Alten-Liebesdrama "Wolke 9" "Ich hasse dieses Gestöhne"

Sex im Alter: Mit seinem Drama "Wolke 9" packt Andreas Dresen ein Tabuthema an - Liebe in der Generation 60 plus. Im SPIEGEL-ONLINE-Interview spricht der Regisseur über gute und schlechte Kinokopulation, Waschbrettbäuche und die Phantasie-DDR im deutschen Film.

SPIEGEL ONLINE: Herr Dresen, Ihr neuer, nun in den Kinos anlaufender Film beginnt mit dem Beischlaf eines weit über 60-jährigen Liebespaars. Hoffen Sie darauf, die Leute zu provozieren?

Dresen: Keineswegs. Ich will einfach zeigen, wie es ist. Menschen haben meist auch Sex, wenn sie sich verlieben. Es ging mir nicht um den Tabubruch. Deshalb war es auch wichtig, den Sex gleich zu Anfang des Films zu bringen, quasi als Präambel: Jetzt kann die Geschichte losgehen!

SPIEGEL ONLINE: Die Geschichte, die in "Wolke 9" losgeht, ist ein klassisches Liebesdrama. Eine Ehefrau bricht aus und verliebt sich neu - nur tut sie es hier nach 30 Jahren Ehe mit Mitte 60.

Dresen: Warum auch nicht? Auch so etwas soll es geben. "Wolke 9" ist eine Geschichte darüber, dass man sich nicht zu sicher sein soll in seinen Verhältnissen, über die archaische Kraft der Liebe. Und die ist eben nicht nur ein schönes Hochgefühl, sondern kann auch eine Menge Schmerz bereiten. Ich gebe zu, das weiß man nicht erst mit 70. Jeder kennt es, der sich schon mal unglücklich verliebt hat. Aber auch im Alter kann einen diese Erfahrung noch treffen.

SPIEGEL ONLINE: Würden Sie mit einer Liebesgeschichte unter halb so alten Menschen nicht viel mehr Zuschauer anlocken?

Dresen: Vielleicht. Aber wir erzählen davon, das mit 70 das Leben keineswegs zu Ende sein muss. Das geht nicht mit Jungen. Ich sehe auch keinen Sinn darin, verdrängen zu wollen, dass die Haut faltiger wird, wenn wir älter werden. Die nackten Körper am Anfang des Films wirken doch nur deshalb erst einmal erschreckend, weil wir alle Angst vor Verfall und Tod haben. Aber auch das gehört zum Leben dazu, das sollten wir in unserer angeblich so aufgeklärten Welt ruhig zur Kenntnis nehmen.

SPIEGEL ONLINE: Und Ihnen als aufklärerischem Filmemacher ist es einerlei, wie viele Leute sich Ihren Film ansehen?

Dresen: Ich will nicht aufklären, sondern spannende Geschichten erzählen, natürlich für möglichst viele Menschen. Aber es geht auch um Wahrhaftigkeit. Und dazu gehört nun mal der Fakt, dass wir alle älter werden.

SPIEGEL ONLINE: Gibt es filmische Darstellungen von Geschlechtsverkehr, die Sie als Vorbilder gelten lassen?

Dresen: Sogar eine ganze Reihe. Bertoluccis "Der letzte Tango in Paris" hat mich sehr beeindruckt. Und natürlich Oshimas "Im Reich der Sinne", ein phantastischer Film über sexuelle Obsessionen und die Kraft von Sex und Liebe, überhaupt nicht pornografisch, sondern höchst kunstvoll. Aber auch in neueren Filmen wie Patrice Chéreaus "Intimacy" gibt es großartige Sexszenen. Was ich hasse, ist dieses allgemeine Gestöhne, bei dem man nicht so genau weiß, was die da eigentlich machen: Hand krallt sich in Haut, Laken ballt sich irgendwie, aha, sie treiben's also miteinander! Dann kann man die Sexszene doch gleich weglassen. Ich finde jedenfalls Konkretheit wichtig. In "9 Songs" von Michael Winterbottom" haben die Schauspieler sogar realen Sex vor der Kamera: So weit würde ich allerdings nicht gehen.

SPIEGEL ONLINE: Steckt in "Wolke 9" aber nicht auch eine Menge Spekulation mit dem Modethema der alternden Gesellschaft?

Dresen: Wenn das Kino ein Ort ist, in dem man die Welt und das Leben erkunden kann, dann verstehe ich nicht, warum alte Leute dort nicht vorkommen sollen. Und zwar so wie sie sind! In der Werbung und im Fernsehen müssen die alten Menschen immer schön sein. Wir schlagen uns also auch in diesen Altersgruppen mit denselben Pseudo-Idealen herum: Man soll einen Waschbrettbauch haben als Mann, bloß keine Fettpölsterchen! Und als Frau spritzt man sich die Falten mit Botox weg. Dabei besitzen natürlich gealterte Gesichter eine Menge Schönheit.

SPIEGEL ONLINE: Jetzt beschönigen Sie selber!

Dresen: Warum denn? Ich bestreite ja nicht, dass Altern auch ein Fluch sein kann. Früher dachte ich selber, dass im Alter alles vorbei ist, dass man dann keinen Sex mehr hat, weil das gar nicht mehr geht. Für mich war es total überraschend, Geschichten von Leuten zu hören, die mit 70 ihre Sexualität überhaupt erst richtig entdecken, weil plötzlich der Leistungsdruck wegfällt. Denn man überträgt ja den Stress des Alltags ins Bett: Und immer muss man einen Orgasmus haben! Wenn man älter wird, nimmt man sich offensichtlich viel mehr Zeit für den Sex, es gibt mehr Zärtlichkeit. Da hat man doch direkt noch was, worauf man sich freuen kann!

SPIEGEL ONLINE: Das Liebesdrama "Wolke 9" folgt auf den überraschenden Erfolg Ihrer Kinokomödie "Sommer vorm Balkon". Wollten Sie nach dem ungewohnt leichten Stoff wieder zum Ernst zurückfinden?

Dresen: In "Sommer vorm Balkon" geht es um Einsamkeit, Arbeitslosigkeit, Alkoholismus. Finden Sie das so leicht? Für "Wolke 9" haben wir uns einfach vorgenommen, nur mit Improvisation und ohne Drehbuch zu arbeiten – um auch Dinge zeigen zu können, die sonst im Spielfilm scheinbar uninteressant sind. Alfred Hitchcock sagte einmal: Drama ist ein Stück Leben, aus dem man die langweiligen Momente herausgeschnitten hat. Aber auch im scheinbar Banalen, Langweiligen gibt es unglaublich viel Aufregendes zu entdecken. Wie viel Dramatik ist in unserem Alltag verborgen! Man muss es nur richtig erzählen.

SPIEGEL ONLINE: "Wolke 9" spielt, wie alle Ihre Filme, im Osten Deutschlands. Wurmt es Sie, dass der Westdeutsche Florian Henckel von Donnersmarck mit dem Stasi-Film "Das Leben der Anderen" einen Welterfolg hatte, obwohl Sie schon 1994 in "Das andere Leben des Herrn Kreins" eine ähnliche Story erzählten?

Dresen: Warum sollte mich das wurmen? Das ist ja kein schlecht gemachter Film. Man darf bloß nicht behaupten, dass "Das Leben der Anderen" irgendwas mit der Realität in der DDR zu tun hat. Der Film zeigt eine Phantasie-DDR. Ich kenne mich da ganz gut aus. Ich rege mich auch nicht darüber auf, dass die eine oder andere Musik bei Donnersmarck nicht stimmt. Ich würde nur gerne noch einen anderen Film sehen. Einen, der den Alltag von Verrat beschreibt. Dessen Held wäre kein einsamer Wolf, sondern ein Stasi-Mann mit Frau und Kindern, der Trabi oder Wartburg fährt, mit seinen Freunden am Wochenende eine Grillparty macht – und dann Montag um neun Uhr wieder ins Büro geht und Leute ans Messer liefert.

SPIEGEL ONLINE: Was finden Sie daran reizvoller?

Dresen: Eine solche Geschichte zu erzählen würde ganz anders wehtun, wunde Punkte berühren. Denn Menschen, die großes Leid verursachen, handeln oft ohne Auftrag, sie glauben nur, das zu tun, was sie tun müssen. Das gilt übrigens, wie man in "Wolke 9" sehen kann, auch in der Liebe.

Das Interview führten Andreas Borcholte und Wolfgang Höbel


"Wolke 9" von Andreas Dresen startet am 4. September

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