Auswandererdrama "Dr. Aléman" Weiße Flocken, schwarzes Herz

Wohlstandsfrust oder Abenteuerlust? August Diehl sucht als deutscher Arzt in einem kolumbianischen Slum Anschluss. Doch so viel er auch kokst – heimisch wird er nicht. "Dr. Aléman" ist ein grandios ehrlicher Film über eine scheiternde Annäherung.

Seine Heimat ist handlich und übersichtlich. Sie passt sogar ins Handgepäck. Die Frankfurter Altstadt hat sich Marc (August Diehl) mit ins ferne Kolumbien gebracht – sie ruht als Gimmick in einer kleinen Schneekugel, die er mit leicht ironischer Geste seiner Gastfamilie in Südamerika schenkt.

Aber auch fern der Heimat lässt es der Arzt im Praktikum bald schneien: In einer Favela um die Ecke nimmt er Kontakt zu den örtlichen Kleindealern auf, man offeriert ihm Koks zum Freundschaftspreis. Das weiße Pulver – für Marc gehört es irgendwie zur kolumbianischen Folklore. Es zu verschmähen, wäre eine touristische Sünde.

Offen und hilfsbereit, sehnsüchtig und lebenshungrig: So landet der junge Deutsche in Cali, der Drogenhochburg Südamerikas, die es durch das gleichnamige Drogenkartell zu einiger Berühmtheit gebracht hat. Bald spielt er Fußball mit den Mafiahandlangern und Ghettokids des berüchtigten Slums Siloé, das eine Zeitlang als der gefährlichste Ort auf diesem Globus galt.

Und die kleine Kaffeebar von Wanda (Marleyda Soto), einer früh gealterten jungen Frau, die fast sämtliche Verwandte im Drogenkrieg verloren hat, wird ihm zur zweiten Heimat. Zusammen trinken die beiden Schnaps aus Wassergläsern, jeder von ihnen hat offensichtlich etwas zu vergessen. So wächst man zusammen. Marc glaubt, endlich seine große Liebe gefunden zu haben.

Was den Radikaltouristen treibt, eins zu werden mit der fremden gefährlichen Welt, wird lediglich angedeutet: eine Mischung aus Wohlstandsfrust und Abenteuerlust. Zuhause in Frankfurt würde der Sohn einer bekannten Arztfamilie wahrscheinlich sowieso nur unter Papas Aufsicht Privatpatienten Fett absaugen, im Krankenhaus von Cali indes warten echte Aufgaben. Im Akkordtempo muss Dr. Aléman, der Doktor aus Deutschland, hier die Opfer von Schießereien zusammenflicken.

Immer wieder pult er Kugeln aus dem blutigen Fleisch, auf denen ein J. eingeritzt ist. Das Initial steht für "El Juez", für den "Richter" also, der über Cali regiert. Marc sucht nun den Kontakt zum Drogenboss, die Wirkung des Kokains mag an der Tollkühnheit seinen Anteil haben. Dass er mit seiner Aktionen auch jene in Gefahr bringt, die er liebt und die er beschützen will, wird ihm erst spät bewusst.

Einen grandios ehrlichen Film legt Regisseur Tom Schreiber ("Narren") mit seinem Reisedrama vor. Ohne den verqueren Idealismus seines Helden zu denunzieren, skizziert er dessen Scheitern.

Ein bisschen nimmt sich "Dr. Aléman" deshalb wie die tragische Variante der deutschen Backpacker-Komödie "Hotel Very Welcome" aus, in der junge Europäer in Fernost Erlösung suchen und doch nur mit ihrem eigenen Unvermögen konfrontiert werden. Wer mit American Express die Krisenregionen dieser Welt bereist, darf sich nicht wundern, wenn man ihm unterstellt, die Elendskulisse nur als Selbsterfahrungs-Spielplatz zu missbrauchen.

Doch ganz so einfach ist es bei "Dr. Aléman" nicht, schon weil August Diehl die Titelfigur mit geradezu selbstmörderischer Integrität spielt. Weiße Flocken, schwarzes Herz: Angetrieben vom günstig erworbenen Kokain, unternimmt Marc immer gefährlichere Exkursionen.

Von düsterer Ironie ist die Szene, in der er mit dem Taxifahrer über die Schönheit von Cali streitet. Der Chauffeur findet sein Zuhause nicht so wunderbar wie der zugereiste Arzt. Erst klagt der alte Kolumbianer darüber, dass die Stadt so heruntergekommen sei und fest in den Händen von Kriminellen – dann holt er ein paar Freunde ins Auto, die seinen Fahrgast bis auf die Unterhose ausziehen und ausrauben.

Doch Marc klagt nicht. Im Gegenteil, auf einer anschließenden Feier bei Kollegen aus dem örtlichen Krankenhaus rät er den wohlhabenden Ärzten doch auch einmal durchs Slum zu gehen, um sich davon zu überzeugen, wie es da wirklich aussieht. Doch hat der Hesse aus behütetem Hause wirklich offene Augen für das Fremde – oder versucht er einfach nur auf brutalste Weise sich das Eigene auszutreiben?

Wie schrieb sinngemäß schon der Schriftsteller Jörg Fauser in seinem Drogen-Roadmovie "Rohstoff" über teutonische Hippies im nahen Osten, die in den Sechzigern mit Heroin die Entfesselung probten: Auch als Junkie in Istanbul bleibt man das gleiche bürgerliche Arschloch wie in der deutschen Provinz. Man riecht nur ein bisschen strenger.

Und so führt dieser furios fotografierte alternative Reisetrip, in dem die Kamera ebenso gierig die exotischen Eindrücke aufsaugt wie der Filmheld illegale Substanzen, direkt zurück ins deutsche Herz der Finsternis. Ein paar weiße Linien im Dreck einer kolumbianischen Favela reichen noch lange nicht, um das elendige Mittelstandswesen in sich selbst zu überwinden.

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