15 von 399 Filmen Das sind die Berlinale-Highlights 2017

Filmstill aus "Selbstkritik eines bürgerlichen Hundes" von Julian Radlmaier
Foto: faktura film/ BerlinaleAm Donnerstagabend startet die Berlinale, und auch in ihrem 67. Jahr versucht sie es wieder mit einer Augenwischerei: Mit der schieren Zahl an Filmen davon abzulenken, dass die berühmtesten Regisseurinnen und Regisseure ihre neuesten Arbeiten lieber in Cannes zeigen. Deshalb also wieder Masse: 399 Filme inklusive Kurzfilmen laufen in diesem Jahr auf der Berlinale. Eine überwältigende Zahl, viele interessante Filme verstecken sich aber in den verschiedenen Sektionen, vom Wettbewerb über die Retrospektive bis zu den Kinder- und Jugendfilmen in der Generationen-Reihe. Hier sind fünf Wege durch das Dickicht des Berlinale-Programms mit jeweils drei Filmen, die das Sehen und Drüberreden lohnen.
DREI MAL KÜNSTLER IM FILM

Von links: "Beuys", "Casting", "Selbstkritik eines bürgerlichen Hundes"
Foto: Zero One Film/ Ute Klophaus; faktura film/ BerlinaleDie deutschen Filme haben in diesem Jahr ästhetisch und erzählerisch wenig gemein, ein Thema dominiert aber: das große Interesse an widerspenstigen Künstlerfiguren. Mit seinem dokumentarischen Porträt "Beuys", das im Wettbewerb läuft, hat Andres Veiel den prominentesten Platz ergattert. In einer assoziativen Montage mit bisher noch nicht verwendeten Bild- und Tondokumenten nähert sich Veiel einem Künstler, der so deutsch in seiner Themen- und Materialwahl war, dass wohl nur er es schaffen konnte, die westdeutsche Nachkriegsgesellschaft nachhaltig für zeitgenössische Kunst zu begeistern.
In Nicolas Wackerbarths "Casting" (Forum) steht Beuys' Zeitgenosse Rainer Werner Fassbinder im Mittelpunkt - allerdings nur als übermächtige Referenz für Regisseurin Vera (Judith Engel). Sie will ein Remake von dessen Film "Die bitteren Tränen der Petra von Kant" drehen, doch kurz vor dem ersten Drehtag hat sie noch immer nicht ihre Hauptdarstellerin gefunden. In improvisierten Szenen lässt Wackerbarth die Konflikte vor und hinter den Kulissen einer Fernsehproduktion hervortreten, die Machtspiele und die Verzweiflung, aber auch den Humor. Schon jetzt wird "Casting" als einer der Publikumshits und Kritikerlieblinge dieser Berlinale gehandelt.
Dass man das Meta-Spiel von "Casting" noch weitertreiben kann, beweist Julian Radlmaier in "Selbstkritik eines bürgerlichen Hundes" (Perspektive deutsches Kino): Der Absolvent des Regiestudiums an der dffb spielt einen Regisseur namens Julian, der nach neuem Filmstoff und neuen revolutionären Subjekten sucht, seine Energien dann aber lieber auf die Verführung der jungen Kanadierin Camille (Deragh Campbell) verwendet und mit ihr schließlich auf einer Apfelplantage namens Oklahoma landet. Viel mehr sollte man über Radlmaiers zweiten längeren Spielfilm nicht verraten, aber vielleicht das noch: Am Ende haben sowohl der Julian aus dem Film als auch der Julian, der den Film über ihn gemacht hat, ein erfolgreiches Filmprojekt vorzuweisen.
DREI MAL MUSIK

Von links: "Felicité", "Denk ich an Deutschland in der Nacht", "EMO the Musical"
Foto: Celine Bozon; Arden Film; Ellery Ryan, Matthewswood/ BerlinaleSchon in seinem ersten Wettbewerbsfilm bei der Berlinale, "Aujourd'hui" von 2012, setzte der französisch-senegalesische Regisseur Alain Gomis auf Musik: Damals schickte er den Sänger und Spoken-Word-Künstler Saul Williams in den Senegal, um dort ein persönliches Requiem zu erleben. In seinem zweiten Wettbewerbsbeitrag "Felicité" bestreitet die Titelheldin (gespielt von Véro Tshanda Beya) ihren Lebensunterhalt als Sängerin in einer Bar von Kinshasa. Als ihr Sohn nach einem schweren Unfall eine teure Operation benötigt, reicht ihr Geld aber nicht aus und sie muss auf die Unterstützung eines zwielichtigen Stammgastes ihrer Bar zurückgreifen.
War es zuletzt eher still um Romuald Karmakar geworden, wird es jetzt definitiv wieder laut: Der stets zwischen den Genres pendelnde Regisseur legt mit dem wunderbar betitelten "Denk ich an Deutschland in der Nacht" (Panorama) einen Dokumentarfilm über fünf prägende Figuren der Techno-Szene vor: Ricardo Villalobos, Sonja Moonear, Ata, Roman Flügel und Move D lassen sich beim Auflegen und bei der Arbeit im Studio beobachten. Gleichzeitig schauen sie zurück auf eine Musikrichtung, die sich in den Neunzigern zu einer Massenbewegung verdichtete, bevor sie, befeuert durch die Digitalisierung, in zahllose Microgenres zersplitterte.
Aus seinem Kurzfilm mit demselben Namen, der 2014 auf der Berlinale lief, hat der Australier Neil Triffett nun einen Spielfilm gemacht: "EMO the Musical" (Generation 14plus) erzählt mit kräftig ironischem Einschlag von zwei verliebten Teenagern, die nicht durch rivalisierende Familien, sondern durch inkompatiblen Musikgeschmack fast nicht zueinanderkommen. Ethan (Benson Jack Anthony) hängt düster-sentimentalem Emo an und spielt in der Band "Worst Day Ever", Trinity (Jordan Hare) singt Erbauliches in einer christlichen Jugendgruppe. Sind sie, ist die Welt reif für das ungleiche Paar?
DREI MAL LIEBE ZWISCHEN MÄNNERN

von links: "Call Me by Your Name", "Dream Boat", "Der junge Karl Marx"
Foto: Sony Pictures Classics ; Gebrueder Beetz Filmproduktion; Kris Dewitte / BerlinaleIrgendwie hat es der Italiener Luca Guadignino geschafft, zwischen seinem Remake von "Swimmingpool" und seinem Remake von "Suspiria" einen Film zu machen, für den er seit der Premiere in Sundance so gefeiert wird wie kaum sonst in seiner Karriere: "Call Me by Your Name" (Panorama) ist die schwelgerische Adaption des gleichnamigen Romans von André Aciman, in der sich der 17-jährige Elio (Timothée Chalamet) unverhofft in den Studenten Oliver (Armie Hammer) verliebt. Der verbringt auf Einladung von Elios Vater, einem Archäologieprofessor, den Sommer im herrschaftlichen Anwesen der Familie in der Lombardei. Schwer zu sagen, was an diesem Film betörender ist: das Setting, die Chemie zwischen den zwei Hauptdarstellern oder der Einsatz des Psychedelic-Furs-Song "Love My Way".
Nichts dem Zufall überlassen wollen hingegen die Männer liebenden Männer in Tristan Ferland Milewskis Dokumentarfilm "Dream Boat" (Panorama): Eine Woche lang fahren sie mit ausschließlich anderen Schwulen auf Kreuzfahrt. Für manche aus der globalen Reisegesellschaft sind die Tage an Bord mit den allabendlichen Partys vergnügliche Ablenkung, für andere, die aus homophoben Ländern wie Indien oder Palästina stammen, sind sie die einzige Zeit, in der sie sorglos ihre Sexualität ausleben können. Gemeinsam feiert man eine Utopie, sieben Tage lang auf See.
Auch wenn er ihren Frauen Jenny Marx und Mary Burns gebührlich Platz einräumt, kann Raoul Peck nichts daran ändern, dass in seinem Spielfilm "Der junge Karl Marx" (Special) eine Beziehung alle anderen überschattet: die zwischen Karl Marx und Friedrich Engels. August Diehl und Stefan Konarske spielen die jungen Revolutionäre mit den so unterschiedlichen Lebensläufen, die sich im Pariser Exil begegnen und dort zu ihrer gemeinsamen Vision und Sprache von einer gerechteren Welt finden. Kurz vor den Umbrüchen von 1848 endet der Film. Was von Marx, Engels und ihrer einmaligen Zusammenarbeit übrig geblieben ist, wirft Peck als Frage ans Publikum zurück.
DREI MAL BÄRENGEWINNER

Von links: "Ana, mon amour", "On the Road", "Acht Stunden sind kein Tag"
Foto: Rainer Werner Fassbinder Foundation/ BerlinaleEinen Aufbruch im rumänischen Kino hat Calin Peter Netzer nach seinem Bärentriumph 2013 mit "Mutter und Sohn" gefordert, eine Abkehr vom Neo-Realismus, der nur Ceaucescu und Korruption als Filmstoff kennt. Mit seinem Nachfolgerfilm kann Netzer nun unter Beweis stellen, ob ihm dieser Aufbruch selber gelungen ist. In "Ana, mon amour" (Wettbewerb) seziert er die Psychodynamik eines jungen Paares, bei dem das Unglück des einen das Glück des anderen ist. Mit Mircea Postelnicu und Diana Cavallioti in den Hauptrollen.
Von der Bärengala zur Jugendreihe-Eröffnung: Zwischen Michael Winterbottoms Auszeichnung für das Flüchtlingsdrama "In this World" im Jahr 2002 und der Premiere seiner Musikdoku "On the Road" als Eröffnungsfilm der Sektion Generation 2017 scheinen prestigemäßig Welten zu liegen. Doch der Freitagabend im Haus der Kulturen der Welt, mit dem traditionell die Generation 14plus beginnt, gehört zu den schönsten fixen Terminen der Berlinale: Mit großer Neugier und Begeisterungsfähigkeit lassen sich die Jugendlichen auf die Filme ein. Schwer vorstellbar, dass sie von Winterbottoms experimentellem Doku-Porträt der Rockband Wolf Alice enttäuscht sein werden.
Sogenannte Qualitätsserien haben mittlerweile einen festen Platz auf den großen Filmfestivals - auch wenn sie meist wenige Monate später im Fernsehen laufen. Bei neuen Produktionen wie "4 Blocks" und "Same Sky", die auf der Berlinale als Specials gezeigt werden, ist das nicht anders. Ausgerechnet die Serie eines Bärengewinners und eines der berühmtesten deutschen Regisseure überhaupt ist aber nur auf der Berlinale zu sehen: Rainer Werner Fassbinders "Acht Stunden sind kein Tag" läuft erstmalig in der restaurierten Fassung. Die fünf Teile sind, neben Screenings in der Volksbühne und im Cinemaxx, auch in der Mediathek Fernsehen der Deutschen Kinemathek am Potsdamer Platz zu sehen, zwei Diskussionsrunden am 13. Februar in der Kinemathek beschäftigen sich außerdem mit Geschichte und Erbe der Serie.
DREI MAL ANIMATION

Von links: "Hao ji le", "My Entire High School Sinking into the Sea", "Ghost in the Shell"
Foto: Tides High; Masamune Shirow, Kodansha, Bandai Visual, Manga Entertainment/ BerlinaleSchwerer als der Dokumentarfilm hat es eigentlich nur der Animationsfilm auf den A-Festivals. Disney-Pixar-Produktionen werden wegen ihres Publikumsappeals noch gern eingeladen, jenseits der großen Studios sieht es jedoch düster aus. Auch auf der Berlinale konnte bislang nur ein einziges Mal ein Zeichentrickfilm den Goldenen Bären gewinnen: Hayao Miyazakis "Chihiros Reise ins Zauberland". 2017 besteht zumindest die Option, dass sich das ändert. "Hao ji le", eine animierte Neo-Noir-Komödie um Habgier und Gangstertum im modernen China, hat es in den Wettbewerb geschafft. Da chinesische Genrefilme hier nicht schlecht fahren - siehe der Bärengewinn von "Feuerwerk am helllichten Tag" 2014 - stehen die Chancen von Regisseur Liu Jian gar nicht so schlecht.
Wer Zeichentrickfilme dennoch weiterhin für Kinderkram hält, wird sogar bei der Kinder- und Jugendsektion der Berlinale eines besseren belehrt: "My Entire High School Sinking into the Sea" (Generation 14plus) gehört sicherlich zu den wildesten, experimentierfreudigsten des Festivals. In seinem Debütfilm erzählt Comiczeichner Dash Shaw von zwei pubertierenden Freunden, die auf sehr unterschiedliche Weise damit umgehen, dass sie in der Schule nicht besonders beliebt sind. Dann setzte Shaw aber auch schon um, was der Titel verspricht: Die Highschool der Beiden versinkt im Meer, Überleben alles andere als gesichert. Lena Dunham und Jason Schwartzman geben den Hauptfiguren ihre Stimme, die Show stiehlt ihnen aber Susan Sarandon als Kantinenkraft Lunch Lady Lorraine.
Bevor am 30. März die Realfilm-Version des Mangas "Ghost in the Shell" in die deutschen Kinos kommt und die Diskussion darüber wieder losgeht, ob es wirklich Scarlett Johansson für die sehr japanische Hauptrolle gebraucht hat, zeigt die Berlinale die Anime-Version von Mamoru Oshii aus dem Jahr 1995. Damals erhielt "Ghost in the Shell" keinen Kinostart in Deutschland, heute gilt er als einer der einflussreichsten Science-Fiction-Filme und ist seine prominente Platzierung in der diesjährigen Retrospektive zum Thema "Future Imperfect. Science · Fiction · Film" neben Filmen wie "War of the Worlds" oder "Blade Runner" umso verdienter.
Das vollständige Programm finden Sie hier . Ab Donnerstag berichtet SPIEGEL ONLINE täglich von der Berlinale