Berlinale-Tagebuch Erst leblos, dann tot


Nach dem fulminanten Auftakt der Berlinale musste es wohl so kommen. Das Wetter wird mieser, die Filme lassen nach, und die Journalisten fangen an zu riechen. Man fragt sich, warum so viele Filmkritiker Probleme mit der Körperpflege haben.
Gut, es gibt Kollegen, die großen Wert auf Hygiene legen, die alle fünf Tage die Unterwäsche wechseln und jeden Abend im Kino die Schuhe ausziehen, um die Socken ordentlich auszulüften. Doch nicht jeder ist so umsichtig. Wie wäre es, wenn Dieter Kosslick der Journaille frische T-Shirts statt der traditionellen Berlinale-Tasche spendieren würde? Das wäre ein Anfang.
Man muss allerdings zugeben, dass der schlechte Geruch ganz gut zu dem chinesischen Wettbewerbsbeitrag "Chang Jiang Tu" von Yan Chao passte. Denn der Film spielt auf einem maroden und muffigen Lastkahn, der durch die trüben Fluten des Jangtsekiang dümpelt. Der junge Kapitän Gao (Qin Hao) muss zum einen dafür sorgen, dass die Seele seines verstorbenen Vaters Frieden findet, zum anderen sucht er eine Frau. Da Frauen in China rarer sind als in anderen Ländern (als Folge der Einkindpolitik), dauert die Suche etwas länger. Gao fährt den sehr, sehr langen Fluss immer weiter hoch.
Für diesen Film braucht man vermutlich eine große Leidenschaft für Binnenschifffahrt. Es kommt hinzu, dass der Regisseur dem Kutter des Helden viel bedeutungsschweren Symbolismus auflädt. Es werden die Verse eines unbekannten Dichters zitiert, es raunt von Ufer zu Ufer, eine mysteriöse Flussjungfrau taucht auf und wieder ab. Man ahnt, es geht um die Suche nach Identität und Heimat. Eine Zeitlang ist das durchaus faszinierend, doch bald verliert sich der Film in Wiederholungen des Immergleichen. Am Ende fühlen sich die Zuschauer, als wären sie den Jangtsekiang bis zur Quelle gerudert.
Europa - Hotel oder Pudding?
An Symbolen herrscht auch in Danis Tanovics Film "Smrt u Sarajevu" ("Tod in Sarajevo") kein Mangel. Der Film spielt im Sommer 2014 in der bosnischen Hauptstadt, im "Hotel Europa", das natürlich nicht umsonst so heißt. Auf der Berlinale-Pressekonferenz zu dem Film war viel von politischer Architektur und wackligen Fundamenten die Rede. Wenn die Hotelangestellten im Film über die Flure eilen, steht viel auf dem Spiel. Sie sind rund um die Uhr damit beschäftigt, einen Empfang zum 100. Jahrestag des Attentats von Sarajevo vorzubereiten, das als Auslöser für den Ersten Weltkrieg gilt. Tanovic packt sein Hotel vom Keller bis aufs Dach voll mit hundert Jahren europäischer Geschichte.
Unten in der Wäscherei wird der Aufstand geplant. Die Hotelangestellten wollen streiken, weil sie seit zwei Monaten nicht bezahlt worden sind. Es bleibt aber etwas unklar, was das mit dem Streitgespräch zu tun hat, das eine bosnische Journalistin auf der Dachterrasse mit einem serbischen Wutbürger führt, oder mit dem französischen Laberkopf, der in seiner Suite an seiner Rede feilt. Klar, irgendwie hängt alles mit allem zusammen. Aber wie? Man gewinnt mehr und mehr den Eindruck, dass Tanovic das Hotel als Symbol überfordert. Weil in der Politik dann doch alles komplizierter ist, weil zum Beispiel gerade niemand weiß, was Europa Stabilität verleihen könnte.
Wie schwer es ist, in Europa auf ästhetischer Ebene so etwas wie Einheit zu erreichen, zeigt "Jeder stirbt für sich allein", die jüngste Adaption des 1947 von Hans Fallada veröffentlichten Romans, der in jüngster Zeit zum Bestseller im angloamerikanischen Raum wurde. Ein deutscher Stoff, ein Schweizer Regisseur, ein britischer Star, ein irischer Star, eine internationale Kraftanstrengung. Der Ire Brendan Gleeson spielt den Berliner Schreiner Otto Quangel und spricht Englisch, während er deutsche Zeitungen liest. Er spricht auch Englisch, während er Postkarten auf Deutsch schreibt.
Otto und Anna Quangel (Emma Thompson) verlieren ihren einzigen Sohn im Frankreich-Feldzug. Daraufhin fängt Otto an, Postkarten zu schreiben, die zum Widerstand gegen das Nazi-Regime aufrufen, und diese heimlich in der Stadt auszulegen. Der Gestapo-Mann Escherich (Daniel Brühl) macht Jagd auf den anonymen Rebellen, obwohl sich weit und breit kein Widerstand regt. Im Gegenteil, ordentliche Deutsche bringen die Postkarten brav zur Polizei. Der Film hat, könnte man sagen, eine ziemlich deprimierende Prämisse.
Weil es erstaunlich lange dauert, bis Escherich Otto auf die Spur kommt, hat der Film auch ein echtes Spannungsproblem. Ottos Kampf bringt nichts, doch akute Gefahr droht ihm erst mal auch nicht. Leider filmt Regisseur Vincent Perez die Geschichte über weite Strecken so brav wie ein adrettes Kostümdrama, ständig muss die aufgedonnerte Musik von Alexandre Desplat künstlich Dramatik erzeugen. Emma Thompson, Brendan Gleeson und Daniel Brühl sind allesamt großartige Schauspieler. Leider bekommen sie in diesem Film viel zu wenig Gelegenheit, ihre Figuren mit Leben zu füllen.
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Otto Quangel (Brendan Gleesonr.) kämpft in der Fallada-Verfilmung "Jeder stirbt für sich allein" mit selbstgeschriebenen Postkarten gegen das Nazi-Regime an. Lange Zeit kann er sich dem Zugriff der Gestapo entziehen, dann kommt ihm Escherich (Daniel Brühl) auf die Spur.
Den Jangtse bis zu seiner Quelle hoch fährt Gao Chun (Qin Hao) im chinesischen Wettbewerbsfilm "Chang Jiang Tu". Die Fahrt wird zur Reise in den Schmerz, da Chun um seinen Vater trauert, doch sie wird auch zu einer Reise in die geschichtsdurchtränkte Gegenwart Chinas.
Und im Keller regieren die Ganoven: Bei Tageslicht besehen, scheint Omer (Izudin Bajrovic) ein renommiertes Hotel zu führen. Doch in "Tod in Sarajevo" von Danis Tanovic ist jeder Selbstinszenierung - wie jeder offiziellen Geschichtschreibung - auch zu misstrauen.
In "24 Wochen", dem deutschen Wettbewerbsbeitrag von Anne Zohra Berrached, erfahren die schwangere Astrid (Julia Jentsch) und ihr Mann Markus (Bjarne Mädel), dass ihr Kind mit Down-Syndrom zur Welt kommen wird.
Während die beiden Eltern schnell zu dem Entschluss kommen, dass sie das Kind haben wollen, ist ihre Tochter Nele (Emilia Pieske) von der Vorstellung überfordert, ein behindertes Geschwisterchen zu bekommen.
Zumindest Mutter Beate (Johanne Gastdorf) steht hinter der Entscheidung ihrer Tochter.
Doch als die Ärzte feststellen, dass das Kind auch noch einen schweren Herzfehler hat, gerät Astrid ins Zweifeln - plötzlich ist eine Spätabtreibung doch eine Option für sie.
Als Tom (Corentin Fila) in das Leben der Familie von Marianne (Sandrine Kiberlain) tritt, verändert sich die Dynamik zwischen allen - nicht zuletzt zwischen Tom und Mariannes Sohn Damien, der gerade seine Homosexualität entdeckt. Eine rasant erzählte Coming-of-Age-Geschichte von André Téchiné.
In "Cartas das Guerra" nimmt Ivo M. Ferreira die Liebesbriefe des portugiesischen Schriftstellers António Lobo Antunes, die dieser während seines Einsatzes im Angola-Krieg 1971 an seine schwangere Frau schrieb, als Grundlage für einen poetischen Filmessay über die Sehnsucht.
Was für ein Alltag ist auf Lampedusa möglich? Gianfranco Rosi erzählt es in seinem Dokumentarfilm "Fuocoammare" anhand des Lebens des zwölfjährigen Samuele, der auf der Insel geboren wurde und dort bei seinem Vater aufwächst.
Kaum eine Szene ohne Isabelle Huppert gibt es in "L'Avenir" von Mia Hansen-Love. Der Film folgt der Philosophielehrerin über mehrere Jahre. Nathalie muss zulassen, dass ihr Leben immer stärker von den Umständen und nicht von der Philosophie bestimmt ist. Kann sie damit umgehen? (mit im Bild: Roman Kolinka)
Im Mittelpunkt von "Midnight Special" von Jeff Nichols steht der 8-jährige Alton (Jaeden Lieberher), der scheinbar kein Tageslicht sehen darf.
Von den Komplizen Roy und Lucas (Michael Shannon, links, und Joel Edgerton) entführt, wird der Junge bald landesweit gesucht.
Was es besonderes mit dem Jungen auf sich hat, kann selbst seine Mutter Sarah (Kirsten Dunst) nur erahnen.
Sarah und Roy geben alles, um Alton vor FBI und NSA zu schützen. Doch kann er jemals auf der Erde sicher sein?
In Denis Côtés Wettbewerbsfilm "Boris sans Béatrice" muss sich der erfolgreiche Unternehmer Boris (James Hyndman) damit arrangieren, dass seine Frau unter schweren Depressionen leidet. Er sucht Ablenkung bei seiner Geliebten Helga (Dounia Sichov), doch das macht die Situation noch schlimmer.
"Hedi" von Mohamed Ben Attia ist der tunesische Beitrag im Wettbewerb. Majd Mastoura ist der Titelheld, dem kurz vor seiner Hochzeit, durch die Begegnung mit Tänzerin Rim (Rym Ben Messaud) Zweifel kommen, ob er mit seinem Leben das Richtige anstellt.
Als Fixer des Filmstudios Capital Pictures hat Eddie Mannix (Josh Brolin) im Eröffnungsfilm "Hail, Caesar!" von den Coen-Brüdern kaum eine Minute Ruhe.
Als Baird Whitlock (George Clooney), der Hauptdarsteller des neuen Capitol-Blockbusters "Hail, Caesar!", entführt wird, kommt aber sogar Eddie Mannix ins Schwitzen.
In den Capitol-Studios hat DeeAnna Moran (Scarlett Johansson) derweil Mühe, noch in ihr Meerjungfrauenkostüm zu passen. Sie ist schwanger und braucht dringend einen Ehemann, damit ihre Karriere nicht zugrunde geht.
Mit einem orangefarbenen Chevrolet in der Wüste und einem umwerfend gut aussehenden Kommissar (Amir Jadidi, links) am Steuer beginnt der furiose Genre-Cut-up von "Ejheda Vared Mishavad!"(Wettbewerb) des Iraners Mani Haghighi. Es soll der 22. Januar 1965 sein, der iranische Premierminister ist soeben erschossen worden, einer der vielen politischen Gefangenen, die in die tiefsten Weiten Irans verbannt wurden, hat sich in einem verlassenen Schiff aufgehängt. Kaum hat der Kommissar die seltsame Behausung zu untersuchen begonnen, erschüttert ein Erdbeben das Schiff. Oder ist doch die Prophezeiung des Bauern eingetroffen, dass sich der Schlund der Erde öffnet, wenn ein Mensch begraben wird? Im Sprung zwischen den Ebenen und den Zeiten setzt sich langsam ein psychedelisches Puzzle der iranischen Vor-Revolutionsperiode zusammen. Paranoia liegt in der Luft, und auch der schöne Kommissar atmet sie tief ein - bis er, wie die Zuschauer auch, von Haghighis strahlend buntem Bilderstrudel in den Abgrund gerissen wird. Hannah Pilarczyk
Wir hatten schon vorab vermutet, dass Anja Plaschg in "Die Geträumten" (Forum) toll sein würde. Doch das ist nur ein Viertel der Wahrheit. Ohne ihren männlichen Gegenpart Laurence Rupp, das dramaturgisch überaus exakte Drehbuch von Ruth Beckermann und Ina Hartwig und nicht zuletzt Beckermanns kluge Inszenierung wäre dieses Genre-sprengende Kunstwerk nicht möglich. In einem Hörfunkstudio lesen Plaschg und Rupp im Wechsel die Liebesbriefe von Ingeborg Bachmann und Paul Celan vor. Unterbrochen sind die Lesungen von Szenen aus den Pausen, in denen sich Rupp und Plaschg platonisch annähern. Sie werden zu Resonanzkörpern für die Texte, als fernes Echo wiederholt sich zwischen ihnen das komplizierte Geflecht von künstlerischer und persönlicher Beziehung, das auch Celans und Bachmanns Beziehung so einzigartig machte. Hannah Pilarczyk
Roman Polanski hat es mit "Rosemary's Baby" 1968 vorgemacht: Eine schwangere Frau wähnt sich von einem Satanskult verfolgt, und es bleibt bis kurz vor dem Abspann unklar, ob Rosemary sich das alles einbildet oder nicht. David Farrs Filmdebüt "The Ones Below" (Panorma) nimmt den Ball von Polanski auf, schon die Titelmusik ist eine direkte Reminiszenz an das große Vorbild. Der subtile Psychothriller erzählt von einer jungen Mutter (großartig gespielt von Clémence Poésy), die den Verdacht hegt, ihre Nachbarn würden sich an ihrem neugeborenen Sohn vergreifen wollen. Dauergeschrei und Schlafentzug tun ihr übriges, Kates Wahrnehmung und eine andere haben wir über weite Strecken des Films nicht wird unzuverlässig. Bis kurz vor Schluss liegt die Entscheidung, ob man ihre zunehmende Angst als berechtigte Sorge oder als Paranoia sieht, beim Zuschauer. Die Auflösung aber ist dann schmerzvoll eindeutig. Benjamin Moldenhauer
Ja, man muss Lav Diaz' achtstündigen Film "Hela Sa Hiwagang Hapis" (Wettbewerb) wirklich von Anfang bis Ende ansehen, um diesem kunstvoll verschachtelten, zwischen Krimi, Phantasterei, Mythologie und echter Historie changierenden Film auf die Spur zu kommen - eine Suche nach der philippinischen Seele, wie eine der Hauptfiguren in ihrem Schlussmonolog offenbart. Nach und nach ergibt sich so ein Kunstfilm-Puzzle, bei dem man mal der einem Roman von José Rizal entnommenen Handlung um die Studenten Isagani und Basilio sowie dem verräterischen Geschäftsmann Simuon und dem schurkischen Capitan General des spanischen Regimes folgt, die meiste Zeit aber mit einer Gruppe Frauen durch den Urwald streift, auf der Suche nach Bonifacios Leichnam, dem Revolutionsführer. Diaz bezeichnet seine Filme übrigens gerne als Zen-Übung. Andreas Borcholte
Der 19-jährige Brad (Ben Schnetzer, links) wird von zwei Männern zusammengeschlagen und ausgeraubt. Physisch wieder hergestellt, aber psychisch lädiert, besucht er wenig später nicht nur dasselbe College wie sein älterer Bruder (Nick Jonas), sondern auch dieselbe Studentenverbindung. Wer hier mitmachen will, muss leiden: Der junge Regisseur Andrew Neel verwendet viel Zeit darauf, das Aufnahmeritual zu schildern. Die Kandidaten werden gedemütigt und malträtiert, Neel zitiert die Folterbilder aus Guantanamo und Pasolinis "Die 120 Tage von Sodom". Im Zentrum des von James Franco produzierten Films steht Brads Versuch, die Traumatisierung durch den Raubüberfall mittels eines bewusst gesuchten Gewaltrituals wieder aus seinem Körper herauszubekommen: Männlich sein heißt, das alles auszuhalten. "Goat" (Panorama) hat eine massive Wucht und macht klar, dass so ein Versuch nur scheitern kann. Benjamin Moldenhauer
Für eine effektive Dystopie muss man nur konsequent zu Ende denken, was in der Gegenwart als Möglichkeit enthalten ist. In der finsteren Zukunft der australisch-neuseeländischen Serie "Cleverman" ist die Gettoisierung abgeschlossen und die Gesellschaft in "Humans" und "Subhumans" unterteilt. Letztere, auch "Hairies" genannt, sind am massiven Haarwuchs zu erkennen und werden gezwungen in einer abgeriegelten Zone zu leben. Die Serie nimmt den Ball von "True Blood" auf: Etablierte verfolgen Außenseiter, und zwischen den Welten wandern die Grenzgänger. Hier aber ist die Welt ins Totalitäre gekippt, die "Subhumans" werden deportiert und gefoltert. Das Gesellschaftsbild, das entsteht, ist komplex, und es bleibt abzuwarten, ob "Cleverman" sich in seinen zahlreichen Verästelungen nicht doch noch verliert. Der Auftakt jedenfalls ist furios. Benjamin Moldenhauer
Kein einziges schönes Bild gestehen der chinesische Regisseur Yang Chao und sein Kameramann Mark Lee Ping-Bing in "Chang Jiang Tu" dem Jangtse-Fluss zu. Ausgestellte Pixeligkeit nimmt der Landschaft den Pathos, Rost und Verfall von Häfen und Schiffen werden betont. Und trotzdem ist die mehrwöchige Fahrt, die der junge Kapitän (Qin Hao) bis zur Quelle des Jangtse unternimmt, eindrücklich und ergreifend wie nur weniges im Wettbewerb. Über die Bilder legen sich Liebesgedichte, die als Text eingeblendet werden, gleichzeitig dringen von unten Politik und Geschichte Chinas an die Oberfläche etwa als das Schiff die gigantische Drei-Schluchten-Talsperre durchquert, für deren Bau über eine Million Menschen zwangsumgesiedelt wurde. So entstehen Bilder, die flüchtig und für die Ewigkeit zugleich sind. Hannah Pilarczyk
Filme über Armut scheitern oft an ihrem anmaßenden Blick von außen. Maximilian Feldmann, Absolvent der Ludwigsburger Filmakademie, und Luise Schröder machen es besser. Ihr Diplomfilm ist ein rührend warmherziger, nicht aber verklärender 51-Minüter aus Europas größter Roma-Siedlung am Rande der mazedonischen Hauptstadt Skopje. Der Trick dabei: Die Filmemacher lassen die zehnjährige "Valentina" erzählen, ein hellwaches Mädchen mit schlitzohrigem Witz. Sie selbst stellt ihre zwölfköpfige Familie vor, erzählt von drei Schwestern, die ins Heim gesteckt wurden, vom Alltag in der kargen Einzimmerhütte, auf Müllhalden, wo man nach Verwertbarem sucht, und beim Betteln auf der Straße. In Schwarzweiß-Bilder gebannt, entsteht so ein erstaunlich lebensfrohes Bild einer nicht sehr fernen, doch fremden Welt. Kaspar Heinrich
Irgendetwas stimmt nicht mit diesem Deutschen namens "Liebmann" (Perspektive deutsches Kino). Gerade erst hat er (Godehard Giese) seinen Urlaub in einem französischen Dorf begonnen, doch er kommt nicht recht zur Ruhe, ist fahrig und angespannt. Die Essenseinladung der Nachbarn nimmt er nur widerwillig an, persönlichen Fragen weicht er aus. Zu schlafen scheint er gar nicht, hört stattdessen nächtelang Radio und betrinkt sich. Die Frage, was dieser Mann wohl verbergen will, stellt sich mit steigender Dringlichkeit. Hat er etwas mit den Toten zu tun, die seit einiger Zeit in einem nahe gelegenen Waldstück gefunden werden? Und warum legen sich immer wieder Farbfilter auf die Bilder? In ihrem verhalten erzählten Langfilmdebüt spielt Jules Herrmann geschickt mit dem Kopfkino des Zuschauers und hält so die Neugier bis zur finalen Auflösung wach. Kaspar Heinrich
Griechische Komödie als HipHop-Musical: Spike Lees "Chi-Raq" (Wettbewerb, außer Konkurrenz) ist eine Art "West Side Story" für die Rap-Generation, die beherzt für Liebe, Humanismus und Gerechtigkeit plädiert und gleichzeitig so fett, dynamisch und groovy wie ein Club-Track wirkt. Als Folie dient die Geschichte der Lysistrata. Bei Lee ist diese antike Powerfrau eine foxy lady (Teyonah Parris), die ihrem Lover, dem Rapper und Gang-Leader Chi-Raq (Nick Cannon), Sex verweigert und ihre Sisters in Chicagos Southside auffordert, es ihr gleich zu tun: "No peace, no pussy!" Auch Anklagen gegen Rassismus und Polizeibrutalität werden effektvoll platziert, im Vordergrund steht aber der Impetus, dass die schwarze Gemeinschaft sich solidarisieren muss, um die Abwärtsspirale der Gewalt zu durchbrechen. Es wird gesungen und lasziv getanzt, dass es nur so knistert - und die gereimten Dialoge ergeben ein faszinierendes Hybrid aus klassischer Dichtung und Rap. So fiebrig, unterhaltsam und humorvoll, dass man glatt an Lees Utopie glauben möchte. Andreas Borcholte
Der älteste Regisseur im Wettbewerb legt den besten Film über junge Leute vor: In "Quand on a 17 ans" verbinden sich die dynamische Inszenierungsart des 72-jährigen André Téchiné mit dem großartigen Gespür seiner Co-Autorin Céline Sciamma ("Girldhood") für das, was in den Köpfen und in den Körpern junger Menschen vorgeht, zu einer mitreißenden Erzählung. Vor schroffer südfranzösischer Berglandschaft, die die sinnlich-physischen Qualitäten der Geschichte verstärkt, begegnen sich die Mitschüler Tom (Corentin Fila, im Bild) und Damien. Freunde, Verliebte, Rivalen um die Gunst von Damiens Mutter (Sandrine Kiberlain)? Bei Téchiné und Sciamma darf jede Figur mal das eine, mal das andere und mal einfach alles auf einmal sein. Ein Film, der vor Leben birst. Hannah Pilarczyk
"Ich bin bereit für die Mutterschaft!", erklärt die Mittdreißigerin Maggie ihren Freunden und Freundinnen in New York. Einen Mann braucht sie dafür nicht, es reicht ein Samenspender, der in ihrem Freundeskreis auch schnell gefunden ist. Doch als sie gerade zur Tat schreitet, steht ein Mann in ihrer Tür, der angetan ist, ihre negative Auffassung von langfristigen Bindungen zu erschüttern. Ethan Hawke hat dafür das Potenzial, keine Frage, aber wer Greta Gerwigs Figuren aus ihren Filmen mit Noah Baumbach (zuletzt "Mistress America") gesehen hat, weiß nicht so recht, ob er ihr die Idee der Mutterschaft abnehmen soll. Das verleiht"Maggies Plan" (Panorama) seine Spannung und Komik, mehr als die Tatsache, dass Hawkes Ehefrau von Julianne Moore mit skandinavischem Akzent hart an der Grenze zur Karikatur gespielt wird. Frank Arnold
Bilder von einer Rettungsaktion vor Lampedusa gibt es in Gianfranco Rosis Wettbewerbsfilm "Fuocoammare", Bilder von Toten gibt es auch. Sie sind eindringlich, sie sind unmittelbar. Doch sie kommen viel später, als man es von einem Dokumentarfilm über die italienische Insel erwartete, die über die letzten Jahre hinweg zum Anlaufpunkt von rund 400.000 Flüchtlingen wurde. Samuele, ein zwölfjähriger italienischer Junge, steht stattdessen im Mittelpunkt, und mit ihm entfaltet sich das Drama der Flüchtlingskrise darin auf so kluge Weise neu, dass sich Rosi mit "Fuocoammare" umstandslos in den Favoritenstatus für den Goldenen Bären 2016 katapultiert. Rosis brillante Bilder, die weder bei Nacht noch unter Wasser an Klarheit einbüßen, machen deutlich, dass dieser Film nicht nur inhaltlich, sondern auch ästhetisch zwingend ist. Hannah Pilarczyk
"Wer ist Oda Jaune?" fragt Kamilla Pfeffers Dokumentarfilm (Perspektive deutsches Kino), und er begnügt sich nicht mit der Antwort: "die Witwe von Jörg Immendorff". Dessen Name fällt spät, denn längst hat sich die 1979 in Sofia geborene Jaune selbst in der Kunstwelt etabliert, als Schöpferin verrätselter, mitunter verstörender Gemälde voller Symbolkraft. Die Faszination des Films liegt im krassen Gegensatz zwischen der drastischen Körperlichkeit dieser Werke und dem ätherischen Wesen der Malerin. In Interviewsequenzen haucht sie ihre Sätze, strahlt dazu ein kindliches Lächeln in die Kamera. Dass viel Angst in ihrem Werk steckt, vermutet derweil ihr Galerist. Zu Wort kommen auch bekennende Jaune-Fans wie Lars Eidinger oder Thomas Ostermeier sowie Jonathan Meese. Für ihn ist Oda Jaune so gar nicht leise, sondern vielmehr laut - "in der Kunst." Kaspar Heinrich
Es war die große Liebe, die Mario Röllig zur versuchten Republikflucht veranlasste die Liebe zu einem Mann aus dem Westen. Doch der Versuch endete 1987 an einem ungarischen Grenzzaun. Zwei Jahre später aus der DDR-Haft von der Bundesrepublik freigekauft, erlebte er in Berlin (West) eine herbe Enttäuschung, denn der Angebetete präsentierte sich hier als treusorgender Ehemann und Vater einer Familie, die von seinem Doppelleben nichts wusste. 25 Jahre später kann Röllig davon mit einem Lächeln erzählen. Er ist inzwischen Mitglied der CDU, wo er wegen seiner sexuellen Orientierung entsprechende Kämpfe auszufechten hat. Als Vortragender vor Schulklassen oder in der Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen hält er die Erinnerung an DDR-Unrecht lebendig, das führt ihn einmal sogar zu einem Auftritt in den USA, wo er sich mit seinem wenig diskussionsfreudigen Parteikollegen Kurt Biedenkopf konfrontiert sieht eine der stärksten Szenen in Jochen Hicks Porträtfilm "Der Ost-Komplex"(Panorama), der ganz von seinem einzigartigen Protagonisten lebt. Frank Arnold
Die Filmgeschichte kennt Dutzende korrupte Cops, aber die zwei hier spielen in der allerersten Liga: Bob (Michael Peña) und Terry (Alexander Skarsgård) saufen ab Dienstbeginn, beleidigen Kollegen, überfahren Verdächtige, schieben Informanten Koks unter und ziehen es sich dann gleich vor Ort durch die Nase. "War on Everyone" (Panorama) setzt auf hohe Reizdichte und erzählt von Anfang an in Hochgeschwindigkeit. Der sehr, sehr aggressive Humor funktioniert so gut, weil der Film voller Elan über der Meta-Ebene kurvt: Regisseur John Michael McDonagh zitiert sich einmal quer die Geschichte der Buddy Movies. Gegen Ende verdüstert es sich, aber die erschütternde Wucht von Calvary, McDonaghs vorangegangenen Film, bleibt aus. Trotzdem aller Voraussicht nach einer der der unterhaltsamsten Filme der 66. Berlinale. Benjamin Moldenhauer
Eine junge Frau im Prag der Siebziger Jahre kommt der Welt mehr und mehr abhanden. Die erdrückend gefühlskalte Mutter verschreibt Medikamente, in der Jugendpsychiatrie kommt es zu gewalttätigen Übergriffen. Nach ihrer Entlassung zieht sich Olga Hepranová (großartig: Michalina Olszanska) in eine einsame Hütte zurück. Bald geht es mit zunehmender Geschwindigkeit Richtung Abgrund. "Ich bin eine Psychopathin, aber eine erleuchtete", sagt Olga. "Es kommt die Zeit, da werdet ihr für euer Gelächter und für meine Tränen büßen müssen." Die Regisseure Petr Kazda und Tomás Weinreb haben den realen Fall, der ihrem Spielfilmdebüt zugrundeliegt, detailliert recherchiert. "Já, Olga Hepnarová" (Panorama) kommt seiner Figur in präzise komponierten Schwarzweißeinstellungen unheimlich nahe und vermeidet zugleich jede eindeutige Diagnose. Zurück bleibt eine unerwartet heftige Beklemmung. Benjamin Moldenhauer
Gleich mehrfach lockt "Midnight Special" (Wettbewerb) den Zuschauer auf die falsche Fährte: Zunächst wähnt man sich in einem klassischen Roadmovie, denn der kleine Alton Meyer (Jaeden Lieberher) wurde entführt, die Bevölkerung von Texas wird in den TV-Nachrichten aufgefordert, nach dem Jungen Ausschau zu halten. Schnell wird jedoch klar, dass der Kidnapper der leibliche Vater ist und der Kleine übersinnliche Fähigkeiten besitzt. Mutant, Megawaffe oder Messias? Was ist dieser Alton, der aus seinen Augen helles Licht gleißen lassen kann? Und wer will hier eigentlich das Richtige? Autor und Regisseur Jeff Nichols kann packende Action ebenso sicher inszenieren wie die überraschenden Sci-Fi-Schauwerte im letzten Akt und das gefühlvoll-intime Zusammenspiel seiner durchweg großartigen Darsteller. Andreas Borcholte
Mike ist einer dieser Menschen, die man an den Schultern greifen und seine Trägheit aus ihm herausschütteln möchte. Ambitionen kennt er nicht, ihm reicht die Arbeit als Pizzabote, lädt man ihn zu einer Party ein, so steht er da stumm und reglos in der Ecke, zwischendurch trottet er mit hängenden Schultern durch die winterlichen Straßen von New York. Wird alles anders, als er für einen ehemaligen Schulfreund zeitweise dessen Wohnung und Job als Stadtführer in Philadelphia übernimmt? Soll man lachen oder weinen, wenn er sich mit einem Schlafplatz auf dem nackten Küchenfußboden begnügt? Die tragikomischen Ereignisse nehmen ihren (langsamen) Lauf. "Short Stay" (Forum) ist nach fünf Kürzestfilmen der erste (kurze) Langfilm des US-Indie-Filmemachers Ted Fendt. Er lädt den Zuschauer ein, in seiner minimalistischen Erzählweise den Reichtum der Details, der Sprechweisen und Gesten, oder auch die Körnigkeit des 16mm-Filmmaterials zu entdecken. Frank Arnold
Seine Vergangenheit ist ausgelöscht, als dem 30-jährigen Angestellten Tom eines Tages in der Londoner City ein Metallteil auf den Kopf fällt. Nach einer langen Genesungszeit plötzlich um 8,5 Millionen Pfund Abfindung reicher, nutzt er das Geld, um sein früheres Leben zu rekonstruieren. Dafür heuert er eine Reihe von Menschen an, die ihm Rituale des Alltags vorspielen, was oft zu absurden Situationen führt, zumal wenn Tom - wie ein exzentrischer Filmregisseur - dabei äußerste Präzision einfordert. Andererseits gibt es auch eine konkrete Bedrohung durch zwei Männer, die offenbar mehr wissen über Toms Vergangenheit und vor Mord nicht zurückschrecken. "Remainder" (Panorama), das Langfilmdebüt des Videokünstlers Omer Fast, basierend auf dem gleichnamigen Roman von Tom McCarthy (dt: "8 1/2 Millionen") ist ein ungewöhnlicher Psychothriller mit Zügen des Paranoiakinos. Der Regisseur ist bei der diesjährigen Berlinale außerdem mit dem gerade erst fertig gestellten "Continuity" in der Sektion Forum Expanded vertreten. Frank Arnold
Im tunesischen Wettbewerbsfilm "Hedi" erzählt Mohamed Ben Attia vom antriebslosen Handelsvertreters Hedi (Majd Mastoura), der kurz vor seiner Hochzeit auf Dienstreise in einem Badeort die lebenslustige Animateurin Rim (Rym Ben Messaoud) kennen - und feststellt, dass das Leben ja noch ganz andere Dimensionen haben kann: Freiheit! Abenteuer! Hedi muss sich nur noch zwischen Tradition und Moderne entscheiden. Wo genau das Glück und die richtige Zukunft liegt, das ist gar nicht so leicht zu erkennen. Und das gilt natürlich auch für Tunesien und die anderen Länder nach den Aufwallungen des Arabischen Frühlings. Die von der Berlinale stets betonte politische Dimension lässt sich wie eine Folie über diese unaufdringliche, aber konzentriert inszenierte Geschichte legen - man kann "Hedi" aber auch einfach als berührendes Männermelodram eines vielversprechenden neuen Regietalents genießen. Andreas Borcholte
"Wer ist Oda Jaune?" fragt Kamilla Pfeffers Dokumentarfilm, und er begnügt sich nicht mit der Antwort: "die Witwe von Jörg Immendorff". Dessen Name fällt spät, denn längst hat sich die 1979 in Sofia geborene Jaune selbst in der Kunstwelt etabliert, als Schöpferin verrätselter, mitunter verstörender Gemälde voller Symbolkraft. Die Faszination des Films liegt im krassen Gegensatz zwischen der drastischen Körperlichkeit dieser Werke und dem ätherischen Wesen der Malerin. In Interviewsequenzen haucht sie ihre Sätze, strahlt dazu ein kindliches Lächeln in die Kamera. Dass viel Angst in ihrem Werk steckt, vermutet derweil ihr Galerist. Zu Wort kommen auch bekennende Jaune-Fans wie Lars Eidinger oder Thomas Ostermeier sowie Jonathan Meese. Für ihn ist Oda Jaune so gar nicht leise, vielmehr laut. "In der Kunst." Kaspar Heinrich