Margarete Stokowski

Coronapolitik Woher kommt der Kinderhass?

Margarete Stokowski
Eine Kolumne von Margarete Stokowski
Die meisten Leute behaupten von sich, Kinder zu mögen. Doch in der Pandemie werden ihre Interessen ignoriert. Neu ist das nicht. Die Abwertung von Kindern und Jugendlichen ist tief in unserem Denken verankert.
Kinder in Deutschland: Geliebt? Nicht in der Pandemie

Kinder in Deutschland: Geliebt? Nicht in der Pandemie

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KatarinaGondova / iStockphoto / Getty Images

Deutschland hasst Kinder. Das kann man spätestens seit der Pandemie so sagen, denke ich. Es ist natürlich nicht so, dass alle Deutschen Kinder hassen, wahrscheinlich würde in Umfragen sogar herauskommen, dass die meisten Deutschen von sich behaupten, Kinder zu mögen. Wahrscheinlich würden das auch die meisten regierenden Politiker*innen sagen. »Soziale Erwünschtheit« würde man das dann nennen, so heißt das Phänomen, dem zufolge Leute in Umfragen oft ein gesellschaftlich akzeptiertes Bild von sich zeichnen, obwohl sie den Rest des Tages nach anderen Maßstäben handeln. Leute nennen sich ja auch »tierlieb« und essen Tiere, was will man machen? Jedenfalls: Deutschland als Staat hasst Kinder, und es gibt nicht genügend politischen Druck auf Politiker*innen, um daran etwas zu ändern, denn dazu ist die Abwertung von Kindern zu tief in unserem Denken verankert. Nicht nur in Deutschland, aber schon auch speziell hier.

Nicht alle machen das so deutlich wie Julian Nida-Rümelin. In einem Interview  sagte der Philosoph vor wenigen Wochen zur Corona-Inzidenz: »Wenn diese Inzidenzen bei unter 20-Jährigen durch die Decke gehen, ist uns das ziemlich egal, weil da passiert fast nichts.« Dieses »fast nichts« bedeutet allerdings, dass durchaus auch Kinder und Jugendliche an Covid-19 sterben können  und viele mit Langzeitfolgen  einer Infektion zu kämpfen haben (abgesehen davon, dass die allerwenigsten unter 20-Jährigen allein wohnen und folglich andere anstecken können). Nida-Rümelin ist leider nicht irgendwer, sondern stellvertretender Vorsitzender des Deutschen Ethikrats. Also jemand, von dem die Regierung sich beraten lässt.

Dass die deutsche Coronapolitik insgesamt Kinder und ihre Bedürfnisse nicht hinreichend bedacht hat, braucht man vermutlich nicht zu erklären. Meine Kollegen Sascha Lobo und Christian Stöcker haben kürzlich darüber geschrieben. »In den vergangenen 14 Monaten wurden die Interessen von Kindern und Jugendlichen erst hintangestellt, dann ignoriert und schließlich mit Füßen getreten«, schrieb Stöcker. Beispiele gibt es mehr als genug: Ungenügende Strategien für Kita- und Schulschließungen und die dementsprechend benötigte Betreuung, nicht genug Geld für Coronatests für Kinder, nicht genug Geld für Luftfilter, stattdessen ständiges Lüften im Winter, schrottige Digitalisierung der Schulen, nachbesserungswürdige Regelungen für private Treffen, bei denen Kinder dabei sind, keine Impfpriorisierung für Eltern , verwirrende Impf-Informationen  für Stillende und Schwangere, Ausflüge nach Mecklenburg-Vorpommern  bitte ohne die potenziell keimigen Kleinen. Dass sehr viele Kinder und Jugendliche seit über einem Jahr schon unnötig viel leiden, ist theoretisch bekannt, politisch aber wenig wirksam.

Altersdiskriminierung gibt es auch gegen Kinder

Aber warum? Woher kommt diese Missachtung von Kindern? Es gibt den Begriff der Altersdiskriminierung, aber meistens wird er verwendet, wenn ältere Menschen ausgeschlossen oder beleidigt werden. Aber Altersdiskriminierung gibt es auch gegen Kinder und Jugendliche und sie hängt mit anderen Formen der Diskriminierung zusammen, vor allem mit Misogynie, also Frauenfeindlichkeit.

Kinderfeindlichkeit ist, ideologiekritisch betrachtet, eine notwendige Folge von Kapitalismus und Patriarchat. Beim Kapitalismus liegt das vielleicht noch mehr auf der Hand als beim Patriarchat, aber beides hängt natürlich zusammen.

Mit Kindern gut umzugehen, bringt kurzfristig weniger für die Wirtschaft, als eine Fluggesellschaft zu retten. Wer hauptsächlich das Kapital und weniger die Menschen schützen will, für den sind kleine Menschen, die noch keine Profite schaffen, hauptsächlich ein Betreuungsproblem und unfertige spätere Arbeitskräfte. Wenn bezüglich Corona im vergangenen Jahr die Rede von Minderjährigen war, dann oft als »Schülerinnen und Schüler«, die dies oder das dürfen oder müssen. Aber Kinder und Jugendliche sind eben nicht nur Schülerinnen und Schüler. Auch, sicher. Aber sie haben neben dieser Rolle auch noch ein Privatleben, das allerdings hauptsächlich dann ein Thema war, wenn es darum ging, wie gefährlich nun im Park sitzende Gruppen von Jugendlichen sind oder wie man Smartphonesucht bei Kindern kurieren kann. Was Kinder und Jugendliche jetzt bekommen, während die ersten geimpften Erwachsenen ohne Kinder ihre Sommerurlaube buchen, ist das »Aktionsprogramm Aufholen nach Corona «, das schon im Namen den Wettbewerb in sich trägt. Darin sind zwar auch Freizeitaktivitäten vorgesehen, aber es heißt nicht »Erholen nach Corona«, sondern »Aufholen«, damit die kleinen Knechte es sich auf den zwei Milliarden nicht zu gemütlich machen .

Frauen- und Kinderhass sind zwei Seiten einer Medaille

Die Verknüpfung von der Kinderfeindlichkeit zum Patriarchat mag für manche etwas konstruiert wirken, liegt aber eigentlich auf der Hand. Solange Kinder hauptsächlich von Frauen geboren und erzogen werden, sind Frauen- und Kinderhass nur zwei Seiten einer Medaille. Die Feministinnen der Siebzigerjahre haben diesen Zusammenhang häufiger betont als heutige Feministinnen, und ich fand das lange Zeit ein bisschen eigenartig bis esoterisch, aber es war in der Grundidee richtig. So forderte zum Beispiel Shulamith Firestone in »Frauenbefreiung und sexuelle Revolution« im Jahr 1970 (1975 für die deutsche Übersetzung) unter anderem »die Verlagerung der Kindererziehung auf die gesamte Gesellschaft«, »politische Autonomie von Frauen und Kindern durch ökonomische Unabhängigkeit« und »vollständige Integration von Frauen und Kindern in die Gesellschaft« (ergänzt durch den Zusatz: »Nieder mit der Schule!«).

Auch Erich Fromm schrieb zur selben Zeit (1971, in »Überfluss und Überdruss in unserer Gesellschaft «) über die »Krise der patriarchalisch-autoritären Struktur« und die voranschreitende Entwicklung weg vom Patriarchat: »Die Frauen waren wie die Kinder Objekt und Eigentum der Männer. Das ist anders geworden. (...) Und es spricht alles dafür, dass diese Revolution der Frauen weitergehen wird, genauso wie die Revolution der Jugendlichen und Kinder. Sie werden ihre eigenen Rechte erkennen, artikulieren und vertreten.«

Solange aber immer noch hauptsächlich von Müttern erwartet wird, dass sie sich um das Wohl ihrer Kinder kümmern, so lange sind Kinder darauf angewiesen, dass Frauen genug Rechte haben, und Frauen darauf angewiesen, dass Kinder genug Rechte haben. Davon sind wir aber noch weit entfernt, und das sieht man hauptsächlich bei zwei Machtthemen: Geld und Gewalt. Armut bei Frauen und Kindern hängen eng zusammen, denn Kinderarmut ist hauptsächlich eine Folge von Frauenarmut. Frauen werden in Deutschland finanziell bestraft, wenn sie Mütter werden . Bei Männern ist es umgekehrt, Vaterschaft wirkt sich positiv auf ihr Einkommen  aus.

Das wäre politisch änderbar, ebenso wie die Frage der Gewalt: Frauenhäuser heißen zum Beispiel »Frauenhäuser«, aber oft kommen dort nicht nur Frauen unter, die Gewalt erlebt haben, sondern Frauen mit ihren Kindern. Wenn Platz ist. Denn Frauenhäuser in Deutschland waren schon vor der Pandemie stark überlastet und konnten den Bedarf an Plätzen bei Weitem nicht decken . Aktuell fehlen über 14.600 Frauenhausplätze, berichtete der NDR  vor Kurzem. Sogenannte »häusliche Gewalt« hat während der Pandemie massiv zugenommen, die Zahlen für Frauen und Kinder werden oft in einem Atemzug genannt.

Die Polizei registrierte eine Zunahme von um 6,8 Prozent bei sexualisierter Gewalt gegen Kinder, und man weiß, dass diese Gewalt oft im sozialen Nahbereich, also auch durch die Eltern , stattfindet. Das Hilfetelefon »Gewalt gegen Frauen« verzeichnete 15 Prozent mehr Anrufe. Wenn Frauen sich nicht von gewalttätigen Partnern trennen können, ist das oft auch eine Frage der finanziellen Abhängigkeit, und oft leiden darunter nicht nur die Frauen, sondern auch ihre Kinder.

Und das alles in einem Land, das Schwangeren Abtreibung immer noch schwer macht und den »Schutz des ungeborenen Lebens« betont, aber wenn dieses Leben dann geboren ist, zählt sein Schutz nicht mehr ganz so viel. Die Pandemie hat diese Situation nur verschärft, denn sie ist insgesamt nicht neu. Der Gewaltschutz für Frauen und Kinder war vorher schon schlecht. Die Betreuungssituation ebenso, die Ausstattung der Schulen dito.

Es ist kein Zufall, dass junge Menschen häufiger links, feministisch und ökologisch denken, es ist ihr Überlebenswille.

Dass Kinder und Jugendliche und ihre Bedürfnisse von der Politik zu wenig mitbedacht werden, war vorher auch schon so. Muss man das Kinderhass nennen? Man müsste nicht. Man könnte auch von Ausgrenzung und Unterdrückung sprechen, es käme aber aufs Selbe raus. Jede menschenfeindliche Ideologie benutzt Kinder und Jugendliche als Kanonenfutter, und da sind Kapitalismus und Patriarchat keine Ausnahmen. Es ist kein Zufall, dass junge Menschen häufiger links, feministisch und ökologisch denken, es ist ihr Überlebenswille.

Protestantischer Hang zum Leiden und Abhärten

Kapitalismus und Patriarchat gibt es natürlich auch in anderen Ländern. Ob es für die spezifisch deutsche Kinderfeindlichkeit ausschlaggebend ist, dass Deutschland sich auf seine Ordentlichkeit und Pünktlichkeit viel einbildet und Kinder das personalisierte Chaos sind, weiß ich nicht. Auf jeden Fall aber wird die Situation nicht gerade dadurch erleichtert, dass bis vor wenigen Jahrzehnten die Erziehungsratgeber der NS-Ideologin und Ärztin Johanna Haarer  in vielen Haushalten zu finden waren (etwa »Die deutsche Mutter und ihr erstes Kind«). Heute sind es Bestseller wie »Jedes Kind kann schlafen lernen«, die empfehlen, Kinder mit Schlafproblemen allein in ihrem Zimmer zu lassen und nur gelegentlich nach ihnen zu sehen, sie aber nicht in den Arm zu nehmen . Der protestantische Hang zum Leiden und Abhärten will früh gelernt sein.

Wenn es nun immer mal Diskussionen um die Absenkung des Wahlalters gibt, kann man nur sagen: nur zu. Wenn jüngere Menschen mehr politische Macht hätten, sähe dieses Land ganz anders aus.

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