Cannes-Tagebuch 1 Noch mal mit Gefühl

Pedro Almodóvar schießt gegen Netflix: Mit einem kleinen Eklat setzt der Jurypräsident Akzente, noch bevor das Festival begonnen hat. Für großes Gefühlskino sorgt dann Todd Haynes.
Der Jury-Vorsitzende in Cannes: Pedro Almodóvar

Der Jury-Vorsitzende in Cannes: Pedro Almodóvar

Foto: Ian Langsdon/ EPA/ REX/ Shutterstock

Erst hielt er sich bedeckt, dann zog er blank: Pedro Almodóvar schien die Pressekonferenz, auf der sich die internationale Jury unter seinem Vorsitz vorstellt, die gesamte Zeit mit einer Sonnenbrille auf der Nase bestreiten zu wollen. Doch dann kam die Frage nach Netflix, und der Jurypräsident setzte nicht nur die Sonnenbrille ab, sondern verlas ein vorbereitetes Statement: Das Wichtigste für ihn sei, dass man Filme im Kino sehen könnte, auf einer großen Leinwand, vor der man sich klein und demütig fühle. Die Goldene Palme an einen Film, der nicht im Kino läuft - mit ihm sei das nicht drin.

Noch bevor die 70. Filmfestspiele von Cannes begonnen hatten, hatte Almodóvar damit de facto zwei Filme aus dem Wettbewerb ausgeschlossen: "Okja" von Bong Joon-ho und "The Meyerowitz Stories" von Noah Baumbach - weil sie von Netflix produziert sind.

Schon im Vorfeld war Festivalpräsident Thierry Frémaux unter heftigen Beschuss durch die französischen Verleiher und Presse geraten, da er mit den zwei Filmen Produktionen in den Wettbewerb eingeladen hatte, die in Frankreich nicht ins Kino kommen werden. Netflix will damit die strengen Verwertungsregeln Frankreichs umgehen, die vorschreiben, dass ein Film nach seinem Kinostart erst Jahre später als Stream bereitgestellt werden darf.

2018 werden neue Regeln greifen, nach denen ein Film nur im Wettbewerb laufen kann, wenn er einen französischen Kinostart vorweisen kann. Doch 2017 bleibt Netflix bis auf Weiteres das große Reizwort der Filmfestspiele.

Szene aus "Wonderstruck"

Szene aus "Wonderstruck"

Foto: Festival de Cannes

Das bekam sogar Konkurrent Amazon mit, der eine ganz andere Strategie fährt und jedem seiner Filme einen regulären Kinostart gönnt, zu spüren. Einzelne Buhrufe wurden laut, als im Vorspann von Todd Haynes' neuem Film "Wonderstruck" der Name Amazon Studios auftauchte. Doch echte Empörung wollte unter den versammelten Kritikerinnen und Kritikern nicht aufkommen. Insgeheim ist man wohl froh, dass Amazon einem herausragenden Regisseur wie Todd Haynes das Filmemachen ermöglicht. Letztlich fangen die Streamingplattformen nämlich genau das Kino auf, das Hollywood immer mehr schasst, die Filmfestivals aber weiterhin lieben: Autorenkino mit mittleren Budgets und Zielgruppen jenseits der Pubertät. Will Cannes dieses Kino auch weiter zeigen, werden in der nahen Zukunft noch einmal ganz andere Verhandlungen um Einladungen und Auswertungsfenster anstehen.

Am Donnerstagmorgen im Grand Theatre Lumière, dem großen Premierenkino von Cannes, rücken diese Debatten aber schnell in den Hintergrund: Mit "Wonderstruck" steht der erste als Favorit gehandelte Film an. Vor zwei Jahren hatte Haynes mit dem Liebesdrama "Carol" das Festival verzückt, nun zeigt er seine Adaption von Brian Selznick gleichnamigen Kinderbuch. Zwei taube Kinder in verschiedenen Zeitaltern, das Mädchen Rose im Jahr 1927, der Junge Ben im Jahr 1977, reißen von zu Hause aus, um in New York Unterschlupf zu finden: Rose bei ihrem Bruder Walter, der im Gegensatz zu ihrem strengen Vater ganz selbstverständlich mit ihrem Handicap umgeht; Ben bei seinem unbekannten Vater, dem ihm seine jüngst verstorbene Mutter sein Leben lang vorenthalten hat.

Haynes ist für seine artifiziellen period pieces bekannt, in denen er Filmästhetiken vergangener Zeiten aufgreift und virtuos mit seinen Geschichten verflechtet. Mit dem Technicolor-Bombast von "Dem Himmel so fern", der das Melodram um eine weiße Hausfrau, die sich in ihren schwarzen Gärtner verliebt, perfekt verstärkt, hatte er 2002 bereits seine Meisterschaft unter Beweis gestellt. In "Wonderstruck" treibt er nun buchstäblich doppeltes Spiel mit dem Kino und dessen Selbstbildern: Roses Geschichte ist in Schwarz-Weiß gehalten, Bewegungen, Schnitte und Musik imitieren die Swing-seelige Ruckeligkeit der Stummfilmära. Wenn sie mit glänzenden Augen durch Manhattan läuft und über die vielbefahrenen Straßen staunt, könnte sich über ihrem Kopf gerade Harold Lloyd verzweifelt an einem Uhrzeiger festhalten.

Ben taucht dagegen in ein New York der sonnensatten Farben ein. Funk-Musik erklingt, wenn er und die Kamera (geführt von Ed Lachman) sich durch vermüllte Bahnhöfe vorbei an Männern mit Afro und Frauen in knappen Einteilern schlängeln. Hier könnte ihm Foxy Brown einen Dollar leihen, damit er sich einen Hotdog kaufen kann.

Die längste Zeit sind die Geschichten von Rose und Ben nicht nur ästhetisch streng getrennt. Bis kurz vor Schluss ist nicht klar, ob sich ihre Leben je überschnitten haben. Die Auflösung inszeniert Haynes dann in einem der schönsten Mise-en-Scène, die man sich denken könnte: inmitten eines atemberaubend detaillierten Miniaturmodells von New York, das im Kunstmuseum von Queens steht. Die Metropole als Wahlheimat, das Museum als Zufluchtsort - auch wenn der Plot von "Wonderstruck" wie für ein Kinderbuch angemessen von der Suche nach familiärer Geborgenheit vorangetrieben ist, spenden die künstlichen Environments hier mindestens genauso viel Trost wie eine feste Umarmung. So entkoppelt Haynes den Film von Sentimentalität und erschließt ihn auch Erwachsenen: Vorstellungskraft verändert Leben, man sollte sie nie leichtfertig abtun.

Szene aus "Loveless"

Szene aus "Loveless"

Foto: Festival de Cannes

Zu den Privilegien von Cannes gehört es, dass das Festival so aus den Vollen schöpfen kann, dass es eine eigene Sichtungsdramaturgie entwickeln und Filme mit maximaler Reibung programmieren kann. Krasser als "Wonderstruck" und "Loveless" von Andrej Zvjagintsev könnten Filme nämlich kaum kontrastieren. Wer schon Zvjagintsevs Vorgängerfilm "Leviathan" über den aussichtslosen Kampf eines Einzelnen gegen die Übermächtige Allianz aus Kirche und Staat im zeitgenössischen Russland niederschmetternd fand, wird ihn nach "Loveless" als die Komödie in Zvjagintsevs Oeuvre neu einordnen. So unnachgiebig und verbittert wie in "Loveless" hat in jüngster Zeit kaum jemand über die moralisch-emotionale Verwahrlosung seines Heimatlandes erzählt.

Noch leben die Eltern des 10-jährigen Aljoscha gemeinsam in ihrer Moskauer Hochhauswohnung, doch Mutter Genia (Maryana Spivak) hat bereits einen älteren, reicheren Mann kennengelernt, und Vater Boris (Alexej Rozin) erwartet mit seiner jüngeren Geliebten sogar ein Kind. Das Einzige, was Boris von der Scheidung abhält, ist, dass sein Arbeitgeber streng christlich ist und auf Betriebsfeiern sogar Freunde als Ehepartner vorgestellt werden, damit die Fassade aufrechterhalten kann. In jedem Szenario, das Genia und Boris für sich ausmalen, spielt nur eines keine Rolle: ihr Sohn. Als der mitbekommt, dass seine Eltern überlegen, ihn in ein Heim zu geben, reißt er aus. Erst bemerken es Mutter und Vater noch nicht einmal, sie haben beide die Nacht bei ihren neuen Partnern verbracht. Dann setzt die Suche ein, erst zögerlich, dann energisch, schließlich verzweifelt.

Man wünschte sich, dass "Loveless" nur die Gesellschaftsdiagnose wäre, die Zvjagintsev dem heutigen Russland ausstellt. Aber in gewisser Weise trifft es auch auf den Filmemacher zu, der das vermisste Kind nur einsetzt, um den Gefühlsbankrott seiner Figuren ein ums andere Mal zu illustrieren. Lieblosigkeit erscheint hier als Erbkrankheit, die von Generation zu Generation weitergegeben wird - befördert durch die Kirche, die auf ihre Katechismen pocht, und hingenommen vom Staat, der sich keiner Fürsorgepflicht bewusst ist.

Nuancenlos grimmig inszeniert Zvjagintsev hier. Als Boris sein jüngstes Kind zum Ende des Films überaus unsanft in seinem Laufstall absetzt, wird im Kino sogar vereinzelt gelacht, derart unnötig erscheint die Ruppigkeit vom Vater und indirekt auch vom Regisseur.

So endet der erste Wettbewerbstag mit einer emotionalen Achterbahnfahrt für die Kritikerinnen, die von Haynes verzaubert und von Zvjagintsev ernüchtert wurden, und für Festivalleiter Frémaux, der zurzeit einige ernsthafte Gespräche mit seinem Jurypräsidenten führen dürfte.

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