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Kein »Spinneter« mehr

aus DER SPIEGEL 21/1947

Seit kurzem haben die Bauern in und um Gut Zwicklstedt sich angewöhnt, Alfred Kubin mit Hochachtung zu grüßen, wenn er seinen morgendlichen Rundgang durch einen Teil Innlandschaft macht. Sie tun das, seitdem zum 70. Geburtstag des Zeichners Kubin ein richtiger Artikel in der Kreiszeitung gestanden hat. Vorher hat er bei ihnen als so eine Art »Spinneter« gegolten.

Gut Zwicklstedt bei Wernstein am Inn, früher biederes Passauer Hinterland, liegt seit zwei Jahren 15 km jenseits des österreichischen Schlagbaums. So hat Meister Kubin zu seinem 70. Geburtstag vor einigen Wochen keine deutschen Gäste empfangen können. Um so mehr hat Oesterreich sich um seinen Neubürger Kubin bekümmert.

Bundesrat Figl schickte eine Glückwunschadresse, andere Ehrungen kamen. Die Zwicklstedter Kinder zogen auf den Kubinschen Hof und sangen dem greisen, nervösen Künstler das obligate Ständchen. Ferner betrat am Geburtstagsmorgen ein junger feister Truthahn den Hof, ein Geschenk des Zwicklstedter Schulzen.

Kubins Haus hat nichts von einem »Künstlerheim«, alles ist gut bürgerlich, im Stil der Jahrhundertwende. In einer Zimmerecke steht direkt unter dem Fenster ein Tisch. Das ist Kubins Atelier, vielleicht das kleinste der Welt.

An diesem kleinen Arbeitstisch sind jene großartigen Blätter zum Totentanz-Zyklus und zu den »Abenteuern einer Zeichenfeder« entstanden. Hier hat Kubin die Gestalten der halben Weltliteratur gezeichnet und von hier kommen die Zeichnungen, die in den ersten Kubin-Museen der Welt, in New York und Philadelphia, zu sehen sind

Eines ist Kubin bei der Arbeit unentbehrliches Stimulans: Kaffee. Freunde und Verehrer schicken ihn ihm aus allen Teilen der Welt. Auf dem letzten Care-Paket stand als Absender der Name Thomas Mann.

Die Bauern in Gut Zwicklstedt grüßen Alfred Kubin jetzt mit Hochachtung

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