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»Keiner wird ohnmächtig, keiner wahnsinnig«

Die Ausstellung »Moskau - Paris« in Moskau / Von *** Bis zum 4. Oktober ist im Moskauer Puschkin-Museum die Ausstellung »Moskau - Paris« zu sehen: Werke und Dokumente französischer und russischer Kunst in ihrer Wechselbeziehung während der Jahre 1900 bis 1930. Die 1979 zunächst in Paris gezeigte Schau hätte nach den getroffenen Abmachungen unverändert, mit allen Beispielen einer spätestens seit Stalin geächteten revolutionären Avantgarde nach Moskau übernommen werden sollen. Tatsächlich wurde sie, gegen Proteste des französischen Botschafters, Zensur-Eingriffen unterzogen, Publikum nur unter erschwerten (inzwischen modifizierten) Bedingungen zugelassen. Trotzdem ist die Ausstellung das Ereignis der Saison. Für den SPIEGEL beschreibt ein nonkonformistischer Moskauer Künstler seinen Besuch im Puschkin-Museum.
aus DER SPIEGEL 27/1981

Die Stadt ist sonnenüberflutet, durch Autoabgase hindurch nehmen empfindliche Nasen Blütendüfte wahr. Die Sohlen kleben am Asphalt und hinterlassen leichte Eindrücke.

Eine Vielzahl von Spuren weist in eine gemeinsame Richtung und vereinigt sich neben dem Puschkin-Museum. Am Eingang die Aufschrift »Moskau -- Paris 1900 - 1930«. Seltsam, daß das Gebäude nicht mit der wartenden Menschenschlange geschmückt ist, wie sie sonst von jeder ausländischen Ausstellung in Moskau unweigerlich hervorgerufen wird. Also Aussicht, ungehindert in das Museum zu kommen? Diese Hoffnung schwindet bei den Worten, mit denen man an der Metro-Station begrüßt wird: »Haben Sie vielleicht ein Eintrittskärtchen übrig?«

Die rotgoldenen Achselstücke der Milizionäre prangen malerisch. Wir nähern uns dem Absperrgürtel. Künstlerausweise machen keinerlei Eindruck, auf alle Fragen kommt die Antwort: »Das Verfahren ist für alle dasselbe --Eintritt nur mit Eintrittskarten.«

Aber wo bekommt man die? An einem Zaun bemerken wir eine Bekanntmachung und überzeugen uns, daß wir über keins der Charakteristika verfügen, denen man entsprechen muß, um an der Museumskasse ein Billet zu erwerben: Noch sind wir keine Helden der Sowjet-Union, keine Helden der Sozialistischen Arbeit. Wir sind nicht mit dem Ruhmesorden ausgezeichnet und auch nicht Abgeordnete des Obersten Sowjets.

Invaliden des Großen Vaterländischen Krieges sind berechtigt, eine Eintrittskarte umsonst zu bekommen. Alle übrigen Sterblichen können die Billets in den Kassen für Theater, Sport und Schauveranstaltungen erwerben. Wir sind schon bereit, uns an die nächste Sportkasse zu stürzen, aber junge Menschen, die ihre Erfahrungen austauschen, lassen uns wissen, daß auch dieser Weg schon längst ausprobiert worden ist -vergeblich.

Die Eintrittskarten sind auf große Betriebe verteilt worden, in kleiner Anzahl und nur zusammen mit Eintrittskarten für wenig besuchte schlechte Theater. Aber selbst angenommen, es seien noch irgendwo welche übriggeblieben, so geht es über menschliche Kräfte, Dutzende solcher über die ganze Hauptstadt verstreute Kassen abzufahren.

Ein barmherziger, noch junger Milizionär rät, in das nicht weit entfernte Gebäude der Museumsverwaltung zu gehen. Nachdem wir herangekommen sind, entdecken wir, daß hier alles läuft, »wie es soll«! Vor der festverschlossenen Tür eine Schlange. Oh, es ist schon leichter ums Herz. Hier ist sie schließlich -- unsere vertraute Schlange. Das werden wir schon durchstehen, daran sind wir gewöhnt.

Wir betrachten die geschnitzte altertümliche Tür, deren Aufschrift uns in Kenntnis setzt, daß nur Bürger aus anderen Städten bevorrechtigt Eintrittskarten bekommen, und auch sie nur, wenn sie Mitglieder schöpferischer Organisationen sind. Eine Frau aus dem Häuschen mit der Schlange davor jedoch erklärt uns, daß wir Eintrittskarten im Künstlerverband erhalten sollten. Nur: Das war ja unser erster, vergeblicher Weg gewesen.

Kaum sind wir aber rückwärts zum Tor durchgekommen, als es uns auch schon gelingt, eine Eintrittskarte bei irgendeiner gutherzigen Frau zu kaufen; eine weitere findet sich noch im Täschchen einer Spekulantin, die diese Karte immerhin nur für das Dreifache ihres Wertes abläßt. Triumphierend gehen wir unter den Säulen des Museums-Portikus hindurch und drängen uns unter S.152 die Glücklichen ins Vestibül. Neugierig schauen wir in die innere Kasse und trauen unseren Augen nicht: Am Glas des Kabinchens ist ein Zettel angeklebt und ganz klein darauf geschrieben: »Künstler und Architekten bekommen Eintrittskarten nach Vorlage ihres Ausweises für einen Rubel.«

Die mit einem roten Läufer bedeckten Treppenstufen führen uns in die zweite Etage. Werke der französischen Impressionisten umgeben uns, Bilder Renoirs, Monets, Bonnards, des frühen Picasso. Auf der gegenüberliegenden Wand des Saals russische Künstler: Wrubel, Korowin, Maljawin, Grabar, Somow.

Irgendwie verloren drängt sich das Publikum, ohne die Schlange zu verlassen, die sich an der Wand entlangzieht. Mit Neugier mustert man einander, manche recken den Hals, schauen in die Tiefe des Saals, sichtlich in der Annahme, daß die Hauptsache noch irgendwo weiter vorn kommen würde.

Nur einzelne Zuschauer bleiben vor den Gemälden stehen. Man hört keinerlei Entzückensrufe und auch kein Murmeln der Mißbilligung. Das Scharren der Füße übertönt leises, nicht für fremde Ohren bestimmtes Reden.

Jede Abteilung der Ausstellung ist mit Schrifttafeln versehen, zu denen die Zuschauer vergebens einen Schlüssel suchen. Auf vielen Gesichtern liegt der Ausdruck der Ratlosigkeit. Man setzt allgemein voraus, die Sprache der bildenden Kunst sei allgemein verständlich und international. Aber um moderne Malerei aufzunehmen, müßte man fähig sein, alle Dogmen abzuwerfen und sich in die Welt der visuellen Formen zu versenken, die mit nichts vergleichbar sind, außer mit anderen Werken.

Picassos Porträt von Vollard zeigt den Besuchern eine neue Seite der Malerei. Eine ältere Dame mit einem Opernglas blickt lange in das Bild hinein und erklärt: »Hier ist etwas drin.« Dafür aber kann sie in dem danebenhängenden Bild von Braque »Komposition mit Geige« partout das genannte Musikinstrument nicht entdecken.

Die praktisch vollkommene Unzugänglichkeit der Werke von Kandinsky für die Moskauer Betrachter erklärt sich offensichtlich aus der Furcht vor einem vollständigen Umschwung im Bewußtsein der Menschen. Ihnen ist eingehämmert worden, die Materie sei originär und die Aufgabe des Künstlers bestehe lediglich darin, »die große geschichtliche Rolle unseres Volkes im Kampf für den Kommunismus« anschaulich zu machen.

Allein die Betrachtung zweier großer Kompositionen Kandinskys könnte schon den auf zwei Stunden begrenzten Ausstellungsbesuch ausfüllen. Die meisten Leute jedoch drängen sich nach alter Gewohnheit, nur um irgendwie der inneren Leere zu entgehen. Der Durchschnittsbürger strebt zu solchen Ausstellungen aus Gewohnheit, nach allem Knappen anzustehen.

Wenn in Rechenschaftsberichten Ziffern mit vielen Nullen erscheinen, soll man sich dadurch nicht ein hohes Kulturniveau des sowjetischen Beschauers vorgaukeln lassen. Für Menschen, die von einer Mauer der Propaganda umgeben sind, verlieren die Erscheinungen ihre eigene Bedeutung und bekommen eine neue, völlig unangemessene. Ein aktuelles Beispiel dieser Art von schiefer Rezeption gibt die »Literaturnaja gaseta« vom 10. Juni 1981, in der eine Meldung zur Ausstellung Moskau-Paris unter anderem behauptet, »nicht zufällig« seien der Kern der Ausstellung jene Exponate, die »mit dem Aufenthalt Lenins in Frankreich verbunden sind, mit der bescheidenen Wohnung in der Pariser Rue Marie-Rose, wo jetzt ein Museum besteht«.

Kasimir Malewitschs »Schwarzes Quadrat« und »Suprematistische Komposition« reißen den Menschen aus den Stereotypen seines Bewußtseins. Auch wenn man die kunsthistorische Bedeutung Malewitschs in Frage stellt, sind seine Bilder auf der jetzigen Ausstellung nützlich, weil sie abgedroschene Wahrnehmungsmodelle erschüttern. Ehrbare Menschen blicken mit leichtem Schaudern hinauf und gehen davon. Langhaarige Jugendliche in Jeans sind sichtlich zufrieden.

Wladimir Tatlins Modell für den »Turm der Dritten Internationale« aus sich drehenden Teilen ist im großten und am wenigsten besuchten Ausstellungssaal aufgestellt, im Saal, der der sowjetischen Agitationskunst gewidmet ist. Er legt, auch ohne Analyse aller Einzelstücke, nahe, daß die Franzosen das Milieu des Lebens für den Menschen vervollkommnet haben; die sowjetischen Technokraten aber haben versucht, die Natur des Menschen selber zu verändern, sein Bewußtsein umzuschaffen, um so den Menschen völlig zu einer Art Zugabe zur Maschine zu machen.

Aber nun ertönt eine durchdringende Klingel, die Museumsdiener zeigen auf den Ausgang. Mit welchen Gedanken gehen wir fort? Die Ausstellung ist in einem Museum untergebracht, das die Kunst in einer grandiosen Geschichtsperspektive darstellt: Von Ägypten und dem alten Griechenland bis zu den Impressionisten und bis Picasso.

Es ist sehr bedeutungsvoll, daß die russische Avantgarde einfließt in den unteilbaren und ewig lebendigen Strom der menschlichen Kultur. Ganz natürlich erhebt sich die Frage, warum dem sowjetischen Volk die Leistung der russischen Kultur in all ihrem Reichtum und in all ihrer Vielgestalt vorenthalten wird. Welche Gefahr für das Regime können die Experimente einzelner Idealisten darstellen?

Jetzt kann sich der sowjetische Betrachter davon überzeugen, daß für ihn jedenfalls nichts Gefährliches in der Möglichkeit liegt, sich auch den Surrealismus, den Expressionismus und den Kubismus anzusehen. Niemand fällt in Ohnmacht, niemand wird wahnsinnig, keine Decke stürzt ein.

Nach den blassen, grauen Ausstellungen des offiziellen Künstlerverbandes ist diese Ausstellung wie ein Fenster in die Welt der Imagination, der durch nichts reglementierten Experimente.

Der Austausch zwischen der französischen und der russischen Kultur begann vor mehr als 80 Jahren. Für 50 Jahre kam dann diese Dynamik zum Stillstand. Die heutigen sowjetischen Avantgardisten versuchen, Brücken zu bauen in die Vergangenheit. Aber in der Isolation ist das sehr schwierig. Daher auch die Selbstwiederholung, das fruchtlose Treten auf der Stelle, das Unverständnis der Betrachter, wenn einmal -- selten genug -- nichtoffizielle Kunst in Moskau ausgestellt werden darf.

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