
"New Queer Cinema": Ganz schön einsame Ikonen
Queeres Kino Einsam durch Netflix?
1992 stellte sich auf einer historischen Podiumsdiskussion beim Sundance Festival eine Gruppe von Filmemacherinnen und Filmemachern vor, deren Filme von einer Bewegung kündeten, die bald unter dem Namen "New Queer Cinema" bekannt werden würde. Ich moderierte diese Runde und gab der Bewegung ihren Namen.
Mehr als zwei Jahrzehnte später hat sich das New Queer Cinema entwickelt, aufgelöst und neu zusammengesetzt. Es ist so häufig verschwunden, irrelevant geworden und wiederbelebt worden, dass ich mit dem Zählen nicht hinterher komme. Natürlich haben wir es heute nicht mehr mit derselben Bewegung zu tun. Die Unterschiede und Veränderungen sagen viel über die Zeiten damals wie heute aus, über ihre Ästhetiken und Bedürfnisse und, ja, auch über die Umstände, in denen die Filme gesehen wurden.
B. Ruby Rich ist Professorin für Film und Digitale Medien an der Universität von Kalifornien, Santa Cruz, und Herausgeberin der Zeitschrift "Film Quarterly" heraus. 2013 erschien von ihr das Buch "New Queer Cinema: The Director's Cut." Dieser Beitrag ist ein Auszug aus der Keynote-Rede, die sie am Mittwoch auf der Konferenz "Queer Film Culture" in Hamburg hält. Anlass der Konferenz ist das 25. Jubiläum der Lesbisch Schwulen Filmtage Hamburg.
Was hat das New Queer Cinema begünstigt? Vier Elemente waren entscheidend: Die repressive Politik der Reagan/Thatcher-Regierungen; die verheerenden Folgen von Aids, das heißt sowohl die Todesfälle als auch das Stigma, das schnell mit der Krankheit verbunden wurde; die Erfindung von Camcordern und Videorekordern mit Kassetten, die schnell kopiert und über die neuen nachbarschaftlichen Videotheken in Umlauf kamen; und schließlich billige Mieten und eine vergleichsweise wohlmeinende Marktwirtschaft, die es jungen Leuten erlaubte, kreativ zu sein statt für die Tilgung ihrer Studienkredite zu schuften.
Verlieben beim Schlangestehen
Es gab kein Internet, kein iPhone, kein Snapchat, kein Netflix, kein Amazon, kein iTunes, kein Grindr. LGBT-Festivals waren der Ort, an dem man neue Filme und Videos sah, sich beim Schlangestehen verliebte und neue Communities bildete. Zwischen Demonstrationen, Versammlungen und Kneipenabenden boten Filme intellektuelle Nahrung, sie schoben Liebesbeziehungen an und sorgten dafür, dass sich Wut bündelte. Kulturelle und politische Welten waren nicht strikt getrennt, Energien floss beständig zwischen ihnen hin und her.
Filme und Videos aus dieser Zeit reflektieren diese entspannte Geselligkeit. In Derek Jarmans "Edward II" (nach Christopher Marlowe; 1991) lädt der König OutRage-Demonstranten und Tänzer zu sich ins Schloss. In Tom Kalins "Swoon" (1992) treffen wir das erste Mal auf die Hauptfiguren Leopold und Loeb, als sie mit ein paar Kumpeln mitten auf der Wiese ein Theaterstück proben. In Rose Troches "Go Fish" (1994) kommentiert ein Chor von lesbischen Besserwisserinnen die Fortschritte, die die Protagonistin auf der Suche nach der Liebe macht.

Sozialdrama "Pride": Gruben und Perverse
Diese Darstellungen von Gruppenaktivitäten waren kein Zufall, sie spiegelten akkurat die soziale Welt wider, aus denen heraus die Filme entstanden waren und zu der die Filmemacher gehörten. Schon 1985, als Rob Epstein und Richard Schmiechen Geschichte schrieben, als sie mit dem Dokumentarfilm "The Times of Harvey Milk" einen Oscar gewannen, war es ihnen wichtig zu betonen, dass dies nicht allein ein Film über Milk, sondern über die damalige "Zeit" sein sollte, über die Communities, die Individuen und die Kräfte, die ihn umgaben.
Kein Platz für mehr als eine Lesbe
Gus Van Sant, der stark von Epsteins Film beeinflusst war, gab seinen Rumtreibern in "My Own Private Idaho" (1991) eine Community. Monika Treuts "Virgin Machine" (1998) spielte in einem San Francisco der Freundeskreise und nicht der einsamen Seelen. Sogar in Lisa Chodolenkos erstem Film "High Art" (1998) stand eine Gruppe im Mittelpunkt, wenn auch eine Gruppe von Junkies und Mitläufern. Für die Protagonistin, die von Ally Sheedy gespielte Photographin Lucy, war es unmöglich, sich von dieser Gruppe zu lösen.
Doch mit der Zeit änderten sich die Umstände. Während das New Queer Cinema in den Geschichtsbüchern verewigt wurde, nahm die Präsenz einer derartig geeint auftretenden Bewegung ab. Noch beunruhigender war es vielleicht, dass neue queere Filme begannen, Individuen statt Gruppen in den Fokus zu nehmen. Fernsehsendungen arbeiteten schwule und lesbische (oder heute transsexuelle) Figuren ein, aber oft war nur Platz für eine einzige Figur und nicht für eine Gruppe.
Natürlich veränderte sich auch queere Politik: Aids bedeutete nicht mehr automatisch den Tod, jedenfalls nicht für die, die genug Geld für die neuen Medikamente hatten. Stattdessen war Homo-Ehe das neue Ding, ein polarisierendes und persönliches Thema, über das in Gerichtssälen und nicht auf der Straße entschieden wurde.
Was sind die neuen queeren Filme von heute? Nun, häufig sind sie TV-Serien. Die neue HBO-Produktion "Looking", die in San Francisco spielt, geht gerade in die zweite Staffel. Aber von der alten Gang um Harvey Milk fehlt jede Spur. Und wenn Bezug auf Gemeinschaft genommen wird, dann meist mit negativem Unterton. Das Folsom Straßenfest zum Beispiel: abgeschmackt und peinlich. Gleiches trifft auf Ira Sachs neuen Erfolgsfilm "Love Is Strange" mit John Lithgow und Alfred Molina als älterem Schwulenpaar zu. Als die beiden in Not geraten, weil sie plötzlich ihre Hypothek nicht mehr bezahlen können, stehen keine Freunde bereit, die aushelfen. Und als einer der beiden sich mit den schwulen Polizisten aus dem Stockwerk unter ihnen einlässt, wird der ständige Umgang mit einem Freundeskreis negativ gezeichnet.
Gemeinschaft ist ein Retro-Phänomen

"How to Survive a Plague": Der Kampf der Aidskranken
Lisa Chodolenkos Lesben-Komödie "The Kids Are All Right" handelt von einer Kleinfamilie (ja, mit zwei Müttern), die abgetrennt von der Außenwelt und sogar von lesbischen Freundinnen lebt. Stacy Passons "Concussion" ist köstlich, aber ihre Heldin scheint auch deshalb heimlich ihren Beruf von der Designerin zum lesbischen Call-Girl wechseln zu können, weil sie keine Freunde hat, die sich wundern, was bei ihr los ist. Das sind alles tolle Filme und Serien. Aber sie handeln von Einzelpersonen. Bei ihnen existiert keine Welt jenseits von Paarbeziehung, Arbeit oder irgendeiner Art von Familie.
Ein aktueller Film bildet eine Ausnahme. Bei "Blau ist eine warme Farbe" wurde der französisch-tunesische Regisseur Abdetallif Kechiche ins Gebet genommen, weil seine Darstellung von lesbischer Lust und Liebe umstritten war. Aber als Kechiche die Comic-Vorlage adaptierte, fügte er tatsächlich mehr Momente von Gemeinschaft hinzu. Sei es eine Gruppe von schwulenfeindlichen Schülern oder eine Gay-Pride-Demo, eine multikulturelle Geburtstagsfeier im Garten oder Proteste gegen Kürzungen im Bildungssektor: Bei Kechiche haben die Lesben ein Set an Welten, durch die sie sich bewegen. Das rüttelt einen so auf, eben weil es heute so ungewohnt ist.
Andere Filme fordern auch Gemeinschaft neu ein. Interessanterweise tun sie das mit Rückgriff auf die Vergangenheit. Jamie Babbitts "Itty Bitty Titty Committee" handelt von Mädchen, die im Clubhouse abhängen, inspiriert von Lizzie Bordens SciFi-Dystopie "Born in Flames" von 1983. In "Pride", dem Überraschungshit des Jahres, der im London des Jahres 1984 spielt, solidarisieren sich junge Schwule und Lesben aus London mit walisischen Bergarbeitern und deren Frauen. Silas Howards Musical-Spektakel "The Golden Age of Hustlers" ist eine Hommage an die Trans-Ikone Bambi Lake und an eine Ära, in der sich Außenseiter zum Überleben zusammenrotteten. Sogar Dokumentarfilme graben in der Geschichte, um Gemeinschaften wiederzubeleben, insbesondere David Frances "How To Survive a Plague" über die Aids-Aktivisten von Act Up.
Das sind ermutigende Zeichen. Dennoch frage ich mich, ob die Entwicklung hin zu abgeschotteten Einzelgeschichten nicht unumgänglich ist - schließlich werden Filme immer mehr individuell, zuhause oder unterwegs geguckt. Formt die Technik mittlerweile die Geschichten? Gibt es eine Art von Netflix-Ästhetik, die Formen von Gemeinschaft ausschließt? Eine, die den Blick von queeren Zuschauerinnen und Zuschauern (oder besser Userinnen und User?) auf Individuen wie sie selbst lenkt - allein, abgetrennt von den Gemeinschaften von einst und ihrem Spirit.
Beim ursprünglichen New Queer Cinema tauschten sich Filmemacher und Publikum aus, geguckt wurde gemeinsam auf den Leinwänden der Filmfestivals, bei denen jeder und jede willkommen war. Ich weiß nicht, was ich von einem queeren Kino halten soll, bei dem öffentliches Publikum durch individuelle Zuschauer mit Kopfhörern ersetzt wird. Vielleicht bin ich nur nostalgisch, aber den Zauber des Kinosaals als heiligem Ort, an dem man gemeinsam mit Seelenverwandten einen Film würdigt, gibt mir weiterhin Kraft. Ich zähle auf die queeren Festivals, diesen Zauber am Leben zu halten.
"Queer Film Culture: Queer Cinema and Film Festivals"
Lesbisch Schwule Filmtage Hamburg