die Aussagen Cudds wie folgt: Als weiße Person – hier in Form einer weißen Frau, die sich eine Trump-Fahne umgeworfen hat – besitzt man eine Carte Blanche, also eine unbegrenzte Vollmacht, zu tun und zu lassen, was man will.
Donald Trump selbst ist die Personifizierung von weißen Privilegien: Ein unqualifizierter, trampelnder, skandalbelasteter alter weißer Mann, der es trotz allem ins höchste Amt seines Landes geschafft hat. Dutzende Anhänger seiner Theorie der weißen Überlegenheit waren am vergangenen Mittwoch sogar noch stolz auf ihr White Privilege und ließen selbstbewusst die eigenen Handykameras bei ihrem Putschversuch laufen.
Oft ist diese historisch gewachsene und manchmal subtile Machtausstattung weißen Menschen aber unbewusst. Sich über die eigene Positionierung in der Gesellschaft keine Gedanken machen zu müssen, ist an sich schon ein Privileg. Und genau diese Akkumulation von Sonderrechten auf der einen und die strukturelle Diskriminierung von nicht weißen Minderheiten auf der anderen Seite befeuert Konflikte und macht Gleichberechtigung quasi unmöglich – also die Grundlage für Demokratie.
User auf Twitter und Instagram haben nach dem Sturm auf das Kapitol zwei Bilder nebeneinander gestellt:
Das eine Bild zeigt Dutzende Soldaten der Nationalgarde, die sich kurz vor einer angekündigten Black-Lives-Matter-Demonstration im Juni 2020 schwer bewaffnet auf den Stufen des Lincoln Memorials in Reichweite des Kapitols aufstellten.
Das andere Bild vom vergangenen Mittwoch zeigt ein paar militante weiße Männer, wie sie eine Mauer hochklettern, um später Fenster des Parlamentsgebäudes in Washington einzuschmeißen und in den Büros der Abgeordneten Chaos zu stiften.
Wie das Capitol aussah, als Black Lives Matter Demonstranten gegen Rassismus und Polizeigewalt demonstriert haben.
— Stephan Anpalagan (@stephanpalagan) January 6, 2021
Finde den Unterschied. pic.twitter.com/NYFvmRyCib
Die Botschaft des Vergleichs: Als weiße Person ist man frei, niemand stellt sich einem in den Weg, den Staat und weite Teile der Mehrheitsgesellschaft weiß man an seiner Seite. Als nicht weiße Person, insbesondere wenn man Schwarz ist, werden prophylaktisch gegen einen alle Geschütze und die ganze Härte des staatlichen Gewaltmonopols aufgefahren. Und genau dieses Ungleichgewicht endet für viele von Rassismus betroffene Menschen tödlich und lässt gleichzeitig Weiße gewähren.
Dieser institutionalisierte Doppelstandard existiert auch in Deutschland. Bei den Bildern aus Washington fühlten sich viele Menschen hierzulande an den rechtsextremen Mob auf den Stufen des Reichstages in Berlin Ende August 2020 erinnert. Grölende Männer mit Reichsflaggen marschierten bei einer Corona-Demonstration in Berlin bis vor den Eingang des Parlaments. Muslimisch gelesene Individuen, Schwarze Menschen oder allgemein Nichtweiße würden erst gar nicht in ähnlichen Kontexten so weit kommen, so lautet die Beobachtung von Menschen mit rassistischer Diskriminierungserfahrung.
Selbst wenn die Gefahr nicht von der Hand zu weisen ist, greift White Privilege: Weiße Terroristen werden auch hierzulande oft reflexhaft als »verwirrte Einzeltäter« betitelt, eine grundsätzliche Gefahr für das friedliche Zusammenleben kann demnach nur von Minderheiten ausgehen.
Hautfarbe ist nicht das einzige ausschlaggebende Merkmal
Die Beispiele müssen aber nicht so drastisch sein. White Privilege kann unauffällig den Alltag strukturieren und subtil Gesellschaften formen: Weiße Menschen wurden und werden – über die USA hinaus – zum Beispiel vor Gericht systematisch bevorzugt. Mehrere Studien belegen, dass weißen Menschen in westlichen Justizsystemen mehr Glauben geschenkt wird, sie werden milder bestraft, öfters als andere bei Verstößen lediglich verwarnt – wenn sie überhaupt vor Gericht landen.
Denn die vorgeschaltete Strafverfolgung durch die Sicherheitsbehörden ist ebenfalls so strukturiert, dass sie weiße Menschen bevorzugt. Polizisten kontrollieren »nordafrikanisch aussehende Männer« x-mal , bevor sie eine weiße Frau in ihren »Routinekontrollen« berücksichtigen. Darauf sind viele Polizeibehörden konditioniert worden. Weiße Frauen – egal ob ihnen das bewusst ist oder nicht – können diese Lücke ausnutzen.
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Preisabfragezeitpunkt
06.02.2023 12.44 Uhr
Keine Gewähr
Der Ladendetektiv ist darauf trainiert, dem Schwarzen Kunden zwischen den Regalreihen zu folgen, während der weiße Kunde gratis shoppen geht. So addieren sich weiße Privilegien zur systematischen Bevorzugung der weißen Bevölkerungsmehrheit. Das bedeutet nicht, dass Weiße absolute Immunität genießen. Es bedeutet aber, dass weiße Menschen, wenn sie wollen oder nicht, von diesen Verhältnissen profitieren.
Auf den zweiten Blick spricht gegen diese These die Tatsache, dass wenige Tage nach dem versuchten Putsch einige aus dem Trump-Mob doch Konsequenzen spüren: Mehrere namentlich identifizierte White Supremacists wurden von ihren Arbeitgebern entlassen, anderen droht nun ein FBI-Ermittlungsverfahren.
Ist es dann nicht übertrieben, sie als omnipotente Subjekte darzustellen?
Nun, der Sturm auf das Kapitol geschah mit Ansage und niemand hat die Männer daran gehindert. Und dann: Diese gesellschaftlichen und strafrechtlichen Sanktionen könnten auch als direkte Folge der White-Privilege-Kritik gelesen werden. Die Öffentlichkeit und Minderheiten in den USA – und vermehrt auch in Deutschland – schauen nicht mehr tatenlos zu, wenn weiße Menschen ihre Privilegien missbrauchen, um Gesetze zu brechen, andere in Gefahr zu bringen und sich dabei noch feiern.
Hautfarbe ist allerdings nicht das alleinige ausschlaggebende Merkmal. Sie ist auch nicht per se der Grund, warum eine Person bevorzugt oder benachteiligt wird. White Privilege ist kein Naturgesetz, es ist ein historisch gewachsenes, von Menschen gemachtes soziales Konstrukt. Es summiert sich mit anderen Aspekten zu Rahmenbedingungen, in denen einzelne Individuen und Gruppen handeln oder in ihrem Handeln eingeschränkt werden.
Bei Ausschreitungen wie sie vor den Parlamenten in Washington oder Berlin stattfanden, spielt beispielsweise eine überbordende Männlichkeit auch eine wichtige Rolle. Anarchistische Antifaschisten, die mehrheitlich auch weiß sein könnten, würden mit Ansage wohl auch ganz anders von den Sicherheitsbehörden empfangen werden. Es gibt viele politische Faktoren, die man bei solchen einschneidenden Ereignissen genau wie im unspektakulären Alltag mitdenken muss.
White Privilege ist und bleibt aber ein mächtiger Wirkungsfaktor, der die Welt seit Jahrhunderten stabil beherrscht.