Auf Sinnsuche mit Isabelle Huppert Gatte verloren, Glück gefunden

Auf Sinnsuche mit Isabelle Huppert: Gatte verloren, Glück gefunden
Foto: WeltkinoUnten streiken die Studenten, oben will die Dozentin in Ruhe ihr Philosophieseminar abhalten. Als die jungen Leute am Pariser Lycée fordern, mit ihr über Arbeitnehmerrechte und Sozialleistungen zu diskutieren, kontert Nathalie (Isabelle Huppert) brüsk: "Politik interessiert mich nicht." Ein sonderbarer Satz für eine Frau, die im nächsten Atemzug Jean-Jacques Rousseaus Gesellschaftsvertrag mit einer Zärtlichkeit rezitiert, als sei der Text ein Liebesgedicht.
Man kann die Anspannung der Akademikerin verstehen. Der Kleinverleger, bei dem sie philosophische Aufsatzbände veröffentlicht, hat der Buchreihe gerade ein moderneres Layoutkonzept verpasst. Nathalie findet, die Bücher sehen jetzt aus wie Haribo-Tüten. Ihre wehleidige Mutter hält sie mit Wimmeranrufen auf Trab und nimmt sie in emotionale Geiselhaft. Und Nathalies Mann teilt ihr mit, dass er sie verlasse, um mit einer Jüngeren zusammenzuleben.

Kino-Drama "Alles was kommt": Sommer! Schmerz! Rousseau!
Alles vergeht in Nathalies Leben, aber ist dieser Film deshalb ein trauriger Film? Keineswegs, "Alles was kommt" ist vielmehr der schönste Sommerfilm dieses Jahres. Ein lichtgefluter philosophischer Reigen über das Zerbrechen und Zusammenfinden von Gemeinschaften aller Art.
Die Heldin, ein wankender Kahn
Autorin und Regisseurin Mia Hansen-Løve, die auf der diesjährigen Berlinale mit dem Regiepreis geehrt wurde, ist damit wieder bei ihrem großen Thema angelangt. Mit langem Atem und mit ruhigem Puls beobachtet sie in ihren Filmen Auflösungs- und Selbstheilungsprozesse. In "Der Vater meiner Kinder" zum Beispiel folgt sie einem ketterauchenden Filmproduzenten beim Geldeinsammeln und Leutevertrösten, als ob es auf dieser Welt nichts anderes gebe. In "Eden" beschreibt die Filmemacherin die Wellenbewegungen, in denen sich die französische Elektroszene um Daft Punk zusammengefunden hat. Selbst in den einsamsten Momenten ihrer Soziogrammen ist bei Hansen-Løve alles in hoffnungsfroher Bewegung.
Und so ziehen wir auch in "Alles was kommt" mit der Philosophielehrerin Ende 50 durch einen Sommer, in dem der Verlust einer Beziehung immer auch den Gewinn von Freiheit bedeutet.
Zwei Songs geben den Tonfall vor: Schuberts Sturm-und-Drang-Lied "Auf dem Wasser zu singen", dessen Worte "Mitten im Schimmer der spiegelnden Wellen gleitet wie Schwäne, der wankende Kahn" die Heldin begleiten, als sie endgültig Abschied nimmt vom gemeinsam mit ihrem Mann bewohnten Ferienhaus in der Bretagne. Und Woody Guthries Folksong "Ship in the Sky", in der mit einfachen Bildern beschrieben wird, dass jede Art von Gemeinschaft stets mehr ist als die Summe ihrer einzelnen Teile. Eine Ode an die Gemeinschaft, die aus dem CD-Player in einem Auto erklingt, als die Philosophielehrerin die Land-WG eines ehemaligen Schülers besucht.
Deutsche, englische und französische Anarchisten debattieren dort am alten Holztisch in langen lauen Nächten über eine Zeitschrift, die man zusammen herausgeben will, und ob man da unter Autorennamen schreiben soll oder immer nur als Kollektiv unterzeichnet. Angepeilt ist offensichtlich eine Publikation irgendwo zwischen Stéphane Hessels "Empört Euch!" und der anfänglich anonym veröffentlichten Kampfschrift "Der kommende Aufstand".
Die Philosophielehrerin lauscht den aufgeregten, weingetriebenen Diskussionen der jungen Leute melancholisch; sie hat ja schon am Anfang klar gemacht, dass sie Politik nicht interessiere.
Ach, wenn das mit der Politik und dem Desinteresse doch so einfach wäre! Mia Hansen-Løves schwereloses und doch sogartiges Rousseau-Roadmovie zeigt, dass auch in der größten Einsamkeit am Ende eines unvermeidlich ist: die Gemeinschaft. Sorry, die anderen sind immer schon da, arrangiert euch gefälligst mit ihnen.
Im Video: Der Trailer zu "Alles was kommt"
Originaltitel: "L'avenir"
F 2016
Buch und Regie: Mia Hansen-Løve
Darsteller: Isabelle Huppert, André Macon, Roman Kolinka, Edith Scob, Sarah Le Picard
Produktion: CG Cinema et al.
Verleih: Weltkino
Länge: 102 Minuten
Start: 18. August 2016