Kampusch-Film "3096 Tage" Gehorche! Gehorche! Gehorche!
Diesen Anfang hätte man nicht erwartet: Natascha Kampusch (Antonia Campbell-Hughes) zieht einsam ihre Bögen in den Schnee, sie scheint alleine auf der Piste, ein Bild der Weite und der Freiheit. Es kann nur ein flüchtiger Traum gewesen sein, denn bald steht er wieder neben ihr, der Entführer Wolfgang Priklopil (Thure Lindhart), der sogar die Toiletten am Hang inspiziert, bevor Natascha sich dort erleichtern kann.
Kampusch selbst hat im Jahr 2010 mit dem Buch "3096 Tage" ihre Erfahrungen der mehrjährigen Gefangenschaft in Priklopils Keller verarbeitet. Der im Januar 2011 verstorbene Bernd Eichinger destillierte aus dieser Vorlage und vielen persönlichen Gesprächen mit Kampusch ein Drehbuchfragment, das Ruth Thoma nach Eichingers Tod zum fertigen Skript ausarbeitete. "Erzählen, was wirklich geschehen ist" - dies ist das vollmundige Anliegen des Films. Wenn man sich allerdings erinnert, wie Eichinger 2004 als Autor und Produzent von "Der Untergang" in seiner ganzen authentizitätsberauschten Detailfixierung die Wahrheit weiter verfehlte, als es jedem fiktionalen Film je möglich gewesen wäre, dann konnte es einem ob dieser Aussicht angst und bange werden.
Umgeben von grauen Wänden
Diese Furcht jedoch erweist sich als unbegründet. In der Reduzierung auf die Opferperspektive, die so ganz freilich nicht durchgehalten wird, entkommt Regisseurin Sherry Hormann den vielen Fallen ihres Sujets: Sie emotionalisiert nicht. Sie psychologisiert nicht. Und sie verzichtet darauf, einen notwendig fiktiven Hintergrund zu erschaffen, der die Taten dieses Priklopil erklären würde, der die zehnjährige Natascha, gespielt von Amelia Pidgeon, im März 1998 auf dem Schulweg in seinen weißen Lieferwagen zerrt und sie dann achteinhalb Jahre als Tochter, Gefährtin, Gespielin in einem zwei mal drei Meter großen Bunker unter seinem Haus gefangen hält. Kamera-Legende Michael Ballhaus ("Die Ehe der Maria Braun", "Departed - Unter Feinden") hat sich für diesen Film aus dem Ruhestand begeben und macht aus der Not eine Tugend: In jeder Einstellung sind graue Wände sichtbar, jedes Bild beschreibt die Enge von Nataschas neuer Welt.

Kinofilm "3096 Tage": Ein Verbrechen und seine vielen Facetten
Apropos Enge: Wenn es so etwas wie eine These dieses Films gibt, dann stellt er Priklopil als die Verkörperung des spießbürgerlichen Kontrollwahns dar. Wisch das weg! Weißt du, wie viel das Shampoo kostet? Da muss erst ein Platzdeckchen drunter. Und, immer wieder bis in Nataschas Träume hinein: gehorche! Gehorche! Gehorche! Priklopils Kaffeekränzchen mit Mutter, Oma und scheußlich altbürgerlichem Porzellanservice erinnert in Bildaufbau und Atmosphäre durchaus an den dienststubenmieferstickten Suppenimbiss, den Eichinger in einer bezeichnenden Szene des "Baader-Meinhof-Komplex" den BKA-Präsidenten Horst Herold mit seinem Assistenten löffeln ließ.
Entsprechend unbewegt, geradezu als Chiffre legt der dänische Schauspieler Thure Lindhardt seine Figur an. Unfähig zum Glück, wie er ist, gerät ihm ein Lachen höchstens zur scheußlichen Grimasse. Nur im Zorn kann er sich mitteilen, die Gewalt ist sein Medium, und wenn er auf Natascha einprügelt, dann fliegen ihm symbolträchtig die sorgfältig nach hinten pomadisierten Locken in die Stirn. Später als es in Wirklichkeit wohl der Fall war, entlässt dieser Priklopil Natascha ab und an aus ihrem Kerker, in dem sie sich, so suggeriert es der Film, jahrelang die Zeit mit Büchern, Malen und hindrapierten Kinderkleidchen als Spielkameraden vertreiben musste.
Verhängnis und Erlösung folgen keinem Masterplan
Diesem Verlies entsteigt eine junge Frau, die Autofahrten, Gartenspaziergänge, Baumarktbesuche als überwältigende Sinneseindrücke voller Möglichkeiten und Gefahren wahrnimmt. Antonia Campbell-Hughes kehrt das Zerbrechliche ihrer Figur ebenso hervor wie das langsam erwachende Selbstbewusstsein. Mal mit gesenktem Blick, der hin- und herhuscht, dann wieder mit hoffnungsvoller Unterwürfigkeit, strahlend vor Glück oder zu Tränen aufgelöst: Einer eindeutigen Interpretation ihrer Rolle weicht sie aus.
Das ist trefflich, weil sich in so langer Gefangenschaft sicherlich ein wahnwitziges Sammelsurium aus widersprüchlichen Gefühlen entwickeln muss. Dieses führen die Filmemacher in einer gewagten Szene zu seiner logischen Konsequenz: Priklopil vergewaltigt Natascha, nicht zum ersten Mal, und sie scheint zu versuchen, der Situation geradezu trotzig einen eigenen Lustgewinn abzuringen. Kampusch hat diese Szenen abgesegnet, weil sie den Spekulationen darüber ein Ende setzen wollte - dennoch ist das Geschehen gerade in seiner Vieldeutigkeit wesentlich verstörender als manche in Zeitlupe ausgewalzte Prügelattacke Priklopils.
Nataschas Entwicklung von einem verängstigten Kind zu einer erstarkenden Frau ist das Skelett, an das die Erzählung sprunghaft Einzelszenen heftet - bis Natascha im August 2006 die Flucht aus der Gefangenschaft gelingt. Eine Unachtsamkeit, ein Verkettung von Zufällen: Verhängnis und Erlösung folgen keinem Masterplan, an Kampuschs Geschichte ist nichts Exemplarisches und nichts Zwangsläufiges. Außer vielleicht einer klugen Erkenntnis, die die Gefangene ihrem Peiniger entgegenschleudert und die dem Film vorangestellt ist: Nur einer der beiden werde diese Sache überleben.