
"American Honey": Liebe an einem hoffnungslosen Ort
Road-Trip-Film "American Honey" Liebe an einem hoffnungslosen Ort
Andrea Arnold sitzt in einem Hamburger Hotelzimmer und redet erst einmal nicht über ihren neuen Film, sondern über den Two-Step. "Das ist der beste Tanz überhaupt, leider gibt es den nicht so in Europa", erzählt die Britin. "Man tanzt ihn mit einem Partner, aber innerhalb dieses Settings kann man sein eigenes Ding machen. Man ist also sowohl Individuum als auch ein Team. Das gefällt mir sehr."
Tanz und Film hängen bei Arnold untrennbar zusammen - und das nicht nur, weil sie den Two-Step während einer ihrer vielen Roadtrips durch die USA gelernt hat, die später zur Grundlage von "American Honey" wurden. Bevor Arnold zu einer der herausragenden Filmemacherinnen unserer Zeit wurde, einen Oscar für den besten Kurzfilm gewann und dreimal in Cannes ausgezeichnet wurde, war sie Tänzerin. In den Achtzigern trat sie in "Top of the Pops" auf, von der Kindersendung "No. 73" gibt es einen Ausschnitt, in dem sie in Leoparden-Leggings und rosa Stulpen einen Song mit Zeilen wie "Work that body!" singt, während eine Gruppe Kinder in Sportbekleidung neben ihr tanzt.
Man muss das nicht wissen, um die Dringlichkeit von "American Honey" zu spüren, die Empathie, mit der Arnold von jungen Menschen und ihrem Überlebenskampf in einer unwirtlichen Welt erzählt, und den Trost, den sie in der Musik finden. Das schafft der Film, einer der herausragenden, eindrücklichsten des Jahres, schon selbst.
Er beginnt in einem Müllcontainer. Die 18-jährige Star (Sasha Lane) steht darin und durchwühlt ihn auf der Suche nach Lebensmitteln. Was sie findet, bildet später das Abendessen für sich, zwei Kinder, die wohl ihre Halbgeschwister sind, und einen jungen Mann, der sich zwar Daddy nennt, ihr aber an den Hintern greift.
Die Szene endet mit der Kamera auf der grapschenden Hand. Dass danach noch mehr passiert sein muss, wird klar, als Star in der nächsten Szene heimlich ihre Sachen packt, die Kinder bei deren leiblicher Mutter abgibt und sich einer fahrenden Drückerkolonne anschließt, die im Mittleren Westen Zeitschriften verkauft. Dem Chef der Drückerkolonne Jake (Shia LaBeouf) war sie zuvor auf dem Parkplatz des Supermarkts begegnet, auf dem der Müllcontainer stand.
"Die riesigen Parkplätze in den USA faszinieren mich", sagt Arnold. "Das ist eine große, kapitalistische Gesellschaft, und die Parkplätze repräsentieren das visuell. Gleichzeitig sind sie meist leer - was auch ziemlich aussagekräftig ist. Mir war wichtig, dass sich Star und Jake an den entgegengesetzten Rändern eines solchen Raumes begegnen und sich dann annähern, bis sie in der Mitte stehen."
Im Video: "We Found Love" von Rihanna ft. Calvin Harris
Zuvor ist Star Jake und seiner Truppe in den K-Mart gefolgt. Als dort "We Found Love" von Rihanna über die Lautsprecher ertönt, flippt die Crew aus und fängt an zu singen und zu tanzen, allen voran Jake, der auf ein Kassenband springt und darauf herumhüpft - ohne jedoch Star aus dem Blick zu verlieren, die fasziniert zuschaut.
Spielerei, Verführung, Anwerbung: Alles überlagert sich in diesem Tanz auf der Supermarktkasse. Die Situation ist unübersichtlich und unwiderstehlich zugleich und steht damit stellvertretend für einen Film, der weiß, dass man Nöte und Begehren nicht voneinander trennen kann, und der gerade deshalb so viel Wahres darüber zu erzählen weiß.
"Ich war ein paar Tage mit so einer Drückerkolonne unterwegs und habe gesehen, wie sie immer wieder zurückgewiesen werden", sagt Arnold. "Die ganze Energie, die sie in jedes Verkaufsgespräch legen müssen - das ist wirklich harte Arbeit. Wenn du am Abend wieder in den Bus steigst, was sollst du da machen? Da geht sofort die Musik an, damit sie sich entspannen können, damit sie einen Ausdruck für ihre Gefühle finden."
Tattoos und Ausschlag auf dem Rücken
Immer wieder sieht man deshalb im Film, wie die Crew in den Bus steigt, ein harter Trap-Song angespielt wird, und Wodka-Flaschen und Joints die Runde machen. Ungeduldigen Zuschauern mag das redundant erscheinen, auch weil von der Gruppe nur Jake und Star und ihre aufkeimende Liebesgeschichte ausgearbeitet sind. Bei den anderen müssen lange Blicke der Kamera auf ihre Tattoos, den Ausschlag auf ihrem Rücken und ihre schlabberigen T-Shirts ausreichen. Dann brettert wieder Juicy J los.
"Die Geschichte sollte sich immer um Jake und Star drehen, so stand es im Drehbuch", sagt Arnold. "Ich wollte nie einen Hollywood-Ensemble-Film drehen, an dessen Ende die Geschichte von jeder Figur schön sauber zu Ende erzählt wird. Ich wüsste noch nicht einmal, wie das geht." Dann habe sie jedoch angefangen, die Nebendarsteller zu casten. "Ich fand so viele interessante Menschen und merkte, dass ich gar nicht genug Material für sie alle habe. Ich wollte aber, dass man sie sieht, deshalb haben wir die Szenen im Bus ausgebaut."

Die Drückerkolonne aus "American Honey"
Foto: Universal Pictures"American Honey" breitet auch noch auf anderer Ebene ein Panorama der amerikanischen Gesellschaft aus. "Du musst ihnen die Geschichte erzählen, die sie gerne hören wollen", erklärt Jake Star auf einer ihrer ersten gemeinsamen Verkaufstouren. Es ist die Masche, die ihn zum erfolgreichsten Verkäufer der Truppe gemacht hat, und die, bei der Shia LaBeoufs zweifelhafter Charme am besten zum Tragen kommt. Einmal sollen die verkauften Zeitschriften dem Bau einer neuen Uni-Cafeteria dienen, dann sammelt er für seine Kirchengemeinde, ein anderes Mal will er sich so sein Politikstudium finanzieren.
Die Menschen, die Jake und Star die Tür öffnen, sind - wie ein Großteil der anderen Darsteller auch - Laien, manche spielen Variationen von sich selbst. Selbst Hauptdarstellerin Sasha Lane hatte zuvor keinerlei Schauspielerfahrung: Drei Wochen vor Drehbeginn entdeckte Andrea Arnold sie an einem Strand in Florida. "Als Sasha gecastet war, habe ich das gesamte Drehbuch noch einmal überarbeitet, damit es besser zu ihr passt", sagt Arnold.
16.000 Kilometer gemeinsam unterwegs
Wie schon bei "Fish Tank", Arnolds bislang bekanntestem Film, erweist sich die Besetzung der Hauptfigur mit einer Amateurin als Coup. Im Film ist Stars Verkaufsmasche, dass sie den Leuten einfach von sich erzählt, ihnen also ihr ungeschöntes Leben als Grund dafür anbietet, ihr doch ein Magazin abzukaufen. Als Darstellerin funktioniert Lane ganz ähnlich. Die 21-Jährige, die bis zu den Dreharbeiten noch Psychologie studierte, spielt mit einer hemmungslosen Offenheit. Als sie das erste Mal Jake dabei zusieht, wie er sich während eines Verkaufsgesprächs eine Biografie ausdenkt, scheint aus ihr echte Empörung über so viel Unwahrhaftigkeit auszubrechen.
Die kurzfristige Besetzung der Hauptrolle und die Ad-hoc-Überarbeitung des Drehbuchs waren nur einige der Herausforderungen, denen sich Arnold bei dem Dreh stellen musste. Fast drei Monate war sie mit ihrer Darstellertruppe unterwegs, von Oklahoma bis North Dakota, 16.000 Kilometer legte das Team so zurück. Viele Locations konnte Arnold vorab nicht besichtigen, da sie zu weit entfernt waren. Und während die Kids im Bus zu ihrer Musik grölten, musste das Team im Hintergrund fieberhaft klären, ob sie überhaupt die Rechte zu den Songs kriegen.
Für Ruhe in all dem Treiben sorgen Robbie Ryans Bilder. Der Kameramann, mit dem Arnold bislang bei allen ihren Filmen zusammengearbeitet hat, fängt ganz eigenartige Naturaufnahmen ein. Immer wieder krabbeln Insekten durchs Bild, ist im Hintergrund in der Weite eines Felds ein Pferd zu erkennen. Fast scheinen sie von einer postapokalyptischen Welt zu künden, einer ohne Menschen.
"Viele dieser Aufnahmen stehen schon im Drehbuch", sagt Arnold. "Das hat auch wieder mit meiner Herkunft zu tun. Als Kind bin ich oft der Sozialsiedlung, in der ich aufgewachsen bin, entwischt und habe mich in die Natur gesetzt, um zu beobachten. Das ist ein wichtiger Teil von mir." Trotz des offenen, durchlässigen Entstehungsprozesses von "American Honey" sind die wenigsten Bilder deshalb unbestimmt. "Ich weiß zum Beispiel ganz genau, wofür die Schildkröte am Ende des Films steht."
Das Ende kommt nach 163 rauschhaften Minuten. Ob sich Star immer weiter vom Strudel der Ablenkungen mitreißen lassen wird, oder ob sie irgendwann doch in einem neuen, besseren Zuhause ankommt? Andrea Arnold weiß genau, wie es für ihre Figuren weitergeht, möchte aber nicht, dass es öffentlich wird. Erst als das Aufnahmegerät aus ist, fängt sie an zu erzählen. Von der Zukunft von Jake und Star und von den anderen aus dem Bus.
Im Video: Der Trailer zu "American Honey"