"120 BPM"-Regisseur Robin Campillo "Aids hat meine Jugend zerstört"

Um gegen Aids zu kämpfen, unterbrach Robin Campillo sein Filmstudium. Warum er jetzt den Aktivistenfilm "120 BPM" machen konnte und Schwule zu einer anderen Art von Trauer gezwungen werden, erzählt er hier.
Robin Campillo

Robin Campillo

Foto: Larry Busacca/ Getty Images
Zur Person

Robin Campillo, geboren 1962 in Marokko, machte sich zunächst als Drehbuchautor einen Namen, u.a. schrieb er das Drehbuch zu "Die Klasse" von Laurent Cantet, der 2008 in Cannes die Goldene Palme gewann. Sein Regiedebüt "Les Revenants" von 2003 war die Vorlage für die gefeierte Fernsehserie gleichen Namens. Nach "Eastern Boys" (2013) ist "120 BPM" Campillos dritte Regiearbeit. In Cannes wurde der Film in diesem Jahr mit dem Grand Prix, dem zweitwichtigsten Preis des Festivals, ausgezeichnet und als Frankreichs Oscar-Einreichung ausgewählt. "120 BPM" läuft seit 30. November in den deutschen Kinos.

SPIEGEL ONLINE: Herr Campillo, der Blick von "120 BPM" auf die Aidskrise ist ungewöhnlich: Sie erzählen nicht, wie Aids für Schwule den Spaß an den gerade erst erkämpften Freiheiten beendete, sondern über die frühen 1990er, als man überhaupt nicht mehr über Sex sprechen konnte, ohne gleichzeitig an Aids zu denken.

Campillo: 1982, als wir anfingen, über Aids in Frankreich zu reden, war ich zwanzig. Ich weiß also noch, wie der Sex vor Aids war. Zehn Jahre später war mein ganzes Leben von der Angst bestimmt, mich zu infizieren. Und als ich 1992 zur Aktivistengruppe ACT UP kam, war das wie eine zweite sexuelle Befreiung für mich. Wir haben gemeinsam den Sex und den Spaß wiedergefunden - es war hart, aber nicht traurig. Intensiv, aber nicht düster. Wie alt waren Sie 1992?

SPIEGEL ONLINE: 18. Ich wollte alles über schwulen Sex wissen, aber alles, was es gab, waren Berichte über Leute, die sterben. Dein Leben fängt an, und du hörst nur vom Tod.

Campillo: Aids hat meine Jugend zerstört. Das kann man vor allem Heteros so schlecht erklären: Dass man aufhört, menschliche Bindungen einzugehen, wenn man aufhört, Sex zu haben. Und das habe ich sechs Jahre lang gemacht. Andere haben versucht, die Gefahr zu ignorieren. Es gab viele Formen der Verleugnung. Keiner unter uns konnte damals objektiv über die Epidemie nachdenken.

SPIEGEL ONLINE: Sie haben in den 1980ern an der Filmhochschule in Paris studiert. Kam Ihnen der Aktivismus dazwischen?

Campillo: Mir kam Aids dazwischen. Ich wollte unbedingt Filmemacher werden, und plötzlich befand ich mich selbst in einem schlecht geschriebenen Science-Fiction-Film. Also ging ich 1983 zur Filmhochschule, um mich vor der Epidemie in Sicherheit zu bringen. Aber dort merkte ich, dass alle Filme, die ich wirklich mochte, die Nouvelle Vague, Bresson, mir nicht dabei geholfen haben zu verstehen, was gerade los ist. Die Nouvelle Vague war, von Demy abgesehen, ja sehr hetero. Aber es war auch ein Kino der Gesunden! Wenn da jemand starb, dann durch eine Revolverkugel. Das einzige Gegenbeispiel war Agnès Vardas "Mittwoch zwischen 5 und 7" über eine Frau, die auf ihre Krebsdiagnose wartet. Das war sehr nah dran an dem, was ich damals erlebte. Es gab also diese Epidemie auf der einen Seite und das Kino auf der anderen, und ich habe 35 Jahre gebraucht, um das zusammen zu bringen. Für "120 BPM" brauchte ich Zeit und Distanz.

SPIEGEL ONLINE: Einen Film über eine soziale Bewegung zu machen, stelle ich mir als große Herausforderung vor. Man kennt vor allem aus den USA Filme über Aktivismus, die über einzelne Figuren erzählt werden, Identifikationsangebote machen - zum Beispiel Gus Van Sants Biopic über Harvey Milk. Ihr Film inszeniert hauptsächlich die Gruppentreffen.

Campillo: Ich habe den Film zum größten Teil um die Hörsaal-Amphitheater-Situation gebaut - die ist wie ein Gehirn, ein großer weißer Raum ohne Fenster, heimgesucht von Wörtern, Bildern und Ideen. Das war ein ganz wichtiges Gefühl damals: Dass wir uns durchs Reden Macht verschaffen können. Heute erscheinen die Wörter und Begriffe so schwach, vor allem in der aktuellen politischen Situation in Frankreich. Ich stelle mir meine Filme immer als Science-Fiction-Filme vor, mit spezifischen Zeiträumen. Neben dem Hörsaal gibt es den Klub: Der ist das Gegenteil, schwarz, ohne Wände, ohne Wörter. Da wollte ich die Figuren irgendwann nur noch tanzen sehen.

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"120 BPM": Reden, kämpfen, lieben, sterben

Foto: Edition Salzgeber

SPIEGEL ONLINE: Aber es gibt ja auch das zentrale Paar, der HIV-positive Sean und HIV-negative Nathan, die sich ineinander verlieben.

Campillo: Sie verkörpern Gegensätze, unterschiedliche Positionen. Sean, der sich verbrennt - im Leben, im Aktivismus, in der Krankheit. Nathan, der sich abschirmt, wird überleben, das merkt man. Das ist etwas, worüber wir Schwulen, die diese Zeit erlebt haben, nie reden: Die schönsten, aufregendsten, liebevollsten Jungs, das waren die, die gestorben sind. Das wusste man von vorneherein: Diese Typen, so empfindsam, so feinfühlig - die werden sterben! Wenn man darüber nachdenkt, befällt einen fast ein Schamgefühl. Nur wir, die Übervorsichtigen, haben überlebt.

SPIEGEL ONLINE: In Ihrem Film gehen die Zeiten, aber auch die Räume ineinander über, die Straße in den Klub, der Klub in das Schlafzimmer. Und dazwischen schweben Partikel: Körperzellen, Staub, Asche oder Konfetti.

Campillo: Ja, die ungebundenen Formen. Das hat etwas mit der Erfahrung zu tun, jemanden zu verlieren. Genau wie Nathan im Film habe auch ich einen Lover bis zum Tod begleitet. Er war 20 Jahre alt. Und ich vermisse ihn immer noch, nicht so sehr als Mensch, sondern seinen Körper. In den Zeiträumen, von denen ich erzähle, ist er anwesend. Ich hatte auch nebenher noch ein Leben, das nichts mit Aktivismus zu tun hatte, aber daran kann ich mich kaum noch erinnern. ACT UP war wie eine andere Dimension. Wir fühlten uns wie in einem Raumschiff, das die Erde verlässt.

SPIEGEL ONLINE: Die Philosophin Sara Ahmed spricht von einer spezifisch "queeren Trauer". Das empfinden diejenigen, die von der Gesellschaft als weniger wert erachtet werden, die nicht von Familie oder Staat betrauert werden, und die deshalb ihre Toten nicht loslassen, sondern bei sich behalten und mit anderen teilen. Quasi als gesunde Form der Melancholie, die Freud pathologisch genannt hätte.

Campillo: Das entspricht genau meinen Gefühlen damals. Als mein erster Freund starb, war es plötzlich so, als hätte er nie existiert, als hätten wir als Paar nie existiert. Das war schrecklich. Deshalb bleibt er für mich lebendig. Und deswegen wollten wir damals auch die Erfahrung des Sterbens miteinander teilen.

SPIEGEL ONLINE: Was hat Sie eigentlich an den Reaktionen auf den Film am meisten überrascht? Hätten Sie gedacht, dass er in Frankreich so erfolgreich sein würde?

Campillo: Das hätte ich nie für möglich gehalten. Ein Film über Aids, wo viel über Medikamente geredet wird, in dem es eine lange Sexszene mit zwei Männern gibt - auf dem Papier sah das nicht so massentauglich aus. Und jetzt haben ihn 800.000 Menschen gesehen, vor allem Frauen! Und ich habe gemerkt, wie unterschiedlich die Reaktionen in verschiedenen Generationen waren. Ich habe den Film ja mit jungen Schauspielern gedreht. Sich in die Zeit um 1990 einzufinden, war für sie gar nicht leicht. Diskussionen nicht über Emails zu führen, war neu für sie.

SPIEGEL ONLINE: Der Spaß daran, sich gegenseitig anzuschreien...

Campillo: ...der Zauber der Rede, ja. Der Umgang in der Gruppe war oft überraschend umsichtig, wenig gewalttätig.

SPIEGEL ONLINE: Dafür gab es ja auch besondere Regeln, die Sie im Film herausarbeiten: Dass man nicht durch Klatschen den Redefluss zerstört zum Beispiel, und sich für seine Äußerungen anmeldet. Woher kam das?

Campillo: Das haben wir von ACT UP New York übernommen. Anderes war schwieriger zu importieren. In Frankreich durfte man ja 1992 nicht von "Community" sprechen oder von "Minority", in der Großen Nation sind ja alle gleich! Man empfand diese Begriffe als beleidigend - was verrückt war, denn in den USA hatte man sie ja nach Ideen französischer Philosophen wie Deleuze oder Foucault entwickelt.

SPIEGEL ONLINE: Die Gruppe wird ja fast ein wenig idealisierend dargestellt, überhaupt scheint sie ziemlich integrativ zu sein.

Campillo: Aber schon ziemlich weiß, oder? Ich hatte schon überlegt, einen multikulturelleren Cast zu engagieren, aber dann fand ich es doch ehrlicher, es zu zeigen, wie es damals war. Es gab schlimme Auseinandersetzungen, aber nach vier Stunden Diskussionen konnten wir alle nicht allein nach Hause, haben noch zusammen gegessen, brauchten uns trotz all der Unterschiede. Und wir wussten: Wenn jemand von uns stirbt, kann auch der größte Zusammenhalt ihm nicht helfen.

Aktivistenfilm "120 BPM": Mit Kunstblut die Welt retten

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