Berlinale-Tagebuch Giganten, Monolithen, Mammut-Mist
Berlin - Selten hatten die Helden der Berlinale einen so langen Atem wie in diesem Jahr. Vor allem dann, wenn es gilt, die bösen Buben dieser Welt zur Strecke zu bringen, legen sie eine geradezu übermenschliche Hartnäckigkeit an den Tag. Gleich zur Eröffnung jagte Clive Owen als Interpol-Agent in "The International" einen skrupellosen Banker um die halbe Welt; danach reiste Kerry Fox in "Sturm" als Anklägerin vom Uno-Kriegsverbrechertribunal in Den Haag kreuz und quer durch Europa, um einen früheren serbischen General seiner Gewalttaten im Balkankrieg zu überführen; und schließlich musste Tommy Lee Jones in "In the Electric Mist" sogar eine Reise in die Vergangenheit antreten, um gleich mehrere Mörder zu überführen.
In einer Welt, in der die wackeren, aufrechten Kämpfer Raum und Zeit im Eilschritt durchmessen, möchte man kein Schurke sein.
Von Nebeln, die sich nach und nach lichten, erzählen alle drei Filme; doch der Regisseur Bertrand Tavernier nimmt diese Metapher in seinem Krimi "In the Electric Mist" wörtlich. Gleich zu Beginn des Films lässt er seine Kamera über die nebelverhangenen Sümpfe von Louisiana gleiten, bis sie den Fundort einer Leiche erfasst. Währenddessen ist die Stimme eines Mannes zu hören, die großartigste Erzählerstimme des zeitgenössischen Kinos, von der wir uns durch jeden Nebel und durch jedes Dunkel führen lassen und selbst mitten in die tiefste moralische Finsternis hinein wie zuletzt in dem Oscar-gekrönten Thriller "No Country for Old Men" - es ist die Stimme von Tommy Lee Jones. In Taverniers Film erzählt sie zu Beginn von Steinen auf Gräbern und von Toten, die nicht ruhen.
Wenn man so will, bildet "In the Electric Mist" eine Trilogie mit dem düsteren Gewaltepos "No Country for Old Men" und Jones' Regiearbeit "Die drei Begräbnisse des Melquiades Estrada" (2005), der von einer spirituellen Reise ins Reich der Toten erzählt. Bei Tavernier spielt Tommy Lee Jones einen Dorfpolizisten, der eines Tages menschliche Gebeine aus dem Sumpf zieht. Plötzlich wird ihm klar, dass dies die sterblichen Überreste eines Mannes sind, den er vor über 40 Jahren vor seinen eigenen Augen sterben sah. Nach und nach stellt er fest, dass es zwischen dem damaligen Verbrechen und einer Mordserie, die seinen Bezirk gerade erschüttert, eine Verbindung geben könnte. Und als er eines Nachts mit seinem Wagen von der Straße fast in den Sumpf rast und dem demolierten Auto entsteigt, sieht er plötzlich Männer, die so aussehen wie Soldaten aus dem amerikanischen Bürgerkrieg.
Im Rhythmus der Südstaaten, in der jede Hektik vermieden werden muss, weil sie sofort zu heftigen Schweißausbrüchen führt, erzählen Tavernier und Jones nach dem Roman von James Lee Burke wunderbar altmodisch von unnachgiebiger kriminalistischer Aufklärungsarbeit. Es ist ein Vergnügen, sich als Zuschauer treiben zu lassen in dieser Handlung, in der die Realität und der Bewusstseinsstrom des Helden oft ineinander fließen.
Immer wieder ruht sich die Kamera dabei auf dem verwitterten Gesicht von Tommy Lee Jones aus, einem Monolithen des Kinos, der so aussieht, als wäre er von Wind und Wetter ebenso modelliert worden wie von Alter und Erfahrung. Keine Frage: Dieser Mann wird den Mörder auf jeden Fall fassen, denn er hat die Ewigkeit auf seiner Seite.
Angesichts der Berlinale-Helden, die bei der Verfolgung ihrer Ziele niemals locker lassen, überrascht es kaum, dass der bislang schönste Liebesfilm des Festivals genau aus dem Stoff gemacht ist, aus dem sonst Thriller sind. In "Gigante", dem in Montevideo entstandenen Wettbewerbsbeitrag des argentinischen Regisseurs Adrián Biniez, beobachtet ein Wachmann (Horacio Camandulle) die Angestellten eines Supermarktes. Sie arbeiten fleißig, albern herum oder bestehlen ihren Arbeitergeber. Im Laufe der Zeit zoomt der Wachmann immer häufiger an eine Putzfrau (Leonor Svarcas) heran, lässt sie kaum noch aus dem elektronischen Auge. Er verliebt sich in die junge Frau und fängt an, ihr heimlich zu folgen. Und er braucht einen verdammt langen Atem, bis er sich ihr so nahe fühlt, dass er genug Mut hat, das Wort an sie zu richten: Er schafft es erst in der letzten Einstellung des Films.
Mit vielen pfiffigen Einfällen und bezwingend lakonischem Humor erzählt Biniez von den großen Gefühlen kleiner Leute. Von Festivaldirektor Dieter Kosslick auf den 9-Uhr-Termin gelegt, der für die Presse seit Jahren eher filmische Zumutungen bereithält, wurde "Gigante" von den überraschten Journalisten begeistert beklatscht. Lukas Moodyssons schwedischer Wettbewerbsbeitrag "Mammoth", der prestigeträchtiger um 12 Uhr lief, wurde dagegen nieder gebuht. Das weltumspannende Drama mit Gael García Bernal in der Rolle eines Computerspiele-Tycoons konfrontiert in mehreren Erzählsträngen Erste und Dritte Welt miteinander. Der Film wirkt wie eine europäische Antwort auf "Babel", nur kommt der Turmbau nicht über den Keller hinaus, weil schon an den Fundamenten gepfuscht wurde.
Der französische Kritikerpapst Michel Ciment stöhnte und schnaufte bei der Vorführung so unentwegt, als pfiffe er aus dem allerletzten Loch.
Können Filme töten? Ciment jedenfalls überlebte mit knapper Not.