
Endspurt im Wettbewerb: Was wir lieben, was wir hassen
Berlinale-Tagebuch Vereinigte Staaten des Hasses
Würde man ein Worst-of der Berlinale zusammenstellen, käme ein wirklich übler Bilderreigen heraus. Aus den jüngeren Jahren sicherlich dabei: Kate Hudsons Figur aus "The Killer Inside Me" von Michael Winterbottom, die erst zu Brei geschlagen wird und deren Blase sich, wie interessiert von der Kamera festgehalten wird, im Tode entleert. Und die betrunkene Mutter aus Thomas Vinterbergs "Submarino", die sich ebenfalls einnässt und schließlich von dem auslaufenden Urin, der in eine offene Elektroheizung läuft, einen tödlichen Stromschlag erhält.
Was aus Tomasz Wasilewskis Wettbewerbsfilm "Zjednoczone stany milosci" dabei sein könnte, lässt sich dagegen gar nicht so leicht sagen. Eigentlich eignet sich jedes Bild in diesem rundum frauenfeindlichen Film.
Polen, Anfang der Neunzigerjahre, irgendwo in der Provinz. Fanta und Jeans sind mittlerweile leichter zu bekommen, deutsche Touristen machen sich bereits in den günstigen Hotels und Kurbädern breit, auch Pornos gibt es unter der Hand in der Stadtbibliothek. Kein schlechtes, aber auch kein schönes Leben, weshalb man das Streben nach ein bisschen mehr Glück und Wärme der vier Frauen, die wechselweise im Mittelpunkt von Wasilewskis Postwende-Panoptikum stehen, gut verstehen kann.
Doch was der Film für die verheiratete Agata, die in einen Priester verliebt ist, für die Schuldirektorin Iza, die just von ihrem langjährigen Liebhaber verlassen wird, als seine Frau stirbt, für die ältere Russischlehrerin Renata, die ihrer jüngeren Nachbarin Marzena nachstellt, und schließlich für Marzena, die von einer Modelkarriere statt Krankengymnastik für deutsche Rentner träumt, parat hält, nimmt sich wie eine filmische Vergeltungsmaßnahme für die Wünsche und Bedürfnisse dieser Frauen aus.
Niedertracht reicht nicht
Sie werden als kalte Schlampen bezeichnet und ins Gesicht geschlagen, sie werden als hinterhältige Stalkerinnen gezeigt und müssen gefühllosen Sex auf öffentlichen Klos über sich ergehen lassen, sie werden betäubt und vergewaltigt, nur um, als die erste Vergewaltigung vorbei ist, von jemand anderem ebenfalls missbraucht zu werden. In der letzten Einstellung schaut die Kamera aus der Halbdistanz dabei zu, wie sich die nackte, vergewaltigte Marzena erst übergibt und dann jammernd zur Seite fällt.
"United States of Love", Vereinigte Staaten der Liebe, heißt der Film in der Übersetzung, was das Gezeigte im Voraus ironisch zu rahmen versucht. Doch Perfidie ist eine dunkle Kunst, die weit über das Ausstellen von Gewalt und Niedertracht hinausgeht - siehe die Filme von Ulrich Seidl oder Lars von Trier. Deren Boshaftigkeit ist stets von der Wirklichkeit durchdrungen, ihre Bilder lassen einen erschauern, weil wir uns und unsere Triebhaftigkeit in ihnen erkennen.
Wasilewski versucht Ähnliches, indem er seinen Bildern blassestmögliche Farben verleiht. Wie nachträglich koloriert wirken die Aufnahmen aus Plattenbauten und Schwimmbädern. Das soll für den Eindruck von Geschichtshaltigkeit sorgen, doch in den vier verschachtelten Episoden ist die polnische Geschichte noch weniger prononciert als die verwaschenen Farben. Als Metapher für ein Land, das den Frauen ihr Begehren verweigert, taugt "Zjednoczone stany milosci" deshalb nicht. Als merklicher Dämpfer für Erwartungen, dass sich das polnische Kino gerade zu Weltklasse aufschwingt, aber allemal.
Der Schlund der Erde tut sich auf
Wie großartig und wildherzig dagegen der letzte Film des Wettbewerbs, "Ejheda Vared Mishavad!" (A Dragon Arrives!) des iranischen Drehbuchautors, Schauspielers und Regisseurs Mani Haghighi. Mit einem orangefarbenen Chevrolet in der Wüste und einem umwerfend gut aussehenden Kommissar (Amir Jadidi) am Steuer beginnt der furiose Genre-Cut-up.
Es soll der 22. Januar 1965 sein, der iranische Premierminister ist soeben erschossen worden, einer der vielen politischen Gefangenen, die in die tiefsten Weiten Irans verbannt wurden, hat sich in einem verlassenen Schiff aufgehängt. Kaum hat der Kommissar die seltsame Behausung zu untersuchen begonnen, erschüttert ein Erdbeben das Schiff. Oder ist doch die Prophezeiung des Bauern eingetroffen, dass sich der Schlund der Erde öffnet, wenn ein Mensch begraben wird?
Bevor man sich genauer auf das Setting einlassen kann, springt Haghighi in die Gegenwart und lässt vermeintliche Zeitzeugen und Rechercheure sprechen. Die ersten Szenen, so stellt es sich plötzlich dar, waren vielmehr ein Re-Enactment von tatsächlichen historischen Begebenheiten. Doch kann man der Umdeutung des Gesehenen auch trauen? Im Sprung zwischen den Ebenen und den Zeiten setzt sich langsam ein psychedelisches Puzzle der iranischen Vor-Revolutionsperiode zusammen. Paranoia liegt in der Luft, und auch der schöne Kommissar atmet sie tief ein - bis er, wie die Zuschauer auch, von Haghighis strahlend buntem Bilderstrudel in den Abgrund gerissen wird.
Mit "Ejheda Vared Mishavad!" endet ein durchwachsener Wettbewerb auf versöhnlich hohem Niveau. Ob es dafür einen Bären gibt? Die Preisverleihung am Samstagabend wird Aufschluss darüber bringen. Nach neun Ausgaben beenden wir hiermit unser Tagebuch - und lassen uns von unseren Vorlieben bei den Tipps leiten, wer unter den Gewinnerinnen und Gewinnern sein wird:
Unsere Tipps für die Preisverleihung:
Goldener Bär für den besten Film: "Fuocoammare" von Gianfranco Rosi
Silberner Bär/Großer Preis der Jury: "L'Avenir" von Mia Hansen-Love
Silberner Bär Alfred-Bauer-Preis für einen Spielfilm, der neue Perspektiven eröffnet: "Ejheda Vared Mishavad!" von Mani Haghighi
Silberner Bär für die Beste Regie: Lav Diaz für "Hele sa hiwagang hapis"
Silberner Bär für das Beste Drehbuch: Alex Gibney für "Zero Days"
Silberner Bär für die Beste Darstellerin: Julia Jentsch für "24 Wochen"
Silberner Bär für den Besten Darsteller: zu gleichen Teilen an Kacey Mottet Klein und Corentin Fila für "Quand on a 17 ans"
Silberner Bär für eine Herausragende Künstlerische Leistung: Mark Lee Ping-Bing für "Chang Jiang Tu"

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