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MEDIKAMENTE Kaum Taten

Das Arzneimittel-Handbuch »Bittere Pillen« wurde auf Anhieb zum Bestseller - zum Verdruß der Pharma-Lobby, die auf den »kritischen Ratgeber« heftig, aber hilflos reagiert. *
aus DER SPIEGEL 52/1983

Schlicht ein Skandal«, »Panikmache«, »ein schlechter Krimi« - mit Schimpfkanonaden reagierte das »Deutsche Ärzteblatt« auf die himmelblau gebundene Neuerscheinung; die »scharfmachende Publikation«, sei »eine Zumutung von der ersten bis zur letzten Seite«.

Feindberührung meldete auch das Mediziner-Magazin »Selecta": Was in dem Pharma-Handbuch mit dem anzüglichen Titel »Bittere Pillen« den »Laien untergejubelt« werde, sei nichts weiter als »Stimmungsmache«, »eine pauschale Verunglimpfung des deutschen Arzneimittelangebots«, wüste »Medikamentenschelte mit dem Seitenhieb auf alle am Pharmamarkt beteiligten Kreise«.

Das Wehgeschrei der ärztlichen Standespresse gilt einem Sachbuch, in dem der westdeutsche Arzneimittelmarkt so umfassend wie nie zuvor durchleuchtet wird - mit niederschmetterndem Ergebnis: Allenfalls ein Viertel des kaum überschaubaren Pharma-Angebots, urteilen die Autoren, könne vorbehaltlos als »therapeutisch zweckmäßig« eingestuft werden. Dagegen richte die überwiegende Mehrzahl aller marktgängigen Medikamente eher Schaden als Nutzen an, ein beträchtlicher Teil sei unwirksam und mithin entbehrlich (SPIEGEL 37/1983).

Rund 2300 Arzneimittel werden in dem »kritischen Ratgeber«, einem allgemeinverständlichen Leitfaden durch das Pillen-Labyrinth, vorgestellt, auf Nebenwirkungen untersucht und jeweils mit einer »Empfehlung« versehen - ein Unterfangen, das Ärzte, Apotheker und Pharma-Produzenten mit Recht als Anschlag auf die gemeinsame Geschäftsgrundlage betrachten; entsprechend heftig, doch ohne allzu gründlich in die fachlichen Details zu gehen, setzten sie sich gegen das konsumentenfreundliche Handbuch zur Wehr.

Unisono sprachen sie den vier Pillen-Richtern - den beiden Journalisten Kurt Langbein und Hans-Peter Martin, dem Medizinsoziologen Hans Weiss und dem Chemiker Peter Sichrovsky - zunächst einmal die pharmazeutische Urteilsfähigkeit ab: Eine »Laienspielschar«, so die Kritiker, habe den Versuch unternommen, »mit der Angst der Patienten Geschäfte zu machen«, und dabei »subjektive Meinungsäußerungen« als gesicherte Erkenntnisse ausgegeben. Herausgekommen, so der Bundesverband der Pharmazeutischen Industrie, sei ein »pseudowissenschaftliches Machwerk« mit »überzogenen Bewertungskriterien«.

Der verbalen Kraftmeierei sind bislang allerdings kaum Taten gefolgt. Die Justitiare der Pharma-Industrie, sonst allzeit prozeßfreudig, scheuten sich diesmal, vor Gericht zu ziehen. Zwar drohten etwa zwei Dutzend kleine und mittelgroße Firmen den Autoren mit einer Klage, doch nur ein Unternehmen machte ernst; das Verfahren, bei dem es um ein Hustenmittel namens Gelomyrtol geht, ist noch nicht abgeschlossen.

Auf Drohgebärden beschränkt sich einstweilen auch ein Unternehmen, das im lukrativen Medizinbetrieb nur am Rande mitverdient: Das Frankfurter Institut für Medizinische Statistik (IMS), das fortlaufend die Umsatz- und Verkaufszahlen aller am Pharmamarkt beteiligten Firmen ermittelt und die Ergebnisse, streng vertraulich, an seine Abonnenten verkauft, beschuldigt die Handbuch-Verfasser der »schmarotzerischen Ausbeutung fremder Leistung«.

Denn in ihrem Pillen-Buch haben die Autoren, anhand der IMS-Statistiken von 1981, auch die Verkaufszahlen für jedes bewertete Medikament vermerkt. Den Verfassern, klagen die IMS-Anwälte, sei zweifellos bekannt gewesen, »daß kein Kunde von IMS die Daten für 1981 noch zu den Preisen von 1981 kaufen wird, wenn ein Buch zum Preise von 30 Mark auf dem Markt ist, in dem die wesentlichen Daten wiedergegeben werden«; dem Autoren-Kollektiv, das die IMS-Zahlen unbefugt ausgewertet habe, sei daher eine »vorsätzliche sittenwidrige Schädigung« der IMS-Interessen anzulasten.

Doch vor möglichen Prozeßkosten oder Regreßforderungen haben sich die vier Pharma-Kritiker inzwischen kaum mehr zu fürchten. Ihr Nachschlagewerk, erschienen Mitte September im Kölner Verlag Kiepenheuer & Witsch, erwies sich gleich als Superhit: Insgesamt 16 Auflagen, mehr als 330 000 Exemplare, konnten seither verkauft werden. »Das Ding«, so der Hamburger Buchhändler Wolfgang Saucke, »wird uns aus den Händen gerissen, als wär's ein Stück von Simmel.«

So, gleichsam als Pharma-Schnulze, wird das Erfolgsbuch von den akademischen Fachkritikern auch eingestuft; gedämpfter als die Trompeter der Pillen-Lobby, dafür aber säuerlich und penibel mäkeln sie an dem 860-Seiten-Wälzer, dem sie Mangel an wissenschaftlicher Originalität und, in Einzelfällen, übertrieben strenge Zensuren vorwerfen.

Am entschiedensten wehrten sich die Pharma-Fachleute gegen das Pauschalurteil, mit dem die Autoren alle sogenannten Kombinationspräparate verdammen, Arzneimittel, die mehr als einen Wirkstoff enthalten. In der ärztlichen Praxis, bekundeten vor allem medizinische Kritiker, seien die Wirkstoff-Mixturen auf keinen Fall allesamt entbehrlich.

Daß die Praktiker zumindest auf einen beträchtlichen Teil der kombinierten Pharmaka verzichten könnten, bestätigte jüngst auch der Pharmakologe Karl H. Kimbel. Nirgendwo auf der Welt, konstatierte Kimbel, Geschäftsführer der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft, sei eine ähnlich große Menge von Mischpräparaten im Handel wie in der Bundesrepublik - darunter viele Mixturen, die auch Kimbel als »bedenklich«, »problematisch« oder »wenig sinnvoll« bezeichnet.

Gelegentlich wurde den Pharma-Amateuren aber auch ein zu laxes Urteil angekreidet: Die Dreiphasen-Antibabypille »Triquilar«, in den »Bitteren Pillen« als »zweckmäßig« eingeordnet, verdiene diese Auszeichnung kaum - so der Berliner Arzneikritiker Dr. Ulrich Moebius, der in einer Rezension eine Reihe ähnlicher Fehleinschätzungen aufdeckte.

Mit derlei Filigranarbeit hielt sich Karsten Vilmar, Präsident der Bundesärztekammer, in einer Bremer TV-Talkshow nicht auf; fahrlässig, befand er, weil ohne vorherige eigene Untersuchungen, hätten die Autoren ihr Urteil verkündet - ein absurder Vorwurf: Kein noch so großes Institut wäre imstande, auch nur einen Bruchteil der auf dem Markt befindlichen Medikamente wissenschaftlich exakt auf Wirkungen und Nebeneffekte zu untersuchen.

Ein wissenschaftliches Originalwerk hatten die Verfasser auch gar nicht schreiben wollen. Vielmehr waren sie bei ihrer Pilleninventur längst bewährten ausländischen Vorbildern gefolgt, etwa dem Pharma-Handbuch der »American Medical Association« (AMA), das seit 1971 erscheint und dessen Herausgeber alle verfügbaren Erfahrungsberichte aus der medizinischen Praxis berücksichtigen. Die darin enthaltene Bewertung von Wirkstoffen und Präparaten haben die Autoren der »Bitteren Pillen« in fast allen Fällen übernommen.

Ein ähnlich umfassender, wissenschaftlich solider Arzneimittel-Leitfaden war von deutschsprachigen Experten bis dahin nicht erarbeitet worden. Die Fachleute haben sich, offenbar unberührt von immer neuen Pharma-Zwischenfällen, mit den angeblich unvermeidbaren Arzneimittelrisiken abgefunden. »Was dem einen ein Gift ist«, wiegelt der Münchner Medizin-Professor Klaus

Heilmann ab, »kann eben anderen das Leben retten.«

Ohnedies stecke die Welt voller Gefahren; das Pharma-Risiko wiege vergleichsweise wenig. Jedermann sei 1962 »entsetzt« gewesen »über 3000 'Contergan-Kinder'« - »aber kein Mensch spricht von den 3000 Kindern, die jährlich durch elterlichen Alkoholabusus mißgebildet zur Welt kommen«.

Auch Professor Paul Lüth, Landarzt im hessischen Rengshausen, geht angesichts der »Bitteren Pillen« in die Defensive. Lüth, selber Autor eines allerdings nur mäßig erfolgreichen »Medikamentenbuchs«, lokalisiert die Hauptgefahr in der pillensüchtigen Patientenseele.

»Der Patient«, schreibt er, »ist unbefriedigt und enttäuscht, wenn er nicht eines Rezeptes für wert befunden wurde - eine Einstellung, die ihm nicht von den Ärzten ansozialisiert worden ist.«

Von wem denn sonst?

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