
"The Kindness of Strangers": Sogar als Seifenoper schlecht
Berlinale-Eröffnungsfilm Fehlstart mit Sozialschmonzette
Endlich Berlinale, endlich zehn Tage Kino pur! Ein Fest auch für Kritiker, die entgegen des Vorurteils nicht mit gewetzten Messern ins Kino gehen, sondern sich auf cineastische Entdeckungen freuen, auf Filme, die fordern und begeistern, neugierig machen, gern auch verwirren.
Nach der Pressevorführung des Eröffnungsfilms allerdings gab es ratlose Gesichter, da war alle Vorfreude erst einmal verpufft. Kurz und gut und in aller Schärfe: Wie die Entscheidung zustande kam, die bodenlos schlechte Sozialschmonzette "The Kindness of Strangers" zum Eröffnungsfilm der 69. Berlinale zu küren, bleibt auch mit größter Fantasie unvorstellbar.
Nun ist diese Festival-Ausgabe die letzte des langjährigen Direktors Dieter Kosslick, was die Angelegenheit noch delikater macht. Kosslick musste in der Vergangenheit vonseiten der Presse oft Kritik einstecken. Bemängelt wurde immer wieder die Qualität vor allem der Filme, die Kosslick für den Wettbewerb der Berlinale auswählt. Diese Kritik muss man nun schon am Tag der Eröffnung erneuern, und lauter denn je. In Anbetracht des Eröffnungsfilms kann einem für den Rest des Wettbewerbs nur himmelangst werden.

"The Kindness of Strangers": Sogar als Seifenoper schlecht
"The Kindness of Strangers" ist der neue Film der dänischen Regisseurin Lone Scherfig, die im Jahr 2001 international mit "Italienisch für Anfänger" bekannt wurde. Mit diesem Film war sie damals ebenfalls Gast auf der Berlinale und wurde mit dem Silbernen Bären geehrt. Mit "An Education" kehrte sie 2009 wieder. Scherfig gehört also zur Berlinale-Familie.
Und sie ist eine respektierte Filmemacherin, die in ihrem Werk immer wieder auf soziale Schieflagen aufmerksam macht, die Menschen mit schlechtem Leumund eine laute und auch witzige Stimme gibt. Lone Scherfigs Filme wimmeln vor Unfällen, Selbstmordversuchen und tödlichen Krankheiten, und dennoch gelang es ihr, sie mit einem Mantel warmer Behaglichkeit zu umhüllen.
Scherfig ist für ihren Hang zum Wohlfühlfilm, der in allen Schwierigkeiten das Positive sehen will, der inspirieren will statt zu deprimieren und stets die Möglichkeit des Menschen zu Besserung betont, auch kritisiert worden. Aber ihr nuancierter und genauer Blick auf die Figuren und die gesellschaftlichen Verhältnisse bewahrten ihre Sozialdramen und Komödien bisher davor, ins Seichte abzugleiten.
Funktioniert nicht einmal als Seifenoper
Genau das ist ihr nun mit "The Kindness of Strangers" passiert. Schlimmer noch: Der Film funktioniert nicht einmal als Sozial-Seifenoper. Das würde voraussetzen, dass Drehbuch und Regie (beides Scherfig) einer Intention folgen. Die ist aber in "The Kindness of Strangers" nicht erkennbar, so nebulös und prätentiös bleibt hier alles.
Das beginnt schon mit der Grundidee: Junge Frau (Zoe Kazan) flüchtet mit ihren Kindern vor prügelndem Ehemann - wohin? Nach Manhattan natürlich, dem teuersten Pflaster der Ostküste. Vorgeblich, weil dort der fiese Schwiegervater lebt, der sie - oh Wunder! - gleich wieder vor die Türe setzt.
Der wahre Grund ist, dass Scherfig nach eigener Aussage eine Liebeserklärung an New York drehen wollte. Nicht nur das: Auch der Langmut und Wohltätigkeit der Amerikaner wollte sie erklärtermaßen ein filmisches Denkmal setzen. Also muss die Geschichte eben in Manhattan spielen, wo besagte Mutter mit ihren Kindern zunächst auf der Straße landet und nach vielen Umwegen bei einem Ex-Häftling (Tahar Rahim) landet, dem auf wundersame Weise ein russisches Restaurant in den Schoß gefallen ist.
Figuren ohne Konturen
Überhaupt laufen sich in diesem Film Figuren an den unmöglichsten Stellen über den Weg, immer wieder kommt es zu den unglaublichsten Zufällen, ohne dass sich Scherfigs Drehbuch auch nur den Anflug von Mühe machen würde, all das wenigstens ansatzweise zu motivieren.
Schließlich läuft die Geschichte auf so etwas wie einen Höhepunkt zu, die junge Frau verklagt ihren Mann. Allerdings erfährt der Zuschauer fast nichts über das Verfahren, weil Scherfig es nur in zusammenfassenden Schnitten ohne Ton zeigt. So ergeht es allen Themen, die Scherfig anschneidet. Ob Obdachlosigkeit, häusliche Gewalt oder Einsamkeit, keines leuchtet sie aus. Sie bleiben Kulisse für Figuren ohne Konturen. Sichtlich ratlos stolpern die Schauspieler darin herum.
Bei manchen Filmen fragt man sich, wie sie zustande kommen konnten. Hat niemand das Drehbuch geprüft? Ist niemandem aufgefallen, dass hier nichts zusammenläuft? Im Fall von "The Kindness of Strangers" steht eine andere Frage im Vordergrund: Wie konnte jemand ernsthaft glauben, es sei eine gute Idee, diesen Film zum Eröffnungsfilm der Berlinale zu machen?