Berlinale-Tagebuch Pokerface und Schreckens-Antlitz
Was die großen Schauspieler dieser Berlinale betrifft, geht der Trend eindeutig zur Gesichtslähmung. Colin Farrell in Terrence Malicks "The New World", Jürgen Vogel in Matthias Glasners "Der freie Wille" oder Christian Ulmen in Oskar Roehlers "Elementarteilchen" beweisen: Gerade die männlichen Helden der ehrgeizigen Kunstfilme unserer Zeit wetteifern darin, ihren Gesichtern jeglichen Ausdruck auszutreiben. So leer und unbestimmt traurig sind ihre Mienen, so ziellos nach innen gerichtet ist ihr Blick, dass man sich manchmal nach jenen alten Kinozeiten sehnt, in denen noch die Lehren Stanislawskis und des "Actor's Studio"-Begründers Lee Strasberg die gültigen Filmschauspielerweisheiten waren. Damals galt wildes Schreien, Gefuchtel und identifikatorisches Überagieren als chic und oscarwürdig.
Seit ein paar Jahren aber hat sich herumgesprochen, dass die tollsten Schauspieler die sind, die überhaupt nichts tun. Die nicht auf der Unterlippe herumkauen, wenn sie Ergriffenheit signalisieren wollen, nicht wie ein Boxer die Stirn kräuseln, wenn heftiges Nachdenken anzudeuten ist und nicht wüst losflennen, wenn der Schmerz kommt. Der heutige Darstellungskünstler von Weltniveau meditiert einfach still und stumm über sein Leid, als sei er ein Zenmeister der absoluten Seelenwindstille.
Zu besonders schöner Meisterschaft im mimischen Minimalismus bringt es Julio Chávez, der Hauptdarsteller des argentinischen Wettbewerbsfilms "El Custodio" (Der Schatten) von Rodrigo Moreno. In der Rolle eines ehemaligen Gangster und jetzigen Minister-Leibwächters trägt Chávez 90 Filmminuten lang ein absolut gemütsentleertes Allerweltsgesicht spazieren, das so abgebrüht und milde hoffnungslos ist, dass Farrell, Vogel und Ulmen im Vergleich schon fast für dreistes Overacting beschimpft werden müssen.
Coolness hat ein Gesicht
Das grandioseste Pokerface des deutschen Films hat sowieso Bernd Eichinger, der im Restaurant "Borchardt's" am Abend hofhält wie ein eleganter sizilianischer Patriarch. Ein Fingerschnips von Don Eichinger genügt, dass sich eine Schauspielerin an seinen Tisch geladen fühlt; ein schneller ungnädiger Wimpernschlag bringt die gesamte Entourage jäh zum Verstummen, und ein flüchtiges Kopfnicken sorgt ruckzuck für volle Gläser. Und gefügig und glücklich schwirren Hannelore Elsner, Oskar Roehler und all die anderen um den großen Bernd herum.
Im Kino gab's am frühen Morgen dann das nächste in Coolness eingefrorene Heldengesicht zu bestaunen. Im thailändisch-chinesisch-koreanischen Thriller "Invisible Waves" spielt der Schauspieler Asano Tadanobu einen japanischen Gangster, der aus Hongkong nach Phuket flüchtet, weil er seine Geliebte ermordet hat, die leider auch noch die Gattin des Bosses war.
In kalten Bildern zeigt der Regisseur Pen-ek Ratanaruang, wie der mit einer fiesen Pferdeschwanzfrisur gesegnete Held auf einem klapprigen Schiff übers Meer fährt, in seiner Kabine herumgammelt und sich immer wieder übergibt. Der Mord macht ihm schwer zu schaffen. Zum Glück lernt er eine junge Frau mit Baby kennen, was die Sache aber auch nicht einfacher macht: Vater des Babys ist schon wieder der Gangsterboss.
"Invisible Waves" ist ein bleischwer erzählter, allzu ambitionierter Kunstkrimi ohne große Spannung, immerhin aber bietet er ein paar aufregende, traumverlorene Bilder. Einmal zum Beispiel drehen sich in einer zauberhaften Tanzszene Mann, Frau und Kind innig im Kreis.
Ästhetik des Schreckens
Die noble Ausdrucksarmut der Schauspieler und das mühsam originelle Genrekino, das "El Custodio" und "Invisible Waves" betreiben, lässt einen aber insgesamt doch so ratlos im Kinosessel zurück, dass man geradezu dankbar ist, wenn mal ein Regisseur einen Stoff aus der aktuellen Weltgeschichte bearbeitet. Der Brite Michael Winterbottom (und sein diesmal als Co-Regisseur aufgeführter Cutter Mat Whitecross) schildern in "The Road to Guantanamo", wie ein paar junge pakistanischstämmige Briten in das berüchtigte US-amerikanische Internierungslager auf Kuba gerieten.
Winterbottons Film ist halbdokumentarisch. Er lässt die tatsächlich in Guantanamo gefolterten Ex-Häftlinge davon erzählen, wie sie im Herbst 2001 nach Pakistan und dann nach Afghanistan reisten - angeblich um zu helfen und aus Abenteuerlust. Wie sie in den Krieg der US-Streitkräfte und ihrer Alliierten gegen die Taliban taumelten und dann in pakistanischer und bald in amerikanischer Haft landeten. Szene für Szene spielen Winterbottoms Schauspieler die Geschichte nach, dazwischen sieht man Interviewstatements und Nachrichtenbilder von Bombenangriffen und überfüllten Gefängnissen.
"The Road to Guantanamo" ist natürlich schon deshalb ein heißer Anwärter auf den Goldenen Bären, weil der Film einen politische Anklage ist. Gegen die Missachtung der Menschenrechte, die zynische Willkür und letzten Endes auch die monströse Hilflosigkeit der Bush-Regierung und ihrer Unterstützer. Darüber hinaus ist Winterbottoms Film aber auch ein erschütterndes, manchmal fast unerträgliches Kinowerk, das ohne jedes überflüssige Beiwerk eine grausame Geschichte erzählt. Die Darsteller müssen sich hier endlich mal nicht anstrengen, um jeden Preis alle Emotion und allen Schmerz aus ihren Gesichtern zu verbannen - und sie sind trotzdem oder gerade deswegen großartig.