"Berlin Alexanderplatz" auf der Berlinale Kaltes Kartoffelherz

Welket Bungué und Jella Haase in "Berlin Alexanderplatz": Auf der Suche nach Zuflucht in einer feindlichen Gesellschaft
Foto:Stephanie Kulbach/ dpa
Ist er das jetzt, der große Wurf, der Wow-Effekt, auf den in diesem noch nicht recht zündenden Wettbewerb der 70. Berlinale alle warten? Am Mittwochnachmittag feierte mit "Berlin Alexanderplatz" der zweite deutsche Beitrag seine Weltpremiere, nachdem Christian Petzolds "Undine" zuvor zwar wohlwollend beklatscht wurde, aber hinter den Erwartungen der Kritiker zurückblieb. Der Druck, der auf dem dritten Spielfilm des 1980 in Erkelenz geborenen Regisseurs Burhan Qurbani lastet, könnte also, mit nur noch wenigen Filmen im verbleibendem Programm, größer nicht sein. Vielleicht wäre es doch klüger gewesen, wenn die neuen Berlinale-Leitenden Mariette Rissenbeek und Carlo Chatrian diesen prestigeträchtigen Berlin-Film zur Eröffnung ihres ersten Festivals gezeigt hätten, als Statement. Aber dafür ist Qurbanis Klassiker-Adaption mit drei Stunden Laufzeit zu lang und wahrscheinlich auch zu kontrovers.
Dabei beginnt er mit starken Bildern, die dem Arthouse-Fan und -Verteidiger Chatrian gut gefallen haben dürften: Zwei Menschen kämpfen in einer blutrot gefärbten See gegen das Ertrinken, das Bild steht kopf, scharfe elektronische Töne stechen ins Trommelfell, dann setzen die sakralen Gesänge des Songs "Piel" des venezolanischen Musikers Arca ein. "Piel", das heißt "Haut", und darum, seine Haut zu retten, als Mensch gegen alle Widerstände und Versuchungen integer zu bleiben, Herz und Seele zu bewahren, geht es auch in dieser schmerzhaft aktuellen Version von "Berlin Alexanderplatz". Am Ende dieser eindrucksvollen Eröffnungssequenz stolpert der aus Guinea-Bissau stammende Francis (Welket Bungué) allein an einen europäischen Strand, seine Geliebte Ida ging im Meer verloren.

Regisseur Qurbani, l., mit Darstellern Jella Haase, Welket Bungué, Albrecht Schuch auf der Berlinale: Döblin als bildungsbürgerliche Folie
Foto: Gregor Fischer/ dpa"Halb lebendig, halb tot" tritt er in sein neues Leben, erklärt eine Frauenstimme aus dem Off, sie stammt von Mieze (Jella Haase), die erst später im Film eine tragende Rolle spielt, aber schon jetzt von der Ankunft des Flüchtlings Francis in Berlin kündet - und seinem dreimaligen Scheitern daran, fortan nur noch "gut" zu sein. Diesen Schwur leistet er sich selbst, zum gottesfürchtigen Dank für die Chance auf eine Neugeburt. Dieser Francis ist ein moderner Wiedergänger des Underdogs Franz Biberkopf, der 1929 durch Alfred Döblins berühmten Roman und das allmählich ins Verderben kippende Berlin der späten Zwanzigerjahre streift. Qurbani, Deutscher mit afghanischen Wurzeln, sah Parallelen zwischen diesem Franz und den schwarzen Drogendealern, die er in seiner Nachbarschaft, auf der Kreuzberger Hasenheide alltäglich beobachtet.
"Ich wollte immer etwas über diese Jungs dort machen. Ich finde die Situation beschissen", sagte er im Interview mit der "Süddeutschen Zeitung". "Da hast du diesen ultrabürgerlichen Park, wo die Mittelschicht mit ihren Kindern spazieren geht, und die kriegen ein ganz bestimmtes Bild von der Community in diesem Park: Schwarzer Mann gleich Dealer. Ich fand den Gedanken scheußlich und wollte einen Film über sie machen. Aber ich dachte: Egal, was du in Deutschland über die Community machst, es wird nicht wahrgenommen werden. Es wird versickern, und dann hat es keiner gesehen."
An Mut mangelt es nicht
Also nahm sich Qurbani, der sich in "Shahada" (2010) mit der Lebenswirklichkeit junger Muslime und in "Wir sind jung, wir sind stark" (2014) mit den rassistischen Pogromen von Rostock-Lichtenhagen beschäftigte, Döblins Klassiker als bildungsbürgerliche Folie, um Aufmerksamkeit auf ein marginalisiertes Milieu zu generieren. Fehlenden Mut kann man ihm nicht vorwerfen: Nicht nur Döblin drückt mit seiner literarischen Wucht auf das Projekt, sondern auch Rainer Werner Fassbinder, dessen Serie von 1980 die bisher letzte "Berlin Alexanderplatz"-Verfilmung war.
Qurbanis Film hält all diesem Druck weitgehend stand, indem er seine eigene Bildsprache wählt: Die Erzählung ist wie eine Sinfonie in fünf Akten aufgebaut. Nachdem Francis durch den Verrat eines Kollegen seinen regulären, aber natürlich illegalen Job auf einer U-Bahn-Baustelle vor dem Roten Rathaus verliert, lässt er sich schließlich doch auf das Kobern des Hasenheide-Zampanos Reinhold (Albrecht Schuch) ein, der im Flüchtlingsheim mit Euroscheinen wedelt und Wohlstand verspricht, ein Leben, das mehr bereithält "als ein Butterbrot", wie es analog zu Döblin heißt.
Das sind die besten Filme der Berlinale

Ein Mann, der minutenlang einfach nur sitzt, während draußen an sein Fenster der Regen prasselt. Ein anderer Mann, der akribisch Gemüse und Fisch wäscht, dann daraus ein Gericht zubereitet: Kang, dem stets traurig-melancholisch schauenden Protagonisten des taiwanesischen Regisseurs Tsai Ming-Liang sieht man oft zu, als betrachte man eine Naturdoku: Er wird auf seine Physis und seine Kreatürlichkeit zurückgeworfen. Handgeformtes Kino nennt Tsai seine eindrückliche Art zu filmen. So ist es auch in "Rizi” ("Days”, Wettbewerb), der den unter schlimmen Nacken und Schulterverspannungen leidenden Kang in Bangkok mit dem jungen, kochenden Reinlichkeitsfanatiker zusammenführt. Die Wege dieser beiden einsamen Männer kreuzen sich in einem Hotelzimmer zu einer zwar bezahlten, aber dennoch sehr zärtlichen Massage-Session. Der Schmerz des einen löst sich in der hingebungsvollen Dienstleistung des anderen auf - ein wundervoller, existenziell tröstender Kino-Moment, der komplett ohne Dialoge auskommt und doch alles über das Bedürfnis nach menschlicher Nähe erzählt. Andreas Borcholte

John Erdman (links) und Jonathan Perel in "The Last City"
Foto: Heinz Emigholz/ Filmgalerie 451/ BerlinaleGut möglich, dass Carlo Chatrian und seinem Team erst nach der Sichtung von "The Last City" die Idee zur neuen Sektion "Encounters" kam - denn wie kein Beitrag sonst gibt Heinz Emigholz' neuer Spielfilm dem wilden Geist der neuen Reihe eine Form. In fünf Städten (darunter: Berlin und São Paulo) kommt es zu fünf außergewöhnlichen Begegnungen (darunter: ein 70-Jähriger trifft sein 30-jähriges Selbst, ein inzestuös lebender Priester seine Mutter), gespielt von fünf Darstellenden, die in jeweils zwei Episoden ganz andere Charaktere darstellen (darunter: Susanne Sachsse und Jonathan Perel). Verbunden ist dieses herrliche Durcheinander durch Emigholz' brillante Dialoge, deren Geist in alle Richtungen sprüht - gegebenenfalls sogar bis ins Weltall, denn zu Kosmologie hat Emigholz neben Waffenindustrie und alternativen Familienmodellen auch noch etwas zu sagen. Und für die Kulinariker unter den Cinephilen gibt es kopulierende Pfannkuchen und eine deutsch-japanische Schuldwurst. Was will man mehr? Hannah Pilarczyk

Rauch? Nebel? Qualm? Etwas wabert jedenfalls durch Straßen einer alten Industriestadt in Lothringen und manchmal sogar durch die Innenräume von Jonathan Rescignos Dokumentarfilm "Grève ou crève" (Forum). Es ist die einzige behutsame Stilisierung, die der Regisseur vornimmt, sie drückt im Bild aus, worum es in seinem Film geht: dem Erbe der großen Bergarbeiterstreiks nachzugehen, die in den Achtziger- und Neunzigerjahren die Region erschütterten. Die Archivaufnahmen sind krass: Arbeiterkörper gegen Polizistenkörper, Tränengas, Schlagstöcke, Steine, Explosionen wie in Kriegsbildern. In der tollen Anfangssequenz überführt Rescigno diese kinetische Energie von den VHS-Bildern mit einem Schnitt in die Gegenwart, in das Boxtraining der nächsten Generation. Ein Film über die Kraft des Protests, und wohin sie (vielleicht) gegangen ist. Till Kadritzke

Lena Watson in "The Trouble With Being Born"
Foto: Panama Film/ BerlinaleZunächst sieht man in Elli ein zehnjähriges Mädchen, das den Sommer mit Papa am Pool verbringt. Dann ein Speichermedium für Erinnerungen an das Kind, das dieser Papa vor zehn Jahren verloren hat. Dann ein sehr elaboriertes Sex-Spielzeug, dessen Sonderausstattung sind besonders leicht abwaschen lässt - in einer nicht allzu entfernten Zukunft können Kinder-Androiden offenbar diversen Wünschen von Erwachsenen nachkommen. Mit den kippenden, verwirrten, zutiefst befremdlichen Blicken ist es dabei in Sandra Wollners "The Trouble With Being Born", einer Art "Blade Runner" für die österreichische Suburbia, noch lang nicht getan. Das Highlight aus der Encounters-Reihe zeigt eine Filmemacherin, die schon mit ihrem zweiten Langfilm in viel riskantere Gefilde vorstößt, als es der Großteil des deutschsprachigen Filmschaffens vermag. Hannah Pilarczyk

Éléonore Loiselle und Kelly Dépeault in "La déesse des mouches à feu"
Foto: Laurent Guerin/ Laurent Guérin/ BerlinaleDie Eltern prügeln sich schon in der Anfangssequenz, bis sich ein Auto überschlägt, kein Wunder, dass das Kind bald Drogen nimmt. Catherine bleibt beim Coming-of-Age auf Meskalin hängen, das Leben ist schön und intensiv, die Eltern raffen nichts und als dann doch, ist es der Tochter längst egal. Die kanadische Regisseurin Anaïs Barbeau-Lavalette hat mit einem unglaublichen Cast von Jugendlichen den gleichnamigen Roman von Geneviève Pettersen adaptiert. "La déesse des mouches à feu" (Generation) ist im besten Sinne drüber, entschuldigt sich für nichts, verschreibt sich ganz dem Drogenrausch seiner Protagonistin, ist von jugendlichem Leichtsinn angetrieben und mit visuellem Überschaum durchzogen. Die Moralkeule wird eingetauscht gegen eine Ethik des autonomen Erwachsenwerdens: Am Ende ist Catherine reifer als die kaputten Eltern und fürs Leben gerüstet. Till Kadritzke

Adolf Beutler in "Kunst kommt aus dem Schnabel wie er gewachsen ist"
Foto: Sabine Herpich/ BerlinaleEine Künstlerin arbeitet an einem Modell des Bode-Museums als "Skulpturen-Knast"; bei einer Perfomance mit Dartpfeilen sollen ihre Insassen - die Skulpturen – befreit werden. Die Entstehung des Objekts, das aus Styropor, Holz und Draht gefertigt ist, lässt sich neben einigen Arbeiten aus Papier in Sabine Herpichs Dokumentation beobachten. Schauplatz ist die Kunstwerkstatt Mosaik in Berlin, ein Atelier für Künstlerinnen und Künstler mit Behinderung. "Kunst kommt aus dem Schnabel wie er gewachsen ist" (Forum) folgt Stift, Schere, Hand und Gedanken bei der Herstellung von Kunst. Wobei der Film mit der gleichen Ruhe und Sorgfalt vorgeht wie die Porträtierten selbst. Herpichs Institutionen- und Künstler*innenporträt, das implizit den Dualismus von Mainstream und Outsider Art in Frage stellt, zeigt den künstlerischen Prozess als etwas Substantielles. Ihr Blick gilt den verschiedenen Weisen, der Welt, wie sie wahrgenommen und empfunden wird, eine künstlerische Form zu geben. Esther Buss

Salif Cissé in "A l'abordage"
Foto: Geko Films/ BerlinaleNur eine Nacht hat Félix mit Alma verbracht. Trotzdem entschließt er sich, ihr in den Familienurlaub hinterherzufahren, lässt sich dabei aber vorsorglich von einem Freund begleiten. In dem südfranzösischen Tal treffen die beiden Männer dann auf allerlei Menschen, die ebenfalls für ein paar Tage ein Stück weit aus ihrer Alltagsidentität herausgetreten sind. Dieses Netz an plötzlichen Bekanntschaften und unerwarteten Annäherungen entspinnt sich in Guillaume Bracs "A l'abordage" (Panorama) auf ganz zufällige, ungeordnete Art – und doch sind die einzelnen Szenen präzise durchgestaltet, mit einem klaren Gespür für den entscheidenden Moment und für die den Situationen innewohnende Komik. Der Film ist lebensnah und hochgradig künstlich zugleich – ein spielerischer Realismus, durch den auch die gänzlich unzynische Haltung des Films nie zur selbstgefälligen Pose wird. Philipp Schwarz

Elisabeth Moss (links) und Odessa Young in "Shirley"
Foto: LAMFWie Shirley Jackson zu Shirley Jackson geworden ist, erklärt Josephine Deckers Biopic "Shirley" (Encounters) nicht. Aber wie andere Frauen zu Shirley Jackson werden konnten, das schon. Denn die gefeierte Schriftstellerin, berühmt für verstörende Werke wie "The Lottery" oder "Wir haben immer schon im Schloss gelebt", wird hier unter Deckers Regie und in Elisabeth Moss' Spiel zu einer Art, auf die Welt zu blicken. Schön sieht die Welt aus dieser Perspektive nicht aus, die Männer in ihr sind allesamt Betrüger und die Frauen selbstzerstörerische Wracks. Doch diese Welt ist so überzeugend gezeichnet, dass man sich wie die junge Rose (Odessa Young), die mit ihrem Ehemann für ein knappes Jahr zu Untermietern bei Jackson und deren Gatten wird, immer ungehemmter in sie hineinsteigert, bis man nur noch durch Jacksons Augen sehen kann. Hannah Pilarczyk

Benjamin Radjaipour in "Futur Drei"
Foto: Edition Salzgeber/ Jünglinge Film/ BerlinaleFaraz Shariats Debütfilm "Futur Drei" (Panorama) kreist um den Deutsch-Iraner Parvis, der Sozialstunden in einer Asylunterkunft leisten muss und dort die aus dem Iran geflohenen Geschwister Amon und Banafshe kennenlernt. Es geht um schwules Begehren, um postmigrantische Identität, um deutsches Asylrecht und die Gewalt der Provinz, aber all diese Dinge bremsen die vorwärtspeitschende Erzählung nicht aus: Mitunter ist "Futur Drei” ein waschechtes Feel-Good-Movie an, eine Pop-Utopie. Denn das Kino ist hier nicht Rechtsanwalt, sondern wortwörtliche Projektion. Und vielleicht lässt sich die Gegenwart auch am besten festhalten, analysieren, kritisieren, wenn man ihr selbstbewusst den Spiegel einer besseren, queereren, migrantischeren Zukunft entgegenhält. Selbst wenn diese vorerst nur im Futur Drei formuliert werden kann, weil jederzeit die Abschiebung droht. Till Kadritzke

Cynthia Ebijie und Tem Ami-Williams in "Eyimofe"
Foto: Eyimofe/ BerlinaleDer erste Teil heißt "Spanien”: Mofe ist Elektroingenieur, prekär angestellt. Als er irgendwann einen Schlag an einem veralteten Schaltkasten abbekommt, hat er genug und macht sich selbstständig. Fortan hockt er auf den Straßen von Lagos und repariert Geräte. Der zweite Teil heißt "Italien”: Dort soll Rosas Tochter ihr Kind zur Welt bringen, wenn alles gut läuft. Rosa hetzt von einem Job zum nächsten, und wenn irgendwann der erste und einzige weiße Mann in "Eyimofe” (Forum) auftaucht und sie anflirtet, sieht Rosa eine Chance und macht sich unselbständig. Träume von Europa bilden den Horizont, die Ökonomie überformt alles, und die Regisseure Arie und Chuko Esiri verweigern sich einfachen Begriffen: Wunsch und Wirklichkeit, Freiheit und Zwang, Hoffnung und Verzweiflung, das sind keine Zustände, sondern die Pole der Achsen, auf denen sich Mofe und Rosa bewegen. Till Kadritzke

Julia Garner in "The Assistant"
Foto: Forensic Films/ BerlinaleEine junge Uniabsolventin hat eine Assistentenstelle in einer renommierten Filmproduktionsfirma ergattert, muss aber bald merken, dass die Firma neben der eigentlichen Produktionsarbeit ganz wesentlich darauf ausgerichtet ist, ihrem Chef immer neue junge Frauen zuzuspielen. In ihrer Auseinandersetzung mit dem Weinstein-Skandal stellt Kitty Green nicht die Momente des offenen Machtmissbrauchs in den Vordergrund, sondern all die kleinen Gesten, durch die ein hierarchisches System am Laufen gehalten wird. Einschüchterung geschieht hier durch den freundlichen Ratschlag, seine E-Mails doch etwas unterwürfiger zu formulieren, Ausgrenzung durch den betont pflichtschuldigen Tonfall, in dem eine Einladung zu einem Feierabendbier ausgesprochen wird. "The Assistant" (Panorama) ist ein Film über jene Alltagsgrausamkeiten, die denen, die sie begehen, doch nie den Schlaf rauben. Philipp Schwarz

Michelangelo Fortuzzi und Marie Tragousti in "Nackte Tiere"
Jugendliche Körper umkreisen und umarmen sich. Sie verknäulen und schlagen sich. Es gibt blaue Flecken und blutende Nasen, aber das ist nicht weiter schlimm. Was das Coming-of-Age-Kino üblicherweise als bestimmendes Lebensgefühl heranwachsender Menschen beschreibt - das In-der-Schwebe-Sein –, weicht in Melanie Waeldes überraschendem Debütfilm einer eruptiven Körperlichkeit, die jenseits von Gewalt liegt. Im engen Bildformat – 4:3 – ist wenig Platz für die fünf Protagnost*innen, Heranwachsende in der Brandenburgischen Provinz, kurz vor dem Abitur. Trotzdem ist da unendlich viel Freiheit und Raum: etwa dafür, die Beziehungen der Figuren unbestimmt zu halten und die Beschreibung sozialer und familiärer Milieus an die Erzählränder zu verlagern. Toll auch das Ensemble, allen voran die junge Schauspielerin Marie Tragousti. Esther Buss

O. C. Ukeje in "Cidade pássaro"
Foto: Primo Filmes/ Berlinale"Shine Your Eyes", der englische Titel von Matias Marianis Debütfilm "Cidade pássaro" (Panorama), ist als Aufforderung an seine Hauptfigur gedacht: Der Nigerianer Amadi (O. C. Ukeje) soll sich endlich der Realität stellen, dass sein Bruder "es" in São Paulo nicht geschafft hat. Er ist nicht, wie er es der Familie in der Heimat geschrieben hat, Professor geworden, er hat noch nicht einmal eine einfache Arbeit, geschweige denn eine Wohnung. Er ist einfach verschwunden. Auf der Suche findet Amadi - und mit ihm das Publikum - nicht den Bruder, aber etwas anderes: eine Stadt, eine Heimat und damit womöglich eine Utopie. Denn so dicht, wie Mariani Stadtbilder und Lebensläufe verflechtet, fügt sich São Paulo zu einem einzigartigen Sehnsuchtsort zusammen. Zumindest für die Länge eines Films. Hannah Pilarczyk

"Vil, Má" von Gustavo Vinagre
Foto: Gustavo Vinagre/ BerlinaleEin Film als gespiegelte Anordnung: In Gustavo Vinagres Doppelfrauenporträt "Vil, Má" (Forum) über eine brasilianische Schriftstellerin sadomasochistischer Literatur und die dahinter verborgene "bürgerliche" Frau vermischen sich Aspekte der Lebensgeschichte mit (literarischen) erotischen Episoden. Die verschlungenen Erzählungen der über 70-jährigen Wilma Azevedo haben bei aller konkreten Bildhaftigkeit etwas Verführerisches, Phantasmatisches. Nahezu ausschließlich über die Sprache entsteht ein kreatives Reich aus Träumen, Sehnsüchten und Fetischen, formen sich Bilder über Körperteile und Empfindungen, über Werkzeuge und ihren Gebrauch. Dass die so starke wie furchtlose Frau das mühsam erarbeitete Produkt eines langwierigen Emanzipationsprozesses sein könnte, deutet sich im zweiten Teil an. Ganz sicher kann man sich über die Spaltung von Wilma/Elvira aber bis zuletzt nicht sein. Esther Buss

Elio Germano in "Volevo nascondermi"
Foto: Chico De Luigi/ BerlinaleWie wird ein großer Künstler ein großer Künstler? Immer wieder stellen sich Filmporträts diese Frage und beantworten sie auch noch - meist durch Ausstellung einer psychologische Verhärtung, bevorzugt aus der Kindheit. Giorgio Dirittis Annäherung an das Leben des Malers Antonio "Toni" Ligabue (1899-1965), einem womöglich geistig behinderten Ausnahmekünstler an der Schnittstelle zwischen Expressionismus und naiver Kunst, folgt keiner Frage und gibt keine Antworten. In "Volevo nascondermi" (Wettbewerb) montiert Diritti schlicht Szenen aus Ligabues Leben, zeigt Erniedrigung, Entbehrung, Freundschaft, Anerkennung, Erfolg, Krankheit, Jähzorn, Freude. Elio Germano verkörpert Ligabue mit wilder Dringlichkeit, muss sich aber in keiner Naheinstellung in die Seele schauen lassen. Auch so beschützt Diritti die Integrität seiner Figur, die er an keiner Stelle zur Interpretation freigibt. Am Ende fügt sich ein Bild zusammen, das so brüchig, grausam, triumphal und zärtlich wie das Leben selbst ist. Hannah Pilarczyk

"Maggie's Farm"
Foto: James Benning/ neugerriemschneider, Berlin/ BerlinaleMan muss nicht wissen, dass das California Institute of the Arts, das der US-amerikanische Avantgardefilmemacher James Benning in "Maggie’s Farm" (Forum) filmisch erkundet, von Walt und Roy Disney gegründet wurde. Komisch ist es aber schon, wenn einer mythologischen Kunstinstitution in engen statischen Einstellungen von schäbigen Fußböden, Müllcontainern und einem zerbeulten Trinkbrunnen ein wenig die Luft abgedrückt wird. Benning, der selbst am CalArts lehrt, interessiert sich für die missachteten Winkel und Details des öffentlichen Gebäudes, die dennoch unverzichtbar dazugehören - wie auch für den charakteristischen "Gebäude-Sound": surrende Halogenleuchten, Türen, die im dumpfen Klang zufallen, Aufzuggeräusche. "Maggies’s Farm" ist wunderlich und auch ein wenig klaustrophobisch. Zwischen den Bildern lauert Suspense. Die Sprache des Experimentalfilms trifft auf die Blickperspektiven des "true crime". Esther Buss

"Bloody Nose, Empty Pockets"
Foto: Department of Motion Pictures/ BerlinaleNach und nach trudeln die Stammgäste in der "Roaring 20s”-Bar ein, ein letztes Mal. Die Bar wird schließen, Gentrifidingsbums, also noch einmal zusammen abhängen, trinken, eintauchen in eine Welt aus Tresen, Jukebox und Alkohol. Während der Abend so langsam in die Gänge kommt, verändert sich auch der Blick auf diesen ziemlich erstaunlichen Film der Brüder Bill und Turner Ross (Panoram). Da scheint eine Fiktion aus der Dokumentation zu erwachsen und zugleich diese Einteilung auszulachen. Kleine Dramen, Biografien, Verbrüderungen und Fastschlägereien fängt die Kamera wie beiläufig ein, und wenn die mit Alkohol statt mit Zugehörigkeit vernähte Gemeinschaft irgendwann mit Wunderkerzen nach draußen geht, dann wird die Ode an die Heimat namens Theke zu ihrem verdienten Finale geführt. Erst wenn die Sonne aufgeht, ist alles vorbei: Nie mehr Las Vegas. Till Kadritzke

"Tipografic majuscul"
Foto: Silviu Ghetie/ BerlinaleAnfang der Achtzigerjahre schrieb ein Schüler im Rumänien Ceaușescus regierungskritische Parolen an eine Reihe von Häuserwänden. Die Ermittlungen, die dieser Akt des Widerstands nach sich zog, hat Regisseurin Gianina Cărbunariu zu einem Theaterstück verarbeitet - und dieses wiederum reichert Radu Jude in "Uppercase Print" (Forum) mit Ausschnitten aus dem damaligen rumänischen Fernsehen an. Folkloristische Musiksendungen wechseln sich ab mit Aufrufen zur Selbstoptimierung und mit der öffentlichen Anprangerung von Ehescheidung oder Landesflucht. Das hyperaktive Massenmedium wird zum Spiegelbild eines auf ständige Eskalation ausgerichteten Überwachungsapparats. In dem Wüten dieser beiden Wirbelstürme wird individueller Widerstand nicht so sehr gebrochen, als durch ständige, mechanische Bearbeitung plattgewalkt. Philipp Schwarz
Francis gerät also auf die schiefe Bahn, von der es auch kein Entkommen mehr gibt. Für die bürgerliche Welt bleibt er unsichtbar, sie ist im Film auch nie zu sehen, übrigens ebenso wenig wie der Lärm, das Getümmel, das Rasen - also das eigentliche Wesen der Großstadt. Alle Szenen spielen im Park bei den Dealern, auf nächtlichen leeren Straßen der Hauptstadt rund um den Alex – oder in Nachtklubs und Altbauwohnungen, die dezenten Zwanzigerjahre-Charme verströmen. Die Gangster-Freundschaft zwischen Reinhold und Francis ist toxisch, der körperlich versehrte Deutsche neidet dem Afrikaner seine Sehnsucht, seine Kraft und seinen Willen, etwas Besseres zu werden.
Selbst als Francis schließlich die Prostituierte Mieze/Kitty trifft und sich die Hoffnung auf Liebe und ein "normales" Leben auftut, lässt das Milieu den traumatisierten Flüchtling nicht los. Er greift nach der kriminellen Machtstellung auf der Hasenheide – und wird von Reinholds Niedertracht zu Fall gebracht. Auf einer Party ihm zu Ehren, steckt ihn der Deutsche in ein Gorillakostüm, während er selbst in Kolonialherrenkluft aufläuft. Da können die deutsch-afrikanische Barbesitzerin Eva (Annabelle Mandeng) und ihre markige Transgender-Partnerin Berta (Nils Verkooijen) noch so sehr im Champagnerrausch postulieren, dass sie "die neuen Deutschen" sind, die im Abseits zementierte Stellung von Migranten in der deutschen Gesellschaft bringt Qurbani mit diesem perfiden Mummenschanz auf den Punkt: Die Rotlicht- und Drogenszene unterhalb des Bürgertums ist auch nur ein Abbild des großen, undurchlässigen Ganzen.

Szene aus "Berlin Alexanderplatz" mit Welket Bungué: Moderner Franz Biberkopf
Foto: Wolfgang Ennenbach/ dpaDas ist als bittere Bestandsaufnahme des aktuellen deutschen Diskurses über Rassismus, gesellschaftliche Abschottung und rechten Terror ganz schön viel. Und es begeistert durchaus, dass sich Qurbani noch dazu entschieden hat, seinen "Berlin Alexanderplatz" nicht als naturalistisches Sozialdrama, sondern als ambivalente, immer wieder auch aus der Realität abstrahierte Parabel zu erzählen.
Ausgerechnet dem jungen Hauptdarsteller Welket Bungué, gelingt es jedoch nicht, zum emotionalen Zentrum des Films zu werden. Man bekommt kein Gefühl für die Qualen und inneren Zerreißproben seines Franz Biberkopf, auch die leider nicht sehr begabte Jella Haase ("Fack ju Göhte") ist ihm als Mieze keine große Stütze. So reißt den Zuschauer vor allem Albrecht Schuch mit seinen präzisen Manierismen und seinem Charisma als zerquälter, aber eben auch niederträchtiger Schurke mit – ausgerechnet die Kartoffel, um die es ja nun gerade nicht gehen sollte.
Daran scheitert dieser "Berlin Alexanderplatz" nicht, aber er wird es schwer haben, Qurbanis subversive Mission einzulösen, wenn das Herz seines Films streckenweise so leer und unbehaust bleibt wie der echte Alex an jedem gewöhnlichen Nachmittag. Oder der Potsdamer Platz während dieser Berlinale.