Nach der zweiten Corona-Welle Die neue Kinoweltordnung

Szene aus »Wonder Woman 1984«: Größte Superheldin unserer Tage
Foto: Warner Bros.Sie werden es womöglich nicht gemerkt haben: Gerade wird die Welt von der größten Superheldin unserer Tage gerettet – nur leider nicht in Deutschland. »Wonder Woman 1984« ist am 25. Dezember in den US-amerikanischen Kinos sowie parallel auf dem Streamingdienst HBO Max gestartet. Wann der Film nach Deutschland kommen wird? Noch völlig unklar.
So soll es nach dem Willen von Warner Bros., dem verantwortlichen Studio, noch 16 anderen Filmen bis Ende 2021 ergehen, darunter Blockbuster wie »Matrix 4« und »Godzilla vs. Kong«. Sie alle sollen gleichzeitig im Kino und bei HBO Max anlaufen. Was das fürs Kino bedeutet, ist noch nicht abzusehen. Von »Wonder Woman 1984« kursieren jedenfalls bereits Raubkopien und Streams in einer Qualität, die Warner entsetzen und Filmfans freuen dürfte.
Es war einmal ein globaler Kinostart...
Am lautstärksten ist bislang Regisseur Christopher Nolan auf die Barrikaden gegangen und hat HBO Max als den »schlimmsten Streamingservice« beschimpft. Eigentlich hat Nolan selbst wenig zu beklagen. Sein neuester Film »Tenet« hat zwar nicht – wie die völlig überzogene Erwartung irgendwann lautete – »das Kino« gerettet. Aber immerhin hatte er einen halbwegs koordinierten globalen Kinostart, im Jahr der Pandemie eine absolute Ausnahme. Der ist bislang integraler Bestandteil des Geschäftsmodells von Filmen mit einem Budget von 100 Millionen Dollar und mehr, weil so Werbekampagnen die größte Wirkung haben. Ein neues Modell, wie sich solche Filme in Zukunft rechnen sollen, hat noch niemand zur Hand. Vielleicht wird es das auch nie mehr geben.
Ob man deshalb traurig sein muss? Wenn man am liebsten Filme von Zack Snyder (»Justice League«, »Batman v Superman«) schaut, vielleicht schon. Alle anderen werden es gut wegstecken, womöglich sogar aufatmen. Denn wie Warner und Marvel/Disney mit ihren Superheldenfilmen und Live-Action-Adaptionen von Trickfilmen die Erwartungen an originelles Kino gesenkt haben, gehört zu den deprimierendsten Entwicklungen der letzten Jahre.
Noch ist das Blockbuster-Business zwar nicht komplett implodiert, aber erste Effekte der Abwesenheit internationaler Filmhits zeigen sich schon: Die Filmmärkte regionalisieren und nationalisieren sich wieder. »Tenet« und »Bad Boys for Life«, der noch vor dem Ausbruch der Pandemie startete, liegen in den meisten Jahresumsatz-Charts vorn, doch dahinter reihen sich Filme wie »Die Känguru-Chroniken« in Deutschland, »La bonne épouse« in Frankreich oder »Gli anni più belli« in Italien ein. Auf internationalen Kritikerlisten gibt es kaum Überschneidungen. Derweil ist mit »The Eight Hundred« zum ersten Mal ein Film aus China der erfolgreichste des Jahres weltweit. Dort läuft der Kinobetrieb schon seit dem Sommer wieder weitgehend ungestört.
Arme Oscars
Der erste Kollateralschaden dieser Entwicklung werden die Oscars im April sein. 2020 traten »Once Upon A Time in Hollywood«, »Joker«, »The Irishman« und »Parasite« gegeneinander an. 2021 könnte sich die Gala schon über einen Film dieses Kalibers freuen. Stattdessen wird sie sich mit den Oscar-Filmen von Netflix und Amazon begnügen müssen. Die konnte man immerhin in allen Teilen der Welt sehen. Doch wer von David Finchers überstilisierter Hollywood-Parabel »Mank« auch nur ansatzweise so elektrisiert war wie von »Joker« oder »Parasite«: bitte melden! Und wer bei George Clooneys Weltrettungsweihnachtsmärchen »Midnight Sky« nicht zumindest zeitweise weggedöst ist: bitte auch.
Das soll nicht die Filme in Verruf bringen, die bei den Oscars zu Recht glänzen werden, »Nomadland« von Chloe Zhao etwa oder »One Night in Miami« von Regina King. Gut möglich sogar, dass beide Filmemacherinnen für die beste Regie nominiert werden. Zwei Frauen in dieser Kategorie und beide dazu noch »of Color«: Das wäre genau die Art von Signal, das die Academy seit Jahren mit ihrer großen Diversitätsinitiative aussenden will. Nur wer empfängt es? Die Quoten für die Oscars waren schon in diesem Jahr im Keller, im kommenden werden sie ohne vergleichbare Filmhits sehr wahrscheinlich den nächsten Negativrekord aufstellen. Und die Diskussion, wie der Academy der Spagat zwischen wirtschaftlichem Erfolg und gesellschaftspolitischer Relevanz gelingen könnte, wird sich ein weiteres Mal im Kreis drehen.
Die Verlässlichen
Gewinner gibt es in diesem Horrorjahr im Kino nicht, auch die kleinen und mittelgroßen Filme, die sonst im Schatten der Blockbuster stehen, mussten zurückstecken. Ihnen fehlten die Festivals, auf denen sie als Preisträger, Kritikerlieblinge oder Skandalfilme von sich reden und damit für das größere Publikum interessant machten. Festivals erzeugen mitunter viel künstliche Erregung, ohne sie – und einen sich zügig anschließenden Kinostart – gibt es im Filmjahr weder Höhe- noch Tiefpunkte, sendet die Branche keine nennenswerten Lebenszeichen.
Für Festivals, die sogenannten Festivalfilme und für das gesamte Arthouse-Segment sind die Aussichten für 2021 zum Glück besser als für Hollywood und seine Riesenfilme. Christian Petzolds »Undine« hat gezeigt, dass Cinephile die Bank sind, auf die die Kinos in der Krise bauen können: Die Besucherzahlen waren genauso gut wie bei seinem Vor-Corona-Film »Transit«. Selbst ein Debüt wie »Futur Drei«, Faraz Shariats queer-migrantische Neuerfindung des deutschen Films, hat sein Publikum zielgenau erreicht.

Kommendes Kino-Highlight »Promising Young Woman« mit Carey Mulligan und Bo Burnham
Foto: Focus Features / imago images / ZUMA PressWenn die Kinos endlich wieder aufmachen, stehen so viele herausragende Filme wie selten zuvor bereit: Pietro Marcello wird mit seiner Literaturverfilmung »Martin Eden« zeigen, wie man Klassiker neu erfindet. Sandra Wollner wird mit ihrer verstörenden Androiden-Spielerei »The Trouble With Being Born« beweisen, warum sie als eines der größten Regietalente im deutschsprachigen Raum gehandelt wird. Und Schauspielerin Emerald Fennell (Camilla Parker-Bowles aus »The Crown«) wird in ihrem Debütfilm »Promising Young Woman« den Rachethriller in ein neonfarbenes #metoo-Spektakel verwandeln.
In der Zwischenzeit sammeln sich immer mehr Filme für Cannes an. Wenn das Festival eröffnet, voraussichtlich im Hochsommer, werden unzählige hochkarätige Filme anlaufen. Parallel werden sich die Freiluftkinos wohl über wochenlang ausverkaufte Vorstellungen freuen können. Ob sich dann noch jemand vor den Fernseher setzt, um den achten Film aus dem »The Conjuring«-Universum, den Warner dann starten lassen will, zu streamen? In der neuen Kinoweltordnung von 2021 ist das eher unwahrscheinlich.