Berlinale-Tagebuch Ach, wie lustig ist die Grundschule!

Welch ein Paar! Ein Muskelprotz schwängert in "Bam Gua Nat" Frauen in rekordverdächtiger Anzahl. Und Sally Hawkins peilt mit "Happy-Go-Lucky" den Silbernen Bären als beste Darstellerin an - sie lacht, kichert und scherzt, dass selbst der allerböseste Fahrlehrer weich wird.

Sie wären ein zauberhaftes Paar. Sung, ein Maler aus Südkorea, der nach einem Marihuana-Exzess nach Paris geflohen ist. Und Poppy, die Londoner Grundschullehrerin, die mit ihren 30 Jahren wohl noch nie eine Träne vergossen hat - außer vor Lachen.

Es gibt jedoch ein kleines, keineswegs unwesentliches Problem, das dem Traumpaar im Wege steht: Sie werden sich niemals kennenlernen. Sie sind die Helden zweier unterschiedlicher Wettbewerbs-Filme, die heute ihre Premiere feierten: "Bam Gua Nat" und "Happy-Go-Lucky". "Bam Gua Nat" schickt seinen Helden Sung (Kim Youngho) auf der Flucht vor der südkoreanischen Polizei nach Paris - mit einem Trolley, der so klein ist, als würde er einen 2-Tages-Ausflug in eine Blockhütte in der Nähe von Seoul machen und nicht die halbe Erde umrunden.

Sechs Wochen stromert er durch die fremde Stadt, haust in einem 10-Personen-Zimmer, telefoniert jede Nacht mit seiner weinenden Ehefrau. Anfangs weint er noch voller Heimweh mit - bis er Geschmack findet an gleich drei koreanischen Landsmänninnen, die es ebenfalls in die Fremde verschlagen hat. Sechs Wochen vergehen, bis er nach Korea zurückkehrt, in die Arme seiner rustikalen Ehefrau, die so gar nichts hat von dem mädchenhaften Charme seiner Liebhaberinnen in Paris. "Bam Gua Nat" endet mit einem Himmel voller Wolken - ein böses Omen.

Sung verkörpert einen ganz neuen Typ Mann: den Schwerenöterverschnitt. Schwerenöter, weil er sich von der ersten Sekunde an, als er sich mit einem Unterarm, stark wie eine pralle Salami, an Bauch und Kopf kratzt. Wieso hat eigentlich George Clooney diesen sagenhaften Ruf, Frauen nachhaltig zu erschüttern, wenn es Männer wie Sung gibt? Mit seinem jungenhaften Grinsen, seinen zwei Wechsel-T-Shirts und dem muskulösen Körper, der trotzdem immer irgendwie artig wirkt. Und noch ein Beweis für sein Schwerenötertum: Er ist von schier unglaublicher Potenz. Statt Toter je Filmminute wie in "Rambo" gilt es in "Bam Gua Nat" Schwangerschaften zu zählen; es sind mehr als sechs, vermutlich Berlinale-Rekord.

Doch war nicht die Rede vom Verschnitt? Ja, genau. Denn so richtig drauf hat er es nicht, seine Angebeteten zu erobern. Scheitert er doch schon allein daran, Kondome zu kaufen, weil er sich schämt, in der Drogerie vor einem halben Dutzend Frauen sein verheerendes Französisch auszuprobieren - klar, dass da die nächste Schwangerschaft naht.

Grundschullehrerin der Herzen

Poppy (Sally Hawkins) wiederum, die Hauptfigur in "Happy-Go-Lucky", würde diesem sexy Loser gewiss verfallen. Nach Cate Blanchett als von einer greisen Kollegin verfolgten Lehrkraft in "Notes on a Scandal" übernimmt Hawkins in diesem Jahr die Rolle der Grundschullehrerin der Herzen. Als kunterbunte Strahlefrau bringt Poppy ein ehernes Gesetz der Berlinale-Kritiker ins Wanken, das da lautet: "Wer zuerst lacht, hat verloren." Der Saal, in dem die Pressevorführung stattfand, bebte vor Gelächter.

Nein, erwachsen werden macht keinen Spaß, verströmt Poppy mit jeder Pore ihres modeschmuckklimpernden Körpers. Sie packt sich Hühnerfilets in den BH und absolviert ihre erste Flamenco-Stunde mit Grimassen, als gelte es, den Preis als bester Mr.-Bean-Imitator abzugreifen - statt den Silbernen Bären als beste Darstellerin, auf den sich Hawkins Hoffnung machen darf.

"Happy-Go-Lucky" - der Name ist also Programm, und je länger es nicht den geringsten Zweifel gibt, dass es Poppy an nichts fehlt, desto mehr wünscht man ihr fast einen Zwischenfall, der ein wenig, nur ein wenig Ernst in ihr Dasein bringen möge. Regisseur Mike Leigh schickt ihr diesen Ernst in Gestalt eines cholerischen Fahrschullehrers (Eddie Marslan), der Poppy mit einer Salve an Kommandos zu einer umsichtigen Fahrerin erziehen will. Und, nachdem er erkennt, keinen Stich bei ihr landen zu können, in den schönsten Wutanfall ausbricht, den dieses Filmjahr aufweisen wird: mit Speichel im Bart, rot anlaufender Nase, spuckend und zischend. Und da ist es vollbracht: Poppy, konfrontiert mit diesem Ausbruch aus Aggression und enttäuschter Liebe, darf nach 30 Jahren endlich weinen. Kurz, versteht sich.

Was denn mit Mike Leigh los sei, wollte eine kolumbianische Journalistin in der Pressekonferenz wissen - er, eine Komödie? Der kontert in der sicheren Gewissheit, das Richtige getan zu haben: das 21. Jahrhundert sei so hart, dass es regelrecht schick werde, niedergeschlagen und pessimistisch zu sein. Und mit der hippen Grabesstimmung macht "Happy-Go-Lucky" wirklich Schluss.

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