Mit umstrittenem Fassbinder-Film Oskar Roehler in der Cannes-2020-Auswahl

Oliver Masucci als Rainer Werner Fassbinder in "Enfant terrible" von Oskar Roehler
Foto: WeltkinoDas Filmfestival von Cannes hat am Mittwochabend die 56 Filme vorgestellt, die mit dem Label "Cannes 2020" versehen in Kinos und auf anderen Festivals gezeigt werden können. Dazu gehören neue Arbeiten von etablierten Regisseuren wie Wes Anderson, François Ozon und Naomi Kawase sowie Animationsfilme von Pixar-Mastermind Pete Docter und Gorô Miyazaki vom legendären japanischen Studio Ghibli. Mit 16 Debütfilmen, darunter das Regiedebüt von Schauspieler Viggo Mortensen, sind aber auch bemerkenswert viele Neulinge dabei. Eine Unterscheidung in Wettbewerb, Nebenreihen und Sonderprogrammierungen wurde diesmal nicht getroffen.
Das Label "Cannes 2020" ist das einzige, was vom wichtigsten Filmfestival der Welt in diesem Jahr übrig bleibt: Wegen der Corona-Pandemie wurde der reguläre Betrieb abgesagt, eine Verlagerung ins Netz lehnte der künstlerische Leiter Thierry Frémaux von vornherein ab. Mit der Liste wolle man bekannt geben, welche Filme das Festival gesehen und gemocht hat, um so deren Veröffentlichung in Kinos und bei Festivals zu erleichtern, erklärte Frémaux im Vorfeld.

Cannes historisch
Vor diesem Hintergrund ist auch die Dominanz des französischen Kinos mit insgesamt 21 Filmen zu erklären: Die Auszeichnung so vieler Filme mit dem Label "Cannes 2020" kann vor allem als Starthilfe für nationale Produktionen bei der Wiedereröffnung der französischen Kinos verstanden werden.
Die Einladung von Wes Andersons Episodenfilm "The French Dispatch" mit Stars wie Timothée Chalamet, Bill Murray und Tilda Swinton war vorhersehbar; der ursprünglich anberaumte Starttermin war auf eine Cannes-Premiere ausgerichtet worden. In Deutschland soll der Film am 15. Oktober starten. Wo er vorher seine Uraufführung haben wird, ist aufgrund der unsicheren Lage für Filmfestivals weltweit weiterhin unklar.
Für eine Überraschung sorgte derweil die Aufnahme von Oskar Roehlers "Enfant terrible" in die Cannes-Auswahl. Die Berlinale hatte kein Interesse am Filmporträt über Regielegende Rainer Werner Fassbinder gezeigt. Da der Film ursprünglich zum 75. Geburtstag von Fassbinder Ende Mai in die deutschen Kinos kommen sollte, war er bereits in ersten Pressevorführungen zu sehen, bei denen die Reaktionen zwiespältig ausfielen. Nun soll "Enfant terrible" am 1. Oktober in Deutschland starten.
Wer fehlt, wer wartet?
Oscar-Gewinner Steve McQueen ("12 Years a Slave") ist mit zwei Fernsehfilmen vertreten: Aus seiner sechsteiligen Anthologieserie "Small Axe" wurden "Mangrove" und "Lovers Rock" ausgewählt. Die Filme sollen sich um die Westindische Community im London der Siebziger- und Achtzigerjahre drehen. "Small Axe" wurde von der BBC produziert, für die USA hat Amazon Prime bereits die Rechte erworben. Ausstrahlungstermine stehen noch nicht fest.
Die Auswahl ist nicht mit dem Programm, das unter normalen Umständen im Mai an der Croisette gezeigt worden wäre, zu verwechseln. Etliche profilierte Filmemacher haben den Start ihrer fertigen Filme um ein Jahr verschoben, um sich die Chance auf eine 2021-Premiere in Cannes zu wahren. Dazu gehören nach Branchenberichten Paul Verhoeven, Bruno Dumont, Mia Hansen-Love sowie Berlinale-Gewinner Nadav Lapid.
Andere Regisseure wie Goldene-Palme-Gewinner Nanni Moretti ("Das Zimmer meines Sohnes") haben womöglich auf das Label verzichtet, um stattdessen als Weltpremieren in Venedig laufen zu können. Das Filmfestival auf dem Lido hat bislang keine Änderungen an seinem Ablauf verkündet. Entgegen erster Ankündigungen wird Venedig auch nicht mit Cannes kooperieren und Filme aus der Auswahl zeigen.
Mit der Einladung vieler Debütfilme, der nachdrücklichen Berücksichtigung von Animationsfilmen sowie einem erhöhten Anteil von Regisseurinnen (insgesamt wurden 16 Filme von Frauen ausgewählt) weist "Cannes 2020" insgesamt einige interessante Neuerungen auf. Diese Besonderheiten sind jedoch nur bedingt aussagekräftig, da sich Cannes ohne die Vorführung der ausgewählten Filme deren kritischer Diskussion entziehen kann. Was die allgemeine Ausrichtung des Festivals betrifft, ob es weiter Fortschritte bei der Gleichberechtigung von Frauen und im Nachwuchsbereich macht, ist deshalb offen. "Cannes 2020" macht daher mindestens genauso neugierig auf dieses Kinojahr wie auf Cannes 2021.