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ABENTEUER Kein Tee für Marco Polo

Marco Polo, dessen Bericht über seine Reise nach China Buch- und Fernsehautoren immer wieder anregt, hat weder seine Reisebeschreibung selbst verfaßt, noch ist er wahrscheinlich jemals in China gewesen. *
aus DER SPIEGEL 52/1983

Seine Landsleute nannten ihn spöttisch »Messer Milione«, denn in den Geschichten, die er ihnen nach seiner Rückkehr von einer 24jährigen Reise erzählte, waren große Zahlen die Pointen und auch andere phantastische Dinge, die so traumhaft waren wie ein Traum von Millionen.

Seit Messer Milione alias Marco Polo (1254 bis 1324) vor rund 685 Jahren den Bericht über seine Reise in das Reich des Mongolen-Fürsten Khubilai Khan aufschreiben ließ, streiten Historiker und Reise-Journalisten, Abenteurer und Linguisten über die Glaubwürdigkeit des venezianischen Kaufmannssohnes.

Trotzdem wurde sein Reisebericht zum Bestseller, als Unterhaltungslektüre, aber auch als Handbuch für Kaufleute, Forscher und Seefahrer. Christoph Kolumbus hatte ein Exemplar mitgenommen, als er 1492 den Seeweg nach Indien suchte, hoffte er doch, von den Erfahrungen des Marco Polo im Umgang mit den Völkern des Fernen Ostens profitieren zu können.

Marco war 17 Jahre alt, als er im Frühjahr 1271 mit seinem Vater und seinem Onkel die Reise zum Großkhan antrat. Nicolo und Maffio Polo waren bereits Mitte der sechziger Jahre als Kaufleute am Hof Khubilais gewesen. Den jungen Polo freilich interessierten andere Dinge als der Handel mit Stoffen, Edelsteinen und Gewürzen. Für ihn war es eine Reise, die sein jugendliches Bedürfnis nach Abenteuer und Bildung befriedigen sollte.

Auch nach rund sieben Jahrhunderten scheinen Leben und Erlebnisse des Messer Milione nichts von ihrer Faszination verloren zu haben. Vielleicht liegt es daran, daß der organisierte Tourismus Abenteuer einplant wie die Reservierung von Zimmern mit Dusche und Balkon. Mögliche Gefahren werden im Prospekt beschrieben und im Kleingedruckten juristisch abgesichert. Der Traum vom Reisen in die unbekannte Ferne wird oft nur zum Alptraum, den gebuchten Anschlußflug nicht zu erreichen.

Wie auch immer, der Venezianer Marco Polo hat Konjunktur: _(Marco Polo: »Il Milione«. Manesse ) _(Bibliothek der Weltliteratur; 480 ) _(Seiten; 29,90 Mark. - Alvise Zorzi: ) _("Marco Polo«. Claassen Verlag, ) _(Düsseldorf; 432 Seiten; 38 Mark. - »Die ) _(Reisen des Marco Polo«. Ullstein ) _(Taschenbuch; Ullstein Verlag, Berlin; ) _(172 Seiten; 6,80 Mark. - »Marco Polo.« ) _(Finken Verlag, Oberursel; 48 Seiten; ) _(14,80 Mark. - K. Miles / D. Butler: ) _("Marco Polo«. Gustav Lübbe Verlag, ) _(Bergisch Gladbach; 416 Seiten; 7,80 ) _(Mark. )

Zur Buchmesse erschien eine bibliophile Ausgabe seines Reiseberichts bei Manesse; im September brachte der Claassen Verlag eine mit kundiger Hand geschriebene Biographie des Abenteuer-Reisenden auf den Markt; die ARD beschert zwischen Weihnachten und Neujahr die Fernsehzuschauer mit einer vierteiligen - insgesamt sechs Stunden dauernden - Marco-Polo-Serie (SPIEGEL 48/1981). Ullstein, Lübbe und der Finken Verlag _(Mit Ken Marshall (Marco Polo) und Ying ) _(Ruo Cheng (Khubilai Khan). )

haben sich mit eigenen Buchproduktionen angehängt.

Die Pariser Tageszeitung »Le Monde« rezensierte in der vorletzten Woche ein halbes Dutzend französischer Neuerscheinungen zum Thema Marco Polo. In Italien, England und den USA sind der Reisebericht des Venezianers und Bücher über ihn derzeit eine besonders beliebte Lektüre. Das Manuskript für sein Buch, das unter den Titeln »Il Milione« und »Le Devisement du Monde« zunächst in Handschriften, später in unzähligen Drucken und in vielen Sprachen verbreitet wurde, hatte Marco Polo in den Jahren 1296 bis 1299 in einem Genueser Gefängnis diktiert.

Nachdem Marco Polo mit seinem Vater und seinem Onkel aus dem Reich des Khubilai Khan nach Venedig zurückgekehrt war, geriet er wenige Monate danach, auf bislang nicht eindeutig zu erklärende Weise, in genuesische Gefangenschaft. Seit Jahrzehnten stritten Genua und Venedig um die Vorherrschaft im Mittelmeer. Dabei ging es vor allem um wirtschaftliche Interessen, denn die militärische Beherrschung des Meeres garantierte der jeweiligen Partei den ertragreichen Handel mit Ägypten und dem gesamten Nahen Osten.

Vielleicht als Kauffahrer, der den Gewinn aus den Geschäften im Mongolen-Reich anlegen wollte, vielleicht als Kommandant einer venezianischen Kriegsgaleere wurde Marco Polo von den Genuesen gefangengenommen.

Irgendwo, in der Nähe der Mole oder des alten Arsenals, in einem alten Schuppen oder Lagerraum, wo die Genueser die Gefangenen aus den Streitigkeiten mit Pisa und Venedig untergebracht hatten, traf Marco Polo einen gefangenen Pisaner: Rustico oder Rustichello, einen Unterhaltungsliteraten, einen Serienschreiber von Rittergeschichten.

Aber vielleicht wußten die Genueser, daß dieser Marco Polo im Besitz von Informationen war, die für den Handel mit den Ländern im Fernen Osten von großem Vorteil sein konnten. Möglich, daß sie Polo und Rustichello absichtlich zusammengebracht haben, um den eitlen Venezianer zum Reden zu bringen.

Aus Polos Erzählungen - angeblich hatte er sich seine Reisenotizen aus Venedig schicken lassen - komponierte Rustichello den phantastischen Bericht einer Reise bis ans Ende der Welt, der Marcos Ruhm begründete. Zwar ist unumstritten, daß Polo eine besondere Beobachtungsgabe und ein ausgezeichnetes Gedächtnis besessen hat, aber ebenso sicher ist, daß Rustichello die Erzählungen des Abenteuer-Reisenden nicht nur in eine literarische Form brachte, sondern auch mit viel Phantasie ausschmückte.

Die vom Kaufmannsgeist geprägten, trockenen Berichte Polos - an vielen Stellen von »Milione« ist diese buchhalterische Genauigkeit noch erhalten geblieben - versuchte Rustichello dem Geschmack des Publikums, seines Publikums, anzupassen.

»Für einen armen Schriftsteller, der seit zwölf Jahren in ein Lager verbannt war«, meint der Polo-Biograph Alvise Zorzi, »bedeutete die Begegnung mit einer Persönlichkeit wie Messer Marco die einmalige Gelegenheit, endlich wieder die eingerostete Feder zu zücken und sich an einen Stoff heranzuwagen, der genauso aufregend, ja noch spannender war als die ewigen Geschichten über die Prinzen von Cornwall und die Ritter von der Tafelrunde.«

Zweifellos hat Rustichello an dem »manierierten Porträt Khubilais mitgepinselt« (Zorzi). Denn mit den überlieferten Bildern des Dschingis-Khan-Enkels, die ihn als dicken Mongolen zeigen, mit aufgedunsenen Wangen und stechenden Augen, oder als alten Mann mit einem von Falten zerfurchten Gesicht, hat Polos emphatische Schilderung einer edlen Lichtgestalt wenig zu tun.

So wichtig - oder unwichtig - die Frage sein mag, was Original-Ton Polo ist und was Rustichello ausgeschmückt hat, entscheidend für die Glaubwürdigkeit des Venezianers ist, ob er wirklich bis China gekommen war. Zweifel an der Authentizität seines Berichts sind angebracht. Sie gründen vor allem auf der Tatsache, daß Polo weder die chinesische Schrift noch die bereits damals weitverbreitete Sitte des Teetrinkens erwähnt. Beides aber seien, meint der Münchner Sinologie-Dozent Klaus Tietze, »einem Fremden seiner Zeit zuvorderst ins Auge fallende typische Merkmale der chinesischen Zivilisation«.

»Man nimmt jetzt an«, so Tietze, »daß Marco Polo nicht über den Mongolenhof in Karakorum (Mongolei) hinausgelangt ist und seine Kenntnisse von China von dort aus zweiter und dritter Hand bezogen hat.«

Beweisen läßt sich weder, daß Marco Polo in China gewesen ist, noch, daß er nicht dort war, wenn auch letzteres wahrscheinlich ist. Polo-Biograph Zorzi hält sich aus diesem Streit raus. Aber es war auch nicht zu erwarten, daß er seinen Landsmann und Helden als Lügner verunglimpft. _(links: Französische Miniatur aus dem 15. ) _(Jahrhundert. Khubilai beim Ausritt (2. ) _(Pferd von links) zur Jagd mit Elefanten. ) _(Bildausschnitt: Khubilai (l.) empfängt ) _(ausländische Diplomaten. ) _(Oben: In mongolischer Kleidung; )

Marco Polo: »Il Milione«. Manesse Bibliothek der Weltliteratur; 480Seiten; 29,90 Mark. - Alvise Zorzi: »Marco Polo«. Claassen Verlag,Düsseldorf; 432 Seiten; 38 Mark. - »Die Reisen des Marco Polo«.Ullstein Taschenbuch; Ullstein Verlag, Berlin; 172 Seiten; 6,80Mark. - »Marco Polo.« Finken Verlag, Oberursel; 48 Seiten; 14,80Mark. - K. Miles / D. Butler: »Marco Polo«. Gustav Lübbe Verlag,Bergisch Gladbach; 416 Seiten; 7,80 Mark.Mit Ken Marshall (Marco Polo) und Ying Ruo Cheng (Khubilai Khan).links: Französische Miniatur aus dem 15. Jahrhundert. Khubilai beimAusritt (2. Pferd von links) zur Jagd mit Elefanten. Bildausschnitt:Khubilai (l.) empfängt ausländische Diplomaten.Oben: In mongolischer Kleidung;

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