Animationsfilm "Ratatouille" Rattenscharfe Ernährungsberatung
Ratten in der Kanalisation sind eklig genug, aber Ratten in einer Großküche sind eine Katastrophe. Ein Fall für die Gewerbeaufsicht und den Kammerjäger, die die Schädlinge und Krankheitsüberträger mit der Chemiekeule schnellstmöglich zu eliminieren versuchen. Das ist auch in dem Pariser Luxusrestaurant Gusteau's nicht anders, wo man sich verzweifelt bemüht, das kulinarische Niveau des kürzlich verstorbenen Meisterkochs zu halten.
Keine guten Vorraussetzungen also für die kleine Landratte Remy mit den großen Augen und der niedlichen Stupsnase, die von einer Karriere als Spitzenkoch träumt. Durch einen Zufall wird sie genau in die Küche des Nobel-Etablissements gespült - und dort nicht gerade mit offenen Armen empfangen: Panisch flüchtet sie vor dem sengenden Feuer der Gasöfen, den trampelnden Füßen der zahllosen Küchengehilfen und den entsetzten Fratzen derer, die den Nager erspähen und auf der Stelle totschlagen wollen. Eine feindliche Welt tut sich auf, in der definitiv kein Platz für eine Ratte mit Feinschmecker-Ambitionen zu sein scheint.
Wie es Remy nach zahlreichen Hürden und dramaturgischen Volten aber doch noch schafft, seinen Traum wahr werden zu lassen, das ist die zauberhafte Geschichte, die "Ratatouille", der neueste Coup des Pixar-Animationsstudios, erzählt. Stolze 7,3 Milliarden Dollar hatte der Disney-Konzern im vergangenen Jahr ausgegeben, um Pixar, die mit "Toy Story" (1995) und "Findet Nemo" (2003) das Animationsgenre revolutionierten, zu kaufen. Der Auftrag: die eigene brachliegende Trickfilmsparte künstlerisch und ökonomisch wieder ganz nach vorne zu bringen.
Diese Strategie bekam mit dem enttäuschenden "Cars", dem ersten Film nach der Übernahme durch Disney, jedoch erstmal einen Dämpfer. Umso überzeugender erzählt "Ratatouille" nun von einem ambitionierten Nagetier, das gegen den Widerstand seiner Familie und gegen jegliche Vernunft in ein neues Leben aufbricht. Auf technisch allerhöchstem Niveau erschufen die Programmierer ihrer Hauptfigur eine liebevoll detailgetreue Gastronomie-Welt. Da sträubt sich nasses Rattenfell, glitzert Rotwein in erlesenen Kristallgläsern und leuchtet frisches Obst und Gemüse in den appetitlichsten Farben, so dass man am liebsten sofort hineinbeißen würde. Vor allem die Speisen wirken so realistisch, dass man zeitweise vergisst, einen Animationsfilm zu sehen.
Selbst die Cola schmeckt nicht mehr
Doch ist es nicht nur die technische Brillanz, mit der "Ratatouille" besticht. Regisseur Brad Bird ("Die Unglaublichen", "Findet Nemo") erzählt die eigentlich abstruse Geschichte vom Aufstieg einer Ratte vom Müllverwerter zum Gourmet-Koch so lustig und rasant, das man die abgenudelte Botschaft (Lebe deinen Traum!) gerne mitnimmt. Dabei gelingt ihm das Kunststück, mit einem negativ besetzten Tier als Hauptfigur in einem elitären und snobistischem Umfeld (Spitzengastronomie in Frankreich) einen ebenso herzerwärmenden wie intelligenten Familienfilm zu machen, der alles andere als reines Popcorn-Kino ist.
Die staubtrockenen Maispuffer bleiben einem nämlich angesichts dieses leidenschaftlich frankophilen Plädoyers für gutes Essen im Halse stecken. Und auch die Cola aus dem Literbecher will dank "Ratatouille" nicht mehr so recht die Kehle hinunterrinnen. Denn Pixar und Disney führen mit Hilfe der sympathischen Ratte einen beinahe subversiven Feldzug gegen miese Fastfood-Gewohnheiten.
Der Trick ist, dass Fragen der gesunden Ernährung eher nebenbei verhandelt werden: "Hast du dir mal überlegt, was wir uns so alles in den Mund stecken?", fragt Remy seinen übergewichtigen Bruder, der aus Gewohnheit alles isst, was ihm in die Pfoten kommt. Der Vater, ein Bewahrer alter Ernährungstradition, kontert: "Essen ist Treibstoff, Hauptsache der Tank ist voll." Da kann Remy, der dank seines exzellenten Geschmackssinns unter den Ratten die Rolle des Vorkosters einnimmt, damit sich die Sippe nicht am Müll den Magen verdirbt, nur wehmütig den Kopf schütteln.
Sternchen sehen vor Wonne
Wie anders dagegen die Köstlichkeiten der Gourmet-Welt! Die Kühlkammer des Restaurants ist für Remy das reinste Schlaraffenland. Angespornt durch das Motto seines Vorbildes Gusteau, "Jeder kann kochen", tut sich die Ratte mit dem ungeschickten Küchenjungen Linguini zusammen. Versteckt unter dessen Kochmütze lenkt sie ihn mit Hilfe von Haarbüscheln wie eine Marionette und macht ihn so zu einem begnadeten Zauberer am Herd. Gemeinsam mischt das ungleiche Duo die Pariser Gastronomie-Szene auf und verhilft mit seinen schmackhaften Kreationen sogar dem verknöcherten Restaurantkritiker Anton Ego zu einer Kindheitserinnerung, für die wohl die berühmte Madeleine von Marcel Proust Pate stand.
Der Film feiert die Wonnen des guten Geschmacks, als sei dies die letzte Chance, die Menschheit vor dem Untergang durch schlechtes Essen von Schnellrestaurants zu bewahren. Doch er tut das stets mit Charme und ohne mahnenden Zeigefinger. Einmal kombiniert Remy ein Stückchen Käse mit einer Traube und sieht vor Wonne Sterne. Dann zaubert er leichtfüßig tänzelnd mit raffinierten Gewürzen eine köstliche Suppe.
Die Ernährungsberatung im Animationsgewand kommt an: In den USA fegte die pädagogisch wertvolle Ratten-Kochschule sogar den Action-Konkurrenten "Stirb langsam 4.0" von Platz eins der Kinocharts. Das ist bei so einem delikaten Film wie "Ratatouille" zwar einerseits nicht verwunderlich. Doch wenn man andererseits bedenkt, dass etwa Brot mit knuspriger Kruste in den Supermärkten Nordamerikas schlicht nicht existiert, dann erstaunt dieser enorme Erfolg aber doch - und gibt Anlass zur Hoffnung auf eine Nahrungsmittel-Revolte. Vielleicht landen die gummiartigen Burger-Brötchen in Zellophantüten bald da, wo sie hingehören: nicht in die Mägen von Millionen Menschen, sondern auf dem Müll. Irgendeine Ratte, die den ungesunden Fraß dann wahllos in sich hineinstopft, findet sich immer.