Flüchtlingsfilme auf der Berlinale Wir. Und die Anderen
2016, als man sich in Deutschland noch offiziell in der sogenannten "Flüchtlingskrise" befand, gewann Gianfranco Rosis Dokumentarfilm "Seefeuer" den Golden Bären der Berlinale. Er stellt anschaulich zwei getrennte Welten auf der italienischen Insel Lampedusa gegeneinander: den Alltag der Bewohner einerseits und den gerade aus Seenot geretteten Menschen auf ihrem Weg nach Europa andererseits. Modi von Lebenswirklichkeiten, die auf engstem Raum füreinander unsichtbar bleiben. Das Festival machte damals auf allen Ebenen auf diese humanitäre Tragödie aufmerksam: von Pressemitteilungen bis hin zur Integration der Mittelmeerküche auf dem Streetfood-Markt.
Einige Maßnahmen der 2016er-Ausgabe des Festivals werden weiterhin verfolgt, auch wenn sich seine gesellschaftspolitische Themenangliederung 2018 zu #MeToo verschoben hat. So gibt es auch in diesem Jahr Freikarten für Integrationskursteilnehmer, beschränkt auf das Angebot der "Lola"-Reihe: deutsche Filme als Orientierungsangebot für Geflüchtete. Die meisten aktuellen deutschen Filme im Programm, die sich mit Fluchtgeschichten und der europäischen Verantwortung dafür auseinandersetzen, dienen allerdings eher der Orientierung im europäischen Selbstbild.

Szene aus "Styx" von Wolfgang Fischer
Foto: Benedict NeuenfelsDas Panorama eröffnete in diesem Jahr mit dem deutsch-österreichischen Spielfilm "Styx", in dem eine Ärztin als Alleinseglerin im Atlantik nach einem Sturm in die Nähe eines havarierten Boots mit Geflüchteten gerät. Wie der Filmtitel schon andeutet, bewegt sich Regisseur Wolfgang Fischer auf allegorischem Terrain, zwischen Welt und Todesreich, mit einer moralisch überforderten Fährfrau dazwischen.
Gespenster in Marseille
Nicht weniger gleichnishaft überblendet Christian Petzold in seinem Wettbewerbsbeitrag "Transit" die Geschichten von Deutschen auf der Flucht vor den Nazis mit Bildern aus dem heutigen, multikulturellen Marseille. Die visuell verblüffende Gespensterinszenierung will die Distanz zu literarisierten deutschen Fluchterfahrungen der Vierzigerjahre aufheben und die Verfremdung der "Geflüchteten" durch Kristallbilder anschaulich machen, in denen verschiedene Zeitebenen ineinanderkippen. Spätestens aber, wenn sich die Hauptfigur unvermutet den Blicken einer Geflüchtetenfamilie von heute ausgesetzt sieht, ist die Irritation durch die "Anderen" wieder Teil der europäischen Perspektive geworden.
"Jetzt nicht erschrecken!", warnt aus ähnlicher Perspektive die Heilsarmee-Angestellte den Dokumentarfilmer Markus Imhoof, bevor sie mit ihm eine schweizerische Geflüchtetenunterkunft betritt. Auch sein Film "Eldorado", im Wettbewerb außer Konkurrenz, hat es sich mit aufrichtigem Engagement zum Ziel gesetzt, die Migration zu "unserem" Problem zu machen, wofür er allerdings permanent Denk- und Bildfiguren für das "Andere" braucht.
Aus der eigenen Biografie bringt Imhoof ein während des Zweiten Weltkriegs zeitweise in seiner Familie untergebrachtes Mädchen aus Italien ins Spiel, dessen zu früher Tod, verschuldet durch die behördlich verordnete Rückführung, der Filmemacher mit heutigen "Maschinerien" der Geflüchtetenverwaltung verknüpft. Imhoof hat den Vorurteilen über "Wirtschaftsflüchtlinge" den filmischen Kampf angesagt. "Eldorado" lässt er zu Beginn auf der goldenen Industriefolie der Rettungsdecken von "Mare Nostrum" glitzern, ihn interessiert, wie Europas Integrationsdiskurs die Ausbeutung des globalen Südens ausblendet.
Abwehr und Ausbeutung
Von den hilflos im Mittelmeer treibenden Menschen bis zur abgeschobenen Altenpflegehelferin in der Schweiz erzählt Imhoof erschreckende Geschichten über Abwehr und Ausbeutung, die erzieherisch auf das europäische Gewissen einwirken sollen. Exemplarisch kurz verfolgt er Biografien von Geflüchteten, die in Italien von der Mafia zu Plantagenarbeit und Prostitution gezwungen, später aus mitteleuropäischen Ländern abgeschoben werden, um in Afrika aufgrund von EU-sanktionierten Lebensmittelimporten am Aufbau einer eigenen Existenz gehindert zu werden.
Jedes Mal, wenn "wir" Spaghetti essen, unterstützen wir Sklavenarbeit, ist Imhoffs Mahnung. Die Menschen, als deren Anwalt er sich versteht, haben in seinem Film allerdings wenig zu sagen. Seine Reduktion auf die europäische Perspektive fällt spätestens dann unangenehm auf, wenn er eine entkräftete, gerade aus dem Meer geborgene Frau abfilmt und darüber einen Sprecher fragen lässt: "Was hat sie wohl zurückgelassen?" Frag sie doch mal, möchte man ausrufen.
In Karim Aïnouz' Dokumentarfilm "Zentralflughafen THF" kommen dagegen fast ausschließlich Geflüchtete zu Wort. Er hat sie über fast ein Jahr in der temporären Unterkunft in den Hangars des stillgelegten Tempelhofer Flughafens begleitet. Die Monatsnamen fungieren als Zwischentitel, sie werden auf Arabisch wie in einem Sprachkurs für Deutsche vorgelesen. Der eigentliche Protagonist des Films ist der Ort selbst, als stillgelegter Verkehrsknotenpunkt, historische Luftbrückenstation und Schauplatz moderner Berliner Freizeitgestaltung. Im Intro machen Besucher vor einem Wandbild Halt, das zeigt, wie ausgehungerte Deutsche von den Alliierten versorgt werden.

Szene aus "Zentralflughafen THF" von Karim Aïnouz
Foto: Juan SarmientoAuch hier wird die existenzielle Not als Teil der eigenen Geschichte ins deutsche Bewusstsein gerückt. Doch der Film verlässt schnell die selbstreflexive Ebene, die sich am abstrakten "Anderen" abgleicht, und fängt über den weiteren Verlauf unaufgeregte Bilder der besonderen Lebenssituation der Geflüchteten in den Hangars ein. Der Flughafen als Ort des Wartens, der Transitstatus der Bewohner, werden inmitten des heutigen Berlins als exemplarische Heterotopie sinnbildlich, als Ort im Ort, mit Geschichten in Geschichten.
Unsichtbar geworden, aber nicht verschwunden
Aïnouz legt verschiedene Fährten, die einen Reim auf "THF" anbieten: ein Science-Fiction-Schauplatz für eine Gesellschaft von morgen, ein urbaner Ausblick, der die Erinnerung an Heimaten so weit überlagert, dass diese in Schreibkursen rekonstruiert werden müssen. Die artifiziell gestaltete Tonebene vermischt die Stimmen und Geräusche vieler Menschen zu einem Sound, der kein Ausblenden ermöglicht.
Gerade weil Aïnouz die temporären Hangarbewohner nicht als "Andere" zeigt, visualisiert er ein komplexes "Wir", in dem zwar alle institutionell verwalteten Differenzen scharfgestellt sind, das aber nicht in die mediale Erzählung der gesellschaftlichen Überforderung Europas durch globale Fluchtbewegungen weiterscheibt, wie es "Styx", aber auch "Eldorado" tun.
Anstatt in allegorischen Bildern "uns" mit uns selbst zu konfrontieren und auf Mitmenschlichkeit zu verpflichten, belässt Aïnouz es bei der unaufgeregt dokumentierten Konkretion. Wahrscheinlich im Wissen, dass seit 2016 zwar vieles wieder unsichtbar geworden, aber trotzdem nicht verschwunden ist.
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