»Kaufhaus-Rennbahn in 1a-Lage«
Sie gelten als »Oasen« und »Paradiese« und sind der Stolz der Städte: 450 Fußgängerzonen von Flensburg bis München, zwischen Braunschweig und Trier.
Auch die Bundesregierung macht Staat mit der städtebaulichen Mode: 77 der »verkehrsberuhigten Zonen« wurden mit Geldern aus dem Konjunkturprogramm gefördert. Im internationalen Vergleich, so meldet die Bundesforschungsanstalt für Landeskunde und Raumordnung (BFLR), schneiden deutsche Fußgängerzonen als »vorbildlich« und »am weitesten entwickelt« ab.
Erpicht auf Einzelheiten -- und um es in Zukunft noch besser machen zu lassen -, vergab das Bundesbauministerium einen Forschungsauftrag an eine Frankfurter Studiengruppe für Stadtplanung, Titel der Studie: »Siedlungsstrukturelle Folgen der Einrichtung verkehrsberuhigter Zonen in Kernbereichen.«
Der Bericht mit dem Kennzeichen »Projekt 1974.08« liegt seit mehr als einem Jahr vor, doch bislang zieren sich die Bonner, ihn zu veröffentlichen. Denn das Fazit ist ernüchternd: > Fußgängerzonen sind kein nennenswerter Beitrag zur Wiederbelebung der Städte;
* sie wirken, mit wenigen Ausnahmen, zerstörerisch auf die Verkehrs-, Wirtschafts- und Wohnstrukturen;
* der Gewinn an Attraktivität geht immer zu Lasten anderer Einrichtungen und Quartiere;
* eine Fortsetzung der bisherigen Praxis ist somit kaum gerechtfertigt. Die Fußgängerparadiese waren in letzter Zeit ohnehin zunehmender Kritik ausgesetzt -- von verschiedenen Seiten und aus unterschiedlichen Gründen.
In einer der ersten westdeutschen Fußgängerzonen, in der einst auch im Ausland als vorbildlich gerühmten Hohen Straße in Köln, macht der Einzelhandelsverband neuerdings »viele schräge Vögel« aus: Hohe Mieten, Krach, Gestank aus Schnellgaststätten und fliegende Händler in den Hauseingängen verdrängten solide Fachgeschäfte.
In München bildete sich eine Bürgerinitiative »Mehr Schallschutz gegen Lärmterror in der Fußgängerzone": Anwohner, durch grölende Zecher« Volksredner und Stegreifmusikanten belästigt, verlangen den Einbau von schalldämmenden Fenstern auf Kosten der Kommune. In Bochums Hellweg protestierten Hotelgäste gegen das Gedudel aus der Diskothek »Daddys Hobby« und das nächtliche Moped-Geknatter davor.
Denkmalpfleger rügten auf einer Jahrestagung in Bamberg die »Gleichmacherei«, die historische wie moderne Gebäude »konturlos in Plattenseen« verschwimmen läßt. Auch in Weiden protestierten Bürger gegen eine geplante »sterile Uniformierung« mit Betonkübeln und Lampen; die »einfallslose Nachahmung« führe zu einem »Verlust städtischer Eigenart«.
Als »fast so kleinlich wie Küchen des sozialen Wohnungsbaus« schmähte der Münchner Städtebau-Kritiker Paulhans Peters Belag, Beleuchtung und Begrünung deutscher Fußgängergettos »Dörfliche Dimensionen« bestimmten das Leben darin. Ihre fatale Einengung auf banale Marktfunktion führe zu »erschreckenden Konsequenzen« -- wie Bodenpreiswucher, Umwandlung von Wohnungen in Büros und Vernichtung kleiner Läden.
Bei dem Bemühen, den städtebaulichen Trend mitzumachen, stellten die wenigsten Gemeinden Überlegungen über Lage, Größe, Nutzung, Erschließung und Gestaltung ihrer Fußgängerareale an. In den meisten Fällen wurden einfach Hauptgeschäfts- und Hauptverkehrsstraßen für den Autoverkehr gesperrt und zum »Paradies« erklärt.
Die Aktionen gingen zurück auf Forderungen von Städtebaukritikern in den sechziger Jahren. Der Verkehr durch die Städte müsse entmutigt und allmählich abgewürgt werden, hatte etwa die amerikanische Urbanistin Jane Jacobs schon 1961 empfohlen.
Die Befreiung des Stadtmenschen von Lärm und Gestank
vollzog sich dann vielerorts mit »einem triumphalen Beigeschmack wie die Beendigung der Sklaverei« (Peters).
Dabei wurden die etwa für die Nachbarquartiere damit verbundenen Nachteile in der ersten Euphorie oft nicht beachtet.
»Fast kein empirisches Material« über Fußgängerbereiche und »kaum spezifische Vorstellungen von den Folgen« ihrer Einrichtung fanden die BFLR-Forscher, als sie ihre Untersuchung begannen.
Die Frankfurter Gruppe erforschte Fußgängerareale in Aschaffenburg, Bensheim, Bochum, Frankfurt, Freiburg, Hannover, Saarbrücken, Siegen, Trier und Wetzlar -- eine durch unterschiedliche Lage, Größe, Struktur und Planung exemplarische Vielfalt.
Schon das erste Resümee war schmerzlich für Bonn: Die beiden erklärten Ziele »Wirtschaftsförderung« und »Wiederbelebung der Stadtzentren« befänden sich nicht in Übereinstimmung, sondern im Widerspruch. Die »planerische Konsumhilfe« habe mit »Urbanität« nicht das geringste zu tun -- im Gegenteil: sie schade ihr nur.
Darüber hinaus ließen sich die verheerenden Folgen in vier Punkten zusammenfassen:
* Der Verkehr sucht sich Ersatzdurchfahrten in benachbarten Straßen -- zu Lasten der dort ansässigen Wohnbevölkerung.
* Die Umsatzsteigerung durch Standortgunst führt zu Umsatzverlusten und häufig auch zur Aufgabe von Geschäften in anderen Bezirken.
* Die forcierte Ausgestaltung der Fußgängerzonen deklassiert die Randgebiete zu Grauzonen, die nur noch als Parkplätze dienen.
* Die Nachbarquartiere verlieren an Wohnqualität; -- die Bevölkerungsstruktur verschlechtert sich -- beschleunigter Verfall droht. Solch negative Auswirkung der Fußgängergehege ist in zahlreichen deutschen Städten augenfällig: Die »Kaufhaus-Rennbahnen in la-Lage« (BFLR-Gutachter Heiner Monheim) machen einstmals intakte Nachbarschaften zur tristen Kulisse; Wohnquartiere werden zum Ladehof degradiert. Parken auf Bürgersteigen wird üblich (und von der Polizei häufig geduldet).
In Trier beispielsweise zieht sich die Fußgängerstraße als gegabelte Einzelhandelsschiene quer durch die gesamte Altstadt. Die 1800 Jahre alte Porta Nigra dient als imposantes Portal für den Einkaufs-Run zu Kaufhof und Horten.
Doch sämtliche mittelalterlichen Plätze der Stadt -- vom Domfreihof bis zum Pferdemarkt -- sind mit Autoblech vollgestellt. Wer an der Porta Nigra die Straße überqueren will, muß einen Fußgängertunnel benutzen, denn hinter dem Tor rauscht der Ringverkehr. Durch die Fußgängerstraßen aber brummen alle Busse der Stadt: bis zu 56 in der Stunde.
Auch in Freiburg -- wo die öden Kehrseiten von Hertie und Neckermann den Anblick von Münster und Fachwerk verschandeln -- ist der Wandel durch Eingriffe am Altstadtrand unübersehbar.
»Kein Abriß!« steht an den blinden Fenstern der Wohnhäuser Gerberau Nummer 12 bis 16. »Laßt in diesen Häusern leben!« Am Schwabentor hängen die schmalen bunten Altstadthäuser der Konviktstraße über einer gewaltigen Baugrube: Die Stadt setzt ihnen ein pompöses Parkhaus vor die Tür.
In Kiel erstreckt sich die Fußgängerzone als glatte Ladenstraße vom Markt bis zum Holstenplatz. Auf dem Markt wurde ein barackenartiges Geschäftszentrum errichtet, und die alte Nikolaikirche ist von einem Karstadt-Klotz verbaut. Am Holstenplatz wurde der Hertie-Bunker durch Rolltreppen und eine überdachte Fußgängerbrücke über dem verkehrsreichen Ziegelteich erschlossen.
»Hier stört kein Fahrzeuglärm die Muße des Einkaufsbummels« -- diese Verheißung aus einem Prospekt der Stadt Bochum verrät das Mißverständnis, nach dem die meisten Fußgängerzonen der Bundesrepublik angelegt wurden -- als »raffinierte Verführer zum Konsum« (Peters).
Nach der Theorie, daß vermehrter Konsum auch mehr Urbanität bedeute, wurden Einkaufserleichterungen geschaffen -- und Käuferströme mit Stadtleben gleichgesetzt.
Doch »wer das hektische Einkaufstreiben auf der Frankfurter Zeil beobachtet«, so notierte das Fachblatt »Baumeister«, »wird schwerlich auf die Idee kommen, diese tütenbepackte, nicht im mindesten aufeinander achtende, Alte und Schwache aus dem Gleichgewicht rempelnde Menge habe irgend etwas miteinander, ihre Tätigkeit auch nur im entferntesten etwas mit Kommunikation zu tun.«
So würden ehemals intakte Quartiere in »eindimensionale Stadt-Rudimente« verwandelt. Eine Folge dieser »strukturellen Segregation« wurde bereits Schlagwort im Planer-Jargon: »Bleichstraßeneffekt«. Denn die Frankfurter Bleichstraße mußte den von der Zeil, der mit einer Milliarde Mark im Jahr umsatzstärksten Straße der Bundesrepublik, verdrängten Verkehr auf nehmen. Die Frankfurter Forscher notierten den Fall als »eklatantes Beispiel« für »rapides Absinken der Wohnqualität«.
Darauf, so rügt Peters, seien die Planer bislang die Antwort schuldig geblieben: »Warum Einkaufen und Stadtbummel möglichst ohne Belästigung durch Autoverkehr bleiben sollen, jedoch Schlafen, Wohnen, Spielen und Feierabend weiterhin durch Autoverkehr gestört werden dürfen.«
In einem Kommentar zu der Frankfurter Studie erörtert BFLR-Experte Monheim, auf welche Weise dem Übel abzuhelfen sei. Seine Kernthese: Gezielte und abgestufte« Verkehrsberuhigung« müsse an die Stelle der bislang praktizierten, verhängnisvollen Verkehrsverlagerung treten.
Das neue Konzept soll sich nicht auf die Konsumzentren beschränken, in denen Kaufhäuser und Parkhäuser geballt beieinander stehen, sondern vor allem auf Wohnquartiere ausgedehnt werden.
Um die erwünschte »Koexistenz« von Fußgängern und Verkehr zu erreichen, müßten in sogenannten »Gleichberechtigungsstraßen« der Durchgangsverkehr erschwert und insgesamt der Autoverkehr verlangsamt und verdünnt werden.
Beispiele dafür gibt es in Holland. Unter dem Begriff »Woonerf« wurden dort seit 1976 in bislang 35 Städten solche »verkehrsberuhigten« Straßen eingerichtet. Prominentestes Beispiel ist Delft, das mit dem Experiment schon vor mehr als vier Jahren begann.
In »Woonerf«-Gebieten ist die Trennung zwischen Fahrbahn und Bürgersteig aufgehoben. Alle Verkehrsflächen sind für alle Verkehrsteilnehmer frei -- für Autofahrer wie Radfahrer oder spielende Kinder.
Für den Autoverkehr ist Schrittempo vorgeschrieben; praktisch erzwungen wird er durch eingebaute Schikanen (Spitznamen:. »Schlafende Polizisten") wie Schwellen und Pflanztröge, Verengungen und Slalomstrecken, Sitzmöbel und Fahrradständer.
In der Delfter »Woonerf«-Zone hat sich das Experiment bewährt: Dort hat sich seit vier Jahren kein einziger schwerer Verkehrsunfall ereignet.